Der vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a SGB VI verfolgte Zweck gebietet es, nur solche Zeiten als Krankheitszeiten im Sinne der Norm zu erfassen, in denen es dem Versicherten nicht möglich war, eine Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist eine Anrechnungszeit wegen Krankheit streitig.
Der 1973 geborene Kläger wurde nach Beendigung der Schule mit Wirkung zum 4. Oktober 1990 in ein Beamtenverhältnis auf Widerruf als Polizeihauptwachtmeisteranwärter berufen. In diesem Zusammenhang war er als Beamter privat krankenversichert. Im September 1991 erkrankte der Kläger an einem hochmalignen B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom. Von September 1991 bis März 1992 erfolgte eine zytostatische Chemotherapie zunächst mit dem Erfolg einer Vollremission im März 1992. Im September 1992 kam es zu einem ausgedehnten Rezidiv und das Beamtenverhältnis des Klägers wurde mit Wirkung zum 31. Dezember 1992 wegen mangelnder gesundheitlicher Eignung widerrufen. Im Oktober 1992 erfolgte eine erneute Chemotherapie sowie nachfolgend Strahlentherapie bis April 1993. Bei Verdacht auf Progress im Juni 1993 erfolgte eine erneute Therapie nach dem ASHAP-Protokoll ohne Veränderung der Befunde unter Therapie. Seit Juli 1993 ist kein Hinweis auf eine Progression der Erkrankung dokumentiert. In der Zeit vom 1. Januar 1993 bis 30. September 1996 war der Kläger bei der D__ privat krankenversichert. In der hier streitigen Zeit vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 war der Kläger weder arbeitslos gemeldet noch arbeitete er. Es wurden keine Beiträge zur Rentenversicherung für ihn gezahlt.
Auf einen Kontenklärungsantrag des Klägers vom 23. Januar 2019 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Januar 2019 die rentenrechtlichen Zeiten bis zum 31. Dezember 2012 verbindlich fest. Mit seinem Widerspruch rügte der Kläger unter Einreichung weiterer Unterlagen, dass im Versicherungsverlauf eine ungeklärte Zeit vom 1. Januar 1993 bis zum 31. Oktober 1996 enthalten sei. In dieser Zeit sei er arbeitsunfähig erkrankt gewesen und habe eine private Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen. Der Zeitraum sei daher als Anrechnungszeit anzuerkennen. Mit Änderungsbescheid vom 15. August 2019 half die Beklagte dem Widerspruch des Klägers teilweise ab und erkannte auch den Zeitraum 1. Januar 1993 bis zum 31. Dezember 1993 als Anrechnungszeit nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr. 1a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) an. Zur Begründung führte sie aus, dass nach der vorliegenden Datenlage zumindest für den Zeitraum 1. Januar 1993 bis zum 31. Juli 1993 Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Therapiemaßnahmen unterstellt werden könne. Bei eingreifender Therapie mit nachwirkender körperlicher und sicherlich auch psychischer Beeinträchtigung könne nach medizinischer Erfahrung auch noch von Arbeitsunfähigkeit bis zum Jahresende 1993 ausgegangen werden. Darüber hinaus sei die Einschätzung schwierig bis unmöglich, da entsprechende Daten und Befunde fehlten. Es sei zumindest zu keinerlei Erkrankungsrückfall mehr nach Juli 1993 kommen, so dass Arbeitsunfähigkeit durchgehend bis Oktober 1996 anhand der vorliegenden Datenlage nicht begründbar sei. Dementsprechend wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2020 im Übrigen für den Zeitraum vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 zurück. Für die Zeit ab Anfang 1994 lägen keine Nachweise vor. Die Beweislast liege beim Kläger.
Der Kläger hat am 19. Februar 2020 unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens Klage beim Sozialgericht Kiel erhoben. Er sei auch nach Dezember 1993 und bis Oktober 1996 arbeitsunfähig gewesen. Dies sei anhand der der Beklagten vorliegenden Unterlagen eindeutig dokumentiert.
Im erstinstanzlichen Verfahren hat der Kläger sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 29.01.19 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 15.08.19 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.20 zu verpflichten, den Zeitraum 1. Januar 1994 - 31. Oktober 1996 als Anrechnungszeit wegen Arbeitsunfähigkeit anzuerkennen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat über die das Leistungsvermögen des Klägers im Zeitraum Januar 1994 bis Oktober 1996 einschränkenden Krankheiten und die weitere Frage, ob der Kläger angesichts dieser Leistungseinschränkungen einer Erwerbstätigkeit a. als Polizeihauptwachtmeisteranwärter und b. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen, Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie und Gastroenterologie B__. Dieser kam in seinem Gutachten vom 18. Mai 2022 zu folgendem Ergebnis:
„Bei dem Kläger kam es kurz nach Eintreten der Volljährigkeit zu einer hochmalignen B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom-Erkrankung im September 1991 mit - nach zunächst Remission - ausgedehntem mediastinalen und rechts zervikalen Rezidiv ein Jahr später im September 1992. Obwohl dieses Rezidiv zunächst therapierefraktär erschien und multiplen Chemotherapien und lokalen Bestrahlungen refraktär zu sein schien, kam es seit Juli 1993 wider Erwarten nicht zu einem Wiederaufflammen der Erkrankung mit anhaltender Remission bei persistierender Komplikation in Form einer partiellen Thrombosierung der oberen Hohlvene sowie intermittierender Infektkomplikation (zumindest eine fieberhafte Bronchitis ist 1995 aktenkundig dokumentiert). Aufgrund dieser, zumindest seit Februar 1996 aktenkundigen Teilthrombosierung der oberen Hohlvene sowie der infolge einer intensiven Poly-Chemotherapie bei Ersterkrankung und Rezidiv mit hinreichend wahrscheinlichen Infektanfälligkeit langfristiger Art, ist aus gutachtlicher Sicht der Versicherte auch über den 31. Dezember 1993 hinaus arbeitsunfähig in seinem Beruf als Polizeibeamter gewesen. Schwere Hebeleistungen über 10 kg und ein regelmäßiger Kontakt zu Menschen im Rahmen des Polizeidienstes waren ihm nicht möglich. Auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt waren ihm aufgrund dieser Teilthrombosierung der oberen Hohlvene und der zu erwartenden Infektanfälligkeiten nach wiederholter Poly-Chemotherapie die meisten Arbeitsplätze verschlossen, so dass eine Arbeitsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt insofern auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus gutachtlicher Sicht bestand.“
Nach Anhörung hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. Januar 2023 zurückgewiesen. Dem Kläger stehe kein weitergehender Anspruch auf Anerkennung auch des Zeitraums vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 als Anrechnungszeit zur Seite. Als Anspruchsgrundlage komme lediglich § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB VI in Betracht, da § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI hier wegen § 252 Abs. 3 SGB VI keine Anwendung finde. Vorliegend stehe indes nicht im Sinne des Vollbeweises (d.h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit) fest, dass der Kläger in dem hier streitigen Zeitraum arbeitsunfähig und damit krank i.S.d. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB VI gewesen sei. Nach Auswertung sämtlicher vorliegender Unterlagen sei zu konstatieren, dass für den hier streitigen Zeitraum Dokumentationen über den Allgemeinzustand und die körperliche oder seelische Beeinträchtigung des Klägers nicht vorlägen und eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers damit nicht nachgewiesen sei. Auch der Sachverständige B__ habe keine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit für eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers im streitigen Zeitraum angenommen. Die von ihm vorgenommenen Vermutungen genügten den Anforderungen an den Vollbeweis nicht. Auch das lange Zurückliegen des streitigen Zeitraums bedinge keinen niedrigeren Beweismaßstab.
Gegen den ihm am 31. Januar 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 17. Februar 2023 Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe die Anforderungen an den Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit des Klägers überdehnt und die Ausführungen des Sachverständigen fehlinterpretiert. Auch habe es nicht erschöpfend ermittelt. Die seinerzeit behandelnden Ärzte und auch der Kläger selbst hätten vernommen werden können, um den gesundheitlichen Zustand des Klägers und eine ggf. bestehende Arbeitsunfähigkeit feststellen zu können. Zudem sei ausreichend und genügend für § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB VI jede Erkrankung, aufgrund derer der Betroffene daran gehindert war, Beschäftigungen oder Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit sei nicht notwendig. Das Gericht überziehe die Anforderungen an die Beweislage, wenn es das Gutachten und die dort angegebenen Wahrscheinlichkeiten nicht für ausreichend erachte. Der Gutachter habe in seiner Beantwortung der Beweisfragen ausgeführt, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum Leistungseinschränkungen zu verzeichnen gehabt habe und dass diese Erkrankungen zu einer Leistungseinschränkung geführt hätten.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 30. Januar 2023 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 29. Januar 2019 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 15. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2020 zu verurteilen, den Zeitraum vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 als Anrechnungszeit anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt unter Verweis auf die angefochtenen Bescheide und das Urteil der ersten Instanz,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Berufungsverfahren hat der Klägerbevollmächtigte eine Behandlungskartei des den Kläger damals behandelnden D__ bzw. dessen Praxis eingereicht, zu welcher die Beklagte ausführlich Stellung genommen hat.
Der Senat hat zudem nochmals ein Sachverständigengutachten von B__ eingeholt zu der Frage, von wann bis wann der Kläger unter Hinzuziehung aller vorliegenden Unterlagen, insbesondere (aber nicht nur) des Behandlungskarteiauszugs der Nachfolgepraxis des den Kläger damals behandelnden Arztes D__, im Zeitraum vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeweils für einen Zeitraum von mindestens einem zusammenhängenden Monat krank war. Dabei sollte der Sachverständige insbesondere beachten, dass Krankheiten im Sinne der Beweisfrage auch solche Erkrankungen umfassten, die keine zwingende Relevanz für das berufliche Leistungsvermögen hätten (Husten, Schnupfen etc.), also letztlich nicht zu Arbeitsunfähigkeit hinsichtlich eines ausgeübten Berufs oder des allgemeinen Arbeitsmarkts führten, wichtig sei aber die Mindestdauer von einem Monat. Weiter sei zu beachten, dass Beweismaßstab „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ sei. Hinreichende oder überwiegende Wahrscheinlichkeit reiche nicht aus.
In seinem Sachverständigengutachten vom 13. Januar 2025 kam B__ zu dem Ergebnis, dass im abgefragten Zeitraum zu keinem Zeitpunkt eine Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeweils für einen Zeitraum von mindestens einem zusammenhängenden Monat gutachtlich festgestellt werden könne. Es seien sinubronchiale Erkrankungen, teilweise symptomatisch, teilweise antiinfektiv behandelt, festgehalten, die aber regelhaft keine Krankheit für einen zusammenhängenden Monat bedingten. Unter dem 20. September 1995 sei ein BWS-Syndrom rechts mit intramuskulärer Injektionstherapie festgehalten, ohne dass eine Dauerbehandlung, die entsprechend eine Krankheitsdefinition von zusammenhängend einem Monat begründen, erkennbar sei. Unverständlich sei der Eintrag (Anm: in der Patientenkartei) vom 8. Februar 1996, wonach Chemotherapie vorgesehen sei, da in diesem Zeitraum aufgrund der dokumentierten Progressionsfreiheit im Anschluss an die ASHAP-Therapie im Juli 1993 keine Chemotherapie-Indikation bestanden habe. Dementsprechende Mitbehandlungen im Universitätsklinikum Kiel hätten zu diesem Zeitpunkt keine Lymphom-Aktivität ergeben, die eine entsprechende Chemotherapie gerechtfertigt hätten. Der Eintrag in der Patientenkarteikarte von D__ könne insofern gutachtlich nicht weiter als Befund nach der oben genannten Definition eingeordnet werden. Die Bewertung der übrigen aktenkundigen Unterlagen, insbesondere der Nachsorgeberichte und Rechnungen seien im Vorgutachten erfolgt und ergäben im genannten Zeitraum keine Krankheit von mindestens einem zusammenhängenden Monat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Mit Schreiben vom 11. Februar 2025 hat der Senat den Kläger um Mitteilung gebeten, auf welche konkreten Krankheiten (welche Diagnosen) für welche konkreten Zeiträume sich dieser noch berufen und auf welche konkreten Beweismittel er dies zu stützen beabsichtige. Daraufhin hat der Kläger mitgeteilt, dass hier seines Erachtens der Begriff „Krankheit“ genauer betrachtet werden müsse als üblich. Er sei seinerzeit aufgrund der Krebserkrankung aus dem Polizeidienst entlassen worden, und zwar mangels Dienstfähigkeit. Im streitigen Zeitraum habe mit der Krebserkrankung ein regelwidriger, vom Normalzustand abweichender körperlicher Zustand, und damit eine länger als einen Monat andauernde Krankheit bestanden. Zu keinem Zeitpunkt im streitigen Zeitraum sei medizinisch ein Zustand gegeben gewesen, der als „geheilt“ oder gesund bezeichnet hätte werden können. Der Kläger dürfe dabei in der gesamten hier streitgegenständlichen Zeit gesundheitlich aufgrund der Krebserkrankung in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt gewesen sein. Dies könne der den Kläger behandelnde Arzt M__ bezeugen. Da es für die hier streitige Anwartschaftszeit nicht erforderlich sei, dass auch gleichzeitig Arbeitsunfähigkeit vorliege, hätten die Voraussetzungen für eine solche (Anwartschaftszeit) somit vorgelegen.
Wegen der Einzelheiten wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft (§ 143 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 151 Abs. 1 SGG).
Gegenstand des Streits ist neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 30. Januar 2023 der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2019 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 15. August 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2020 und in der Sache das zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage verfolgte Begehren des Klägers, dass der Zeitraum vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 als Anrechnungszeit anerkannt wird.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht kein weitergehender Anspruch auf Anerkennung auch des Zeitraums 1. Januar 1994 – 31. Oktober 1996 als Anrechnungszeit zu.
Als Anspruchsgrundlage kommen nur § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 oder Nr. 1a SGB VI in Betracht. Nach Nr. 1 sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte wegen Krankheit arbeitsunfähig gewesen sind oder Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten haben. Nach Nr. 1a. sind Anrechnungszeiten Zeiten nach dem vollendeten 17. und vor dem vollendeten 25. Lebensjahr, in denen Versicherte mindestens einen Kalendermonat krank gewesen sind, soweit die Zeiten nicht mit anderen rentenrechtlichen Zeiten belegt sind.
§ 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI scheidet schon aufgrund der Norm des § 252 Abs. 3 SGB VI aus. Nach § 252 Abs. 3 SGB VI liegen Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit oder Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben in der Zeit vom 1. Januar 1984 bis zum 31. Dezember 1997 bei Versicherten, die – wie der Kläger – 1. nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren oder 2. in der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Anspruch auf Krankengeld versichert waren, nur vor, wenn für diese Zeiten, längstens jedoch für 18 Kalendermonate, Beiträge nach mindestens 70 vom Hundert, für die Zeit vom 1. Januar 1995 an 80 vom Hundert des zuletzt für einen vollen Kalendermonat versicherten Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens gezahlt worden sind. Im streitigen Zeitraum, der in die in § 252 Abs. 3 SGB VI genannte Zeit vom 01. Januar 1984 bis zum 31. Dezember 1997 fällt, wurden keine Beiträge für den Kläger gezahlt.
Auch die Voraussetzungen für eine Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a SGB VI liegen nicht vor.
Die Regelung ist zeitlich anwendbar. Sie ist zwar erst zum 1. Januar 2002 in Kraft getreten, jedoch auch auf Zeiten einer bereits davor vorgelegenen Krankheit anzuwenden. Entscheidend für die zeitliche Berücksichtigungsfähigkeit der in Rede stehenden Anrechnungszeit ist nach § 306 Abs. 1 SGB VI nur, dass der Versicherte – wie der Kläger – nicht bereits vor der Rechtsänderung einen Anspruch auf Rente hatte.
Allerdings liegen die materiellen Voraussetzungen von § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a – Krankheitszeiten von mindestens einem Monat Dauer zwischen dem 17. und dem 25. Lebensjahr –zur Überzeugung des Senats nicht vor. Der Senat stellt fest, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht für die Dauer von jeweils mindestens einem Kalendermonat krank im Sinne dieser Vorschrift war.
Der Begriff der Krankheit in § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a SGB VI ist grundsätzlich wie bei der Anwendung von Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zu definieren. Krankheit ist danach ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSGE 13, 134 = SozR Nr. 1 zu KBG Allg; BSGE 16, 177 = SozR Nr. 5 zu § 183 RVO). Es genügt, wenn zu dem normwidrigen Körper- oder Geisteszustand alternativ das Bedürfnis nach ärztlicher Behandlung oder aber Arbeitsunfähigkeit hinzutritt. Daher liegt eine Krankheit auch dann vor, wenn der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand allein Arbeitsunfähigkeit als einen Zustand, der bei nicht mehr bestehender Behandlungsbedürftigkeit trotzdem noch „Krankheit“ darstellt, zur Folge hat (vgl. BSGE 26, 288; BSGE 33, 202 ). Zu den Krankheiten zählen organische, seelische und geistige Abweichungen vom Normzustand (BSGE 21, 189; BSGE 31, 279) einschließlich der Suchterkrankungen (etwa Alkohol- oder Drogenabhängigkeit; vgl. BSGE 28, 114; BSG SozR 3-2200 § 1237 Nr. 2; Wolfgang Fichte in: Hauck/Noftz SGB VI, 2. Ergänzungslieferung 2025, § 58 SGB 6, Rn. 21).
Der vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a SGB VI verfolgte Zweck gebietet es, nur solche Zeiten als Krankheitszeiten im Sinne der Norm zu erfassen, in denen es dem Versicherten nicht möglich war, eine Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang und der Gesetzesbegründung. In letzterer heißt es (auszugsweise, vgl. BT-Drucks. 14/4595 S. 46):
„… In diesem Zusammenhang kann bei Zeiten der Krankheit allerdings nicht auf eine ‚krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit‘ abgestellt werden, da diese vor Eintritt in das Erwerbsleben nicht möglich ist. Deshalb wird eine zusätzliche Anrechnungszeit wegen Krankheit eingeführt, in der es dem Versicherten aufgrund von Krankheit nicht möglich war, eine Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben und rentenrechtliche Zeiten gleich welcher Art zu erwerben.“
Damit muss zwar keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit wie in den Fällen des Abs. 1 S. 1 Nr. 1 vorgelegen haben, da dies vor dem Eintritt in das Erwerbsleben nicht möglich ist (BT-Drs. a.a.O.). Es genügt jedoch für eine Anrechnungszeit nach Abs. 1 S. 1 Nr. 1a nicht jeder Krankheitszustand, sondern nur ein solcher, der den Versicherten an einer Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gehindert hat. Der allgemeine Arbeitsmarkt ist der Bereich aller Beschäftigungen und Tätigkeiten, die keinerlei besondere Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit und die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten stellen. Da es um den Ausgleich einer krankheitsbedingten Verhinderung am Erwerb von rentenrechtlichen Zeiten durch eine Berufstätigkeit geht, darf der Versicherte in zeitlicher Hinsicht wegen der Erkrankung nicht zu einer Arbeitsleistung in der Lage gewesen sein (so auch: BeckOGK/Gürtner, 1. September 2020, SGB VI § 58 Rn. 10, beck-online).
Der in der Literatur vertretenen Auffassung, dass es für eine Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a SGB VI auf die individuellen Auswirkungen der Krankheit auf das berufliche Leistungsvermögen nicht ankomme, und der Ausschluss von bloßen Bagatellerkrankungen über das zusätzliche Tatbestandsmerkmal einer Mindestdauer der Erkrankung von einem Kalendermonat erfolge (Wolfgang Fichte in: Hauck/Noftz SGB VI, 3. Ergänzungslieferung 2024, § 58 SGB 6, Rn. 33), folgt der Senat nicht. Angesichts der aus seiner Sicht nicht übersehbaren, großen Vielzahl möglicher Zustände, die aus rein medizinischer Sicht von einem „vollständig gesunden“ bzw. „Normal“-Zustand abweichen, und zudem häufig auch dauerhaft, also länger als einen vollen Monat Behandlung erfordern, wie etwa Allergien oder chronische Haut- oder Gelenkkrankheiten, gebietet der Gesetzeszweck die oben beschriebene systematische Einschränkung, dass die Krankheit auch an einer Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gehindert haben muss.
Das Vorliegen eines solchen Krankheitszustandes, der den Kläger im streitigen Zeitraum für mindestens einen Monat an einer Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gehindert hat, konnte der Senat nicht feststellen.
Für den Nachweis einer Anrechnungszeit gelten die allgemeinen Beweisgrundsätze, eine eigene Möglichkeit zur Glaubhaftmachung nach § 23 Abs. 1 S. 2 SGB X ist nicht vorgesehen. Beweismaßstab ist damit wie sonst im sozialgerichtlichen Verfahren der Vollbeweis. Das Gericht muss sich hierfür die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftmachung reichen nicht aus. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen, wenn also ein der Gewissheit nahekommender Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht ist. Eine Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache in der Weise, dass jede andere Möglichkeit in logischer oder naturwissenschaftlicher Hinsicht ausgeschlossen ist, ist nicht zu verlangen, weil das menschliche Erkenntnisvermögen begrenzt ist.
Nach diesen Maßstäben ist im Ergebnis nicht davon auszugehen, dass der Kläger im streitigen Zeitraum vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Oktober 1996 über eine Mindestdauer von einem Monat hinweg im oben dargelegten Sinne krank war. Der Senat trifft diese Feststellungen auf der Grundlage der zutreffenden Ausführungen der Beklagten und den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen B__.
Auf der Grundlage der hausärztlichen Behandlungskartei stellt der Senat fest, dass der Kläger zwischen dem 12. Januar und 29. April 1994 an stark gehäuften fieberhaften Infekten gelitten hat. In dieser Zeit benötigte er drei Mal ein Antibiotikum. Am 29. April 1994 erhielt er zusätzlich Immunglobuline zur Unterstützung des Immunsystems. Danach erscheint es durchaus möglich, dass der Kläger in dieser Zeitspanne nicht in der Lage war, einer regelmäßigen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergibt sich dies aus den Unterlagen jedoch nicht. Danach ist erst wieder am 2. Februar 1995 ein Infekt mit Verordnung eines Antibiotikums aus der Kartei ersichtlich. Für den 7. Februar 1996 wurde dokumentiert, dass der Behandler ein Attest ausgestellt hat, wonach keine Einwände gegen eine Ausbildung als Krankengymnast bestehen.
Hinsichtlich des Eintrags vom 8. Februar 1996, wonach Chemotherapie vorgesehen sei, folgt der Senat den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen B__, wonach dieser Eintrag unverständlich sei, da in diesem Zeitraum aufgrund der dokumentierten Progressionsfreiheit im Anschluss an die ASHAP-Therapie im Juli 1993 keine Chemotherapie-Indikation bestand, und der Eintrag in der Patientenkarteikarte insofern gutachtlich nicht weiter als Befund eingeordnet werden kann.
In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen B__ in seinem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten stellt der Senat fest, dass im streitigen Zeitraum keine länger als einen Monat dauernde Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegt. Der Senat übernimmt die im Berufungsverfahren gemachten Ausführungen des Sachverständigen B__, da diese überzeugen. Sie sind schlüssig, in sich widerspruchsfrei und berücksichtigen alle zur Verfügung stehenden Beweismittel.
Weitere Beweismittel stehen dem Senat nicht zur Verfügung. Insbesondere die Vernehmung der damaligen Behandler, etwa des M__ als Zeugen zu den (ca. 30 Jahre zurückliegende) Auswirkungen der Krebserkrankung auf die damalige Erwerbsfähigkeit des Klägers, wäre eine – nicht angezeigte – Ausforschung des Sachverhaltes ins Blaue hinein gewesen. Verwertbare Erkenntnisse, die einzelnen Monaten zugeordnet werden können, wären nicht zu erzielen.
Allein aus dem – auch zur Überzeugung des Senats feststehenden – Umstand, dass die Krebserkrankung des Klägers nicht „vollständig geheilt“ war, da die bis Juli 1993 erfolgte Therapie nicht zu einer vollständigen Remission geführt hatte, und der Kläger aus rein medizinischer Sicht im streitgegenständlichen Zeitraum nicht „vollständig gesund“ war, ist eine Krankheit im Sinne des § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a SGB VI nach den oben dargelegten Maßstäben nicht abzuleiten. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger aufgrund der Krebserkrankung für mindestens einen Monat an einer Beschäftigung oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gehindert gewesen wäre. Gegenteiliges folgt auch nicht aus dem ersten, im Klageverfahren eingeholten Gutachten von B__. Seine dortigen Ausführungen, der Kläger sei im streitigen Zeitraum auch hinsichtlich des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbsunfähig gewesen (etwa am Ende des Gutachtens, dort auf S. 8), wurden von ihm bereits in diesem ersten Gutachten relativiert bzw. waren nicht konsistent. Denn hinsichtlich derselben Feststellung sprach der Sachverständige an anderer Stelle im Gutachten (auf S. 6 oben) lediglich von hinreichender Wahrscheinlichkeit. Das Sozialgericht hat dieses Gutachten zutreffend und unter richtiger Beweislastverteilung verwertet und die Klage dementsprechend abgewiesen. Die Ausführungen des Sachverständigen in seinem in der Berufungsinstanz eingeholten Gutachten haben diese Feststellungen noch gestützt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Gründe für die Zulassung nicht vorliegen (§ 160 Nr. 1 und 2 SGG).