Führt die endgültige Festsetzung von zunächst vorläufig erbrachten Elterngeldzahlungen rechnerisch zu einem Erstattungsanspruch der Elterngeldstelle, dann ist dieser nach § 42 Abs. 3 SGB I i.V.m. § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV zu erlassen, wenn die überhöhten vorläufigen Zahlungen im wirtschaftlichen Ergebnis nicht die betroffenen Eltern, sondern das zeitgleich ergänzende einkommensabhängige Leistungen zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts erbringende Jobcenter begünstigt haben.
Der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2024 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2025 wird geändert.
Die Beklagte wird verpflichtet, die mit Bescheid vom 17. August 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 und des Änderungsbescheides vom 26. Juni 2024 festgestellte Erstattungsforderung in Höhe von 1.976,17 € zu erlassen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich im Berufungsverfahren gegen die von der Beklagten ausgesprochene Verpflichtung zur Erstattung überzahlter Elterngeldzahlungen in Höhe von noch 1.976,17 €.
Die als selbständige Heilpraktikerin beruflich tätige Klägerin ist die Mutter des am 21. März 2018 geborenen Kindes I.. In ihrem Antrag auf Elterngeld vom 5. Mai 2018 teilte sie mit, dass sie ihre selbständige Tätigkeit im Zeitraum 21. März bis 1. Juni 2018 nicht ausüben und dann bis Ende Juni 2018 in einem zeitlichen Umfang von 15 sowie nachfolgend bis zum 1. Juni 2019 in einem zeitlichen Umfang von 30 Wochenstunden ausüben werde. Bei monatlichen Betriebsausgaben von ca. 1.200 € erwarte sie monatliche Einnahmen von ca. 252 € im Zeitraum bis Oktober 2018 und nachfolgend von ca. 396 €.
Dem Grunde nach antragsgemäß bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 2. Juli 2018 vorläufig Elterngeld für den 1. bis 14. Lebensmonat des Kindes, und zwar in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von 471,47 €. Diesen Betrag hatte die Beklagte ausgehend von einem durchschnittlichen Erwerbseinkommen im Bemessungszeitraum vor der Geburt des Kindes in Höhe von 518,10 € und einem Bemessungssatz von 91 % ermittelt.
Der genannte Betrag von 471,47 € wurde der Klägerin in voller Höhe für den 4. bis 14. Lebensmonat des Kindes ausbezahlt. Für den 1. bis 3. Lebensmonat des Kindes erhielt sie nur einen Teilbetrag von jeweils 330 € persönlich, die restlichen jeweils 141,47 € erstattete die Beklagte dem Jobcenter Bremen, von dem die Klägerin im gesamten Elterngeldbezugszeitraum ergänzende Leistungen nach dem SGB II erhielt. Das Jobcenter seinerseits berücksichtigte ab dem 4. Lebensmonat des Kindes ein auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnendes Einkommen aufgrund des Elterngeldbezuges in Höhe von monatlich 171,47 € (vgl. insbesondere die Bescheide des Jobcenters vom 25. April 2019, Bl. 129 ff. VV, und vom 19. August 2019, Bl. 139 R ff. VV).
In dem o.g. Bewilligungsbescheid vom 2. Juli 2018 wies die Beklagte darauf hin, dass zu gegebener Zeit noch Einkommensnachweise von der Klägerin bezüglich ihres Einkommens aus Erwerbstätigkeit im Elterngeldbezugszeitraum angefordert würden. Dann erfolge die endgültige Festsetzung des Elterngeldes; zu viel gezahltes Elterngeld werde dann von der Klägerin zurückgefordert.
Auf Aufforderung der Beklagten übersandte die Klägerin mit Schreiben vom 28. Juni 2020 eine Einnahmenüberschussrechnung betreffend den Zeitraum 21. März 2018 bis 20. Mai 2019, wonach sie in diesem Zeitraum Betriebseinnahmen in Höhe von 13.134,79 € und Betriebsausgaben in Höhe von 8.554,75 € hatte. Dies entsprach im Durchschnitt der betroffenen 14 Monate einem monatlichen Gewinn von 327,15 €.
Daran anknüpfend nahm die Beklagte mit Bescheid vom 17. August 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 eine endgültige Festsetzung des Elterngeldes für den 14monatigen Bezugszeitraum mit der Maßgabe vor, dass ausgehend von einem vorgeburtlichen Erwerbseinkommen in Höhe von monatlich 518,10 € und einem monatlichen Erwerbseinkommen im Bezugszeitraum von 327,15 € sich zunächst rechnerisch ein Elterngeldbetrag von 173,76 € (entsprechend der Differenz zwischen vor- und nachgeburtlichem Einkommen unter Einbeziehung des Bemessungssatzes von 91 %) ergebe. Entsprechend den Vorgaben des § 2 Abs. 4 BEEG sei im Ergebnis der monatliche Mindestelterngeldbetrag von 300 € zu gewähren.
Da die Klägerin in den 14 Bezugsmonaten 6.660,58 € Elterngeld (unter Einschluss der für die ersten drei Monate an das Jobcenter ausgezahlten Erstattungsleistungen in Höhe von monatlich 141,47 €) erhalten, ihr im Ergebnis aber ausgehend von einem monatlichen Leistungsanspruch von 300 € nur 4.200 € zugestanden hätten, müsse sie die Differenz von 2.400,58 € erstatten.
Zur Begründung der gegen den Bescheid vom 17. August 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 gerichteten Klage hat die Klägerin insbesondere geltend gemacht, dass die Beklagte im Ergebnis Leistungen zurückfordere, welche im Bezugszeitraum ihr Existenzminimum abgesichert hätten. Die komplexen rechtlichen Zusammenhänge seien für sie persönlich gar nicht durchschaubar gewesen.
Mit Urteil vom 22. September 2023, der Klägerin zugestellt am 28. September 2023, hat das Sozialgericht diese Klage abgewiesen. Die endgültige Elterngeldberechnung entspreche den gesetzlichen Vorgaben. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da mit der Vorschussgewährung die spätere endgültige Festsetzung nicht präjudiziert werde. Die gesetzlichen Vorgaben eröffneten der Beklagten auch kein Ermessen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie sich gegen die Erstattung von ihr vorläufig zu hoch berechneter Elterngeldzahlungen nach deren endgültiger Festsetzung wendet.
Auf rechtlichen Hinweis des Senates hat die Beklagte den sinngemäß bereits im Widerspruchsschreiben vom 21. September 2020 geltend gemachten Antrag auf Erlass der o.g. Rückforderung von 2.400,58 € mit (am Folgetag abgesandten) Bescheid vom 26. Juni 2024 mit der Maßgabe abgelehnt, dass sie zugleich den zurückzuerstattenden Betrag auf 1.976,17 € (entsprechend dem Ausgangsbetrag von 2.400,58 € nach Abzug der für die ersten drei Bezugsmonate an das Jobcenter ausgezahlten Erstattungsbeträge von monatlich jeweils 141,47 €) reduzierte.
Bezüglich des Betrages von 1.976,17 € begründete die Beklagte diese Entscheidung damit, dass mit dessen Rückzahlung keine Unbilligkeit und keine besondere Härte verbunden sei. Damit sei keine besondere Notlage verbunden.
Den gegen diesen Bescheid vom 26. Juni 2024 eingelegten Widerspruch der Klägerin vom 30. Juli 2024 hat die Beklagte mit Bescheid vom 7. Januar 2025 zurückgewiesen. Zur Begründung hat die Beklagte insbesondere ausgeführt, dass die Erstattung des streitbetroffenen Betrages von noch 1.976,17 € nicht zu einer Existenzgefährdung im Sinne von § 59 Abs. 1 Nr. 3 Bundeshaushaltsordnung (BHO) i.V.m. mit Ziffer 3.2 der zu dieser Ordnung erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften führe. Eine „geringer ratenweise Rückzahlung“ des Betrages könne möglich „sein/werden“; auch seien künftige Verbesserungen der wirtschaftlichen Situation in Betracht zu ziehen.
Die Klägerin beantragt,
- den Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2024 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2025 zu ändern und
- die Beklagte zu verpflichten, die mit Bescheid vom 17. August 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 und des Änderungsbescheides vom 26. Juni 2024 festgestellte Erstattungsforderung in Höhe von 1.976,17 € zu erlassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die Beigeladene hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass sie keinen Raum für eine rückwirkende Neuberechnung des ALG-II-Anspruchs der Klägerin für den streitbetroffenen Zeitraum unter Berücksichtigung ihres im Nachhinein reduzierten Elterngeldanspruchs sieht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Aufgrund der zulässigen Berufung hat der Senat über die im Wege der Klageänderung in das Berufungsverfahren eingeführte Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2024 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2025 zu entscheiden. Die Beklagte hat der Klageänderung zugestimmt (vgl. ihren Schriftsatz vom 30. September 2024), diese ist im Übrigen auch aus Sicht des Senates als sachdienlich zu werten.
1. Angesichts der Klageänderung hat der Senat den Ausgangsbescheid der Beklagten vom 17. August 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 und des Änderungsbescheides vom 26. Juni 2024 und damit namentlich die dort festgestellte Erstattungsforderung in Höhe von (unter Berücksichtigung des Änderungsbescheides) noch 1.976,17 € inhaltlich nicht mehr zu überprüfen. Insbesondere ist nicht weiter zu klären, ob (etwa anknüpfend an abweichende Berechnungsergebnisse des Jobcenters) die Klägerin bei der Ermittlung der Betriebsausgaben die gesetzlichen Vorgaben des § 2 Abs. 5a Satz 2 EStG sachlich zutreffend berücksichtigt hat (vgl. dazu bereits Hinweisverfügungen vom 9. November 2023 und 19. Februar 2024, vgl. aber auch die Darstellung der – anwaltlich vertretenen – Klägerin im Schriftsatz vom 26. April 2024 wonach die im Bescheid vom 17. August 2020 berücksichtigten Einkünfte „real“ geflossen seien).
2. Auch wenn der Bescheid vom 17. August 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 und des Änderungsbescheides vom 26. Juni 2024 im Zuge der Klageänderung im Berufungsverfahren insbesondere hinsichtlich der dort festgesetzten Rückforderung von noch 1.976,17 € in Bestandskraft erwachsen ist, so hat die Klägerin nach § 42 Abs. 3 SGB I i.V.m. § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV einen Anspruch auf Erlass dieser Rückforderung von 1.976,17 €.
3. Das Elterngeld wird gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 3 BEEG bis zum Nachweis der jeweils erforderlichen Angaben vorläufig unter Berücksichtigung der glaubhaft gemachten Angaben gezahlt, wenn die berechtigte Person nach den Angaben im Antrag auf Elterngeld im Bezugszeitraum voraussichtlich Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat. Ergibt sich im Rahmen dieser vorläufigen Zahlungen insbesondere im Hinblick auf die tatsächliche Höhe des Einkommens aus Erwerbstätigkeit eine Überzahlung, so ist diese von dem Empfänger zu erstatten. Diesbezüglich gelten die im Ausgangspunkt Vorschusszahlungen erfassenden Bestimmungen des § 42 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IV entsprechend. Danach sind Vorschüsse auf die zustehende Leistung anzurechnen; soweit sie diese übersteigen, sind sie vom Empfänger zu erstatten.
Obwohl an sich auch im Rahmen des § 8 Abs. 3 BEEG ein Rückgriff auf § 50 Abs. 2 SGB X naheliegen mag, hält das BSG es für sachgerecht, im vorliegenden Zusammenhang als Ermächtigungsgrundlage für die Erstattungsforderung des Beklagten in erster Linie § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB I zur Lückenfüllung heranzuziehen (BSG, Urteil vom 5. April 2012 – B 10 EG 10/11 R –, SozR 4-7837 § 2 Nr 14, Rn. 41).
Ein unmittelbarer Anwendungsfall dieser Norm liegt hier zwar - formal betrachtet - nicht vor, weil die Elterngeldzahlung nicht gemäß § 42 Abs. 1 SGB I als Vorschuss, sondern aufgrund einer vorläufigen Bewilligung nach § 8 Abs. 3 BEEG erfolgt ist. Der Sache nach handelt es sich bei der vorläufigen Zahlung von Elterngeld (§ 8 Abs. 3 BEEG) jedoch praktisch um einen Vorschuss iS des § 42 SGB I. Beide Zahlungen setzen voraus, dass ein Geldleistungsanspruch dem Grunde nach besteht und eine endgültige Festsetzung der Höhe nach noch nicht erfolgen kann. Auch die Interessenlage ist in beiden Fällen vergleichbar. Hier wie dort geht es um die Beschleunigung der Leistungsgewährung im Interesse des Berechtigten, was von vornherein mit dem Risiko einer Überzahlung verbunden ist. Ist dem Empfänger einer solchen Leistung klar, dass er zu viel gezahlte Beträge zurückzuerstatten hat, bedarf er - nach der dem § 42 Abs 2 S 2 SGB I zugrundeliegenden Wertung des Gesetzgebers – im Regelfall keines besonderen Schutzes (BSG, Urteil vom 5. April 2012 – B 10 EG 10/11 R –, SozR 4-7837 § 2 Nr 14, Rn. 42 mwN).
Eine Rückforderung kann jedoch nur dann auf § 42 Abs. 2 S 2 SGB I gestützt werden, wenn bei der Bewilligung des Geldbetrages deutlich genug auf die an keine weiteren Voraussetzungen geknüpfte Erstattungspflicht hingewiesen worden ist. Die Notwendigkeit eines solchen Hinweises rechtfertigt sich daraus, dass die Erstattung überzahlter Leistungen nach § 50 SGB X stets an die Prüfung eines Vertrauensschutzes für den Empfänger und ggfs. auch an die Ausübung von Ermessen geknüpft ist (BSG, Urteil vom 5. April 2012, aaO, Rn. 43). Im vorliegenden Fall enthielt der Bescheid vom 2. Juli 2018 den erforderlichen Hinweis auf die an keine weiteren Voraussetzungen geknüpfte Erstattungspflicht (vgl. den Hinweis in diesem Bescheid: „Sobald alle erforderlichen Nachweise vorliegen, erfolgt die endgültige Festsetzung des Elterngeldes. Zu viel gezahltes Eltern wird dann von Ihnen zurückgefordert…“).
Dabei begegnet es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, dass § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB I den Empfänger von überzahlten Vorschüssen zur Rückzahlung verpflichtet, ohne dass er sich - wie bei zu Unrecht erhaltenen Sozialleistungen (§§ 45, 48, 50 SGB X) - auf Vertrauensschutz berufen kann.
Zwar entspricht es dem Rechtsstaatsprinzip, gegenüber einer Rücknahme oder einem Widerruf begünstigender Verwaltungsakte Vertrauensschutz geltend machen zu können, also eine Abwägung von Allgemein- und Individualinteressen herbeizuführen. Voraussetzung dafür ist aber namentlich, dass der Bürger durch den begünstigenden Verwaltungsakt überhaupt eine Rechtsposition erlangt hat, auf die er sich eingerichtet hat und auf deren Fortbestand er vertraut hat und vertrauen durfte. Eine derartige auf Dauer gesicherte Rechtslage wird durch einen Vorschussbescheid im Sinne von § 42 Abs. 1 SGB 1 aber gerade nicht geschaffen. Vorschüsse werden ersichtlich nur vorläufig und "für eine Übergangszeit" bis zur Entscheidung über den Sozialleistungsanspruch sowie für den Empfänger erkennbar unter (Rest-)Ungewissheit über den entscheidungserheblichen Sachverhalt getroffen, so dass ein verfassungsrechtlich zu schützendes Vertrauen, einen Vorschuss ganz oder teilweise behalten zu dürfen, nicht entstanden sein kann. Außerdem wird den Interessen des Empfängers, die Vorschüsse zur Lebensführung verwenden zu können, ohne eine später übermäßige Belastung wegen Erstattungspflichten befürchten zu müssen, auch durch die zur Vermeidung von Härten geschaffenen Regelungen des § 42 Abs. 3 SGB 1 (Stundung, Niederschlagung, Erlass) Rechnung getragen (BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 – 4 RA 19/88 –, SozR 1200 § 42 Nr 4, Rn. 25).
Aufgrund der atypischen Gestaltung des Sachverhalts führ eine Anwendung der erläuterten Grundsätze im vorliegenden Fall jedoch im Ergebnis zu besonderen mit der Rückforderung verbundenen Härten. Diese sind mit einer schwer wiegenden übermäßigen Belastung der Klägerin verbunden. Vor diesem Hintergrund ist von den gerade zur Vermeidung entsprechender Härten geschaffenen Regelung des § 42 Abs. 3 SGB I i.V.m. § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV im Sinne eines Erlasses der Rückforderung des überzahlten Betrages Gebrauch zu machen.
Die Klägerin war aufgrund ihrer finanziellen Notlage in dem von der Rückforderung betroffenen Leistungszeitraum der ersten vierzehn Lebensmonate ihrer Tochter neben dem gewährten Elterngeld und ihren relativ geringen Einnahmen aus ihrer selbständigen Tätigkeit auf ergänzende Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts angewiesen (vgl. insbesondere die Bescheide des beigeladenen Jobcenters vom 25. April 2019, Bl. 129 ff. VV, und vom 19. August 2019, Bl. 139 R ff. VV). Auf diese Leistungen sind die vorläufig von der Beklagten in Umsetzung des Bescheides vom 2. Juli 2018 gewährten Elterngeldleistungen nach Maßgabe der §§ 11 ff. SGB II, 10 Abs. 1 BEEG angerechnet worden, soweit diese (entsprechend den Vorgaben des § 10 Abs. 1 BEEG) den Mindestbetrag von monatlich 300 € überstiegen haben.
Mit der streitbetroffenen Rückforderung im Zuge der endgültigen Festsetzung des Elterngeldanspruchs begehrt die Beklagte gerade die Teilbeträge der zuvor vorläufig erbrachten Elterngeldleistungen zurück, welche den Mindestbetrag von monatlich 300 € überstiegen haben. Die vorläufige Zahlung dieser Teilbeträge hat im Ergebnis bei der beschriebenen Ausgangslage im wirtschaftlichen Ergebnis aber gar nicht die Klägerin, sondern das Jobcenter wirtschaftlich begünstigt. Aufgrund der vorläufig in (gemessen an der endgültigen Festsetzung) überhöhtem Maße gewährten Elterngeldzahlungen haben sich in gleicher Höhe die (einkommensabhängigen) Leistungsansprüche der Klägerin gegenüber dem Jobcenter gemindert, dessen Leistungsaufwendungen haben sich entsprechend reduziert.
Hätte die Beklagte von Vornherein auch bereits im Rahmen der vorläufigen Leistungen das Elterngeld nur in Höhe des der Klägerin im Ergebnis zustehenden Mindestbetrages erbracht, wäre dies für die Klägerin im Ergebnis mit keinem wirtschaftlichen Nachteil verbunden gewesen. In diesem Fall hätte sich korrespondierend mit entsprechend geringeren Elterngeldleistungen der einkommensabhängige Grundsicherungsanspruch gegenüber dem Jobcenter entsprechend erhöht, so dass die Klägerin in der Summe beider Leistungen über denselben Gesamtbetrag verfügt hätte. Obwohl die Klägerin im streitbetroffenen Elterngeldleistungszeitraum in der Summe dieser beiden Sozialleistungen nicht mehr erhalten hat, als ihr nach den gesetzlichen Vorgaben zur Absicherung ihres notwendigen Lebensunterhalts zustand, wird sie mit dem Rückforderungsbescheid zur (nach der Auffassung der Beklagten ratenweise abzustotternden) Rückerstattung eines Teils der ihr zuvor zur Existenzsicherung gewährten Sozialleistungen verpflichtet.
Mit ihrem Vorgehen verkehrt die Beklagte die gesetzgeberischen Intentionen letztlich in ihr Gegenteil. Gerade zur Vermeidung solcher sachwidrigen und den gesetzgeberischen Zielvorgaben widersprechenden Ergebnisse war sie von Rechts wegen verpflichtet, den sich rechnerisch ergebenden Rückforderungsbetrag zu erlassen. Die Einziehung des rechnerisch überzahlten Elterngeldbetrages ist nach Lage des vorliegenden Falles als unbillig im Sinne von § 42 Abs. 3 SGB I i.V.m. § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV zu werten, wobei das Ermessen der Beklagten im Sinne eines vollständigen Erlasses reduziert ist.
Sachlich unbillig ist die Verfolgung eines Anspruches, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Falle derart zuwiderläuft, dass die Beitreibung des Anspruchs als ungerecht erscheint (Kreikebohm/Dünn SGB IV/Brandt, 4. Aufl. 2022, SGB IV § 76 Rn. 22, Beck-Online).
Schon im Ausgangspunkt wollte der Gesetzgeber mit den Vorgaben des § 42 Abs. 3 SGB I sicherstellen, dass etwaige Erstattungsverpflichtungen des Bürgers nicht zu wirtschaftlichen Härten führen (BT-Drs. 7/3786, S. 5). Da der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV Absatz 2 Nr. 3 durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs eine Anlehnung an das Steuerrecht (§ 227 Abs. 1 der Abgabenordnung) erreichen wollte (BT-Drs. 12/5187, S. 31), ist auch die finanzgerichtliche Rechtsprechung zur Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm heranzuziehen.
Sachliche Gründe für eine Billigkeitsentscheidung, die unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen zu beurteilen wären, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers auf dem in Frage kommenden Steuerrechtsgebiet (bzw. bezogen auf den vorliegend zu beurteilenden Zusammenhang: Sozialrechtsgebiet) angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte. Die Festsetzung einer Steuer (oder – wie im vorliegenden Zusammenhang – einer Rückforderung) ist aus sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar dem Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber den Wertungen des Gesetzes zuwiderläuft. Härten, die der Gesetzgeber bei der Regelung des gesetzlichen Tatbestandes bedacht und in Kauf genommen hat, können hingegen einen solchen Billigkeitserlass nicht rechtfertigen (vgl. zum Vorstehenden: BVerfG, Beschluss vom 5. April 1978 – 1 BvR 117/73 –, Rn. 31, juris mwN; BFH, Beschluss vom 11. Juli 2018 – XI R 33/16 –, BFHE 262, 114, Rn. 31 mwN).
Auch wenn die mit dem Erlassantrag zur Überprüfung gestellte Entscheidung vom 17. August 2020 äußerlich noch dem Gesetz entsprochen haben mag, so steht doch die im Ergebnis festgesetzte Erstattungsforderung in einem grundlegenden Widerspruch zu den gesetzgeberischen Wertungen.
Schon im Ausgangspunkt will der Gesetzgeber mit der Gewährung von Vorschussleistungen (und entsprechend von vorläufigen Elterngeldleistungen) Nachteile auf Seiten der Leistungsempfänger vermeiden (BT-Drs. 7/868, S. 29). Bei einer Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben in dem von der Beklagten befürworteten Sinne verkehrt sich die Gewährung solcher vorläufigen Zahlungen aber in eine schwer wiegende Benachteiligung von betroffenen Leistungsempfängern, soweit diese – wie auch im vorliegenden Fall – aufgrund einer entsprechenden Notlage neben den Vorschusszahlungen auf ergänzende einkommensabhängige Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums insbesondere nach dem SGB II angewiesen sind. Diese müssen sich im Leistungszeitraum die vorläufig in im Ergebnis überhöhter Höhe zuerkannten Elterngeldzahlungen auf den ergänzenden Grundsicherungsanspruch in voller Höhe der tatsächlich zunächst erbrachten Zahlungen anrechnen lassen und können nach der rückwirkenden Kürzung der Elterngeldleistungen im Zuge von deren endgültiger Bemessung auch nicht mehr rückwirkend höhere Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen. Stattdessen sollen sie nach dem Verständnis der Beklagten aus eigenen Mitteln ratenweise die Elterngeldüberzahlung ausgleichen, obwohl sie im Ergebnis nie mehr bekommen haben, als ihnen schon zur Sicherung des Existenzminimums zustand.
Ein solches Ergebnis ist sachwidrig und widerspricht den gesetzgeberischen Wertungen, welche insbesondere in den Vorgaben über die verlässliche Absicherung des Existenzminimums durch Leistungen nach dem SGB II (bzw. SGB XII) zum Ausdruck gebracht werden. Damit wird zugleich das verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht der Klägerin auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG missachtet, welches ihr aufgrund ihrer Hilfebedürftigkeit im Leistungszeitraum einen Anspruch (dauerhafte) Gewährung der finanziellen Voraussetzungen zur Sicherung ihres Existenzminimums vermittelte (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175).
Es gelten entsprechend die Erwägungen, welche das BSG zu der Einschätzung bewogen haben, dass ein atypischer Fall im Sinne des § 48 Abs. 1 S 2 Nr. 2 bis 4 SGB X festzustellen ist, wenn der Betroffene infolge des Wegfalls jener Sozialleistungen, deren Bewilligung rückwirkend aufgehoben wurde, im Nachhinein unter den Sozialhilfesatz sinken oder vermehrt sozialhilfebedürftig würde (BSG, Urteil vom 30. Juni 2016 – B 5 RE 1/15 R –, SozR 4-1300 § 48 Nr 33, Rn. 25 mwN). Das BSG stellt dabei darauf ab, dass ein im Vergleich zum Normalfall entsprechender Rückforderungen hinzutretender zusätzlicher Schaden in solchen Konstellationen im Hinblick darauf festzustellen ist, dass der Betroffene (höhere) Sozialhilfeansprüche zur Sicherung seines aus Art 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG folgenden Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens, welche ihm zugestanden hätten, wenn die zurückgeforderten Sozialleistungen nicht zugeflossen wären, rückwirkend nicht mehr geltend machen kann. Er hätte dann im Ergebnis wegen der Pflicht zur Rückzahlung aus seinem gegenwärtigen Einkommen und Vermögen solche Leistungen zu ersetzen, auf die er in der Vergangenheit einen Anspruch gehabt hätte. Ein derartiger Anspruchsverlust werde jedoch von der Zweckbestimmung der Tatbestände nach § 48 Abs. 1 S 2 Nr. 2 und 4 SGB X nicht eingefordert (BSG, Urteil vom 30. Juni 2016 – B 5 RE 1/15 R –, SozR 4-1300 § 48 Nr. 33, Rn. 26, vgl. dort, Rn. 23, auch zu einer Unvereinbarkeit mit Billigkeitsgesichtspunkten). Für § 42 SGB I gilt Entsprechendes.
Damit gehen zugleich erhebliche wirtschaftliche Härten einher, wie sie der Gesetzgeber, wie bereits erläutert, mit den Vorgaben des § 42 Abs. 3 SGB I i.V.m. § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV gerade vermeiden wollte.
Bei der erläuterten Ausgangslage ist das Ermessen der Beklagten im Sinne des begehrten Erlasses der sich rechnerisch ergebenden Rückforderung reduziert. Auch von Seiten der Beklagten ist nichts dafür nachvollziehbar aufgezeigt worden, dass es den gesetzgeberischen Wertungen auch nur hinsichtlich eines Teilbetrages der streitbetroffenen Rückforderungssumme entsprechen könnte, wenn die Klägerin im Ergebnis für die streitbetroffenen Elterngeldbezugszeiträume rückwirkend vermehrt sozialhilfe- bzw. grundsicherungsleistungsbedürftig werden würde.
Von einer entsprechenden Ermessensreduzierung ist umso mehr ausgehen, als es der Beklagten anzulasten ist, dass sie unkritisch bei der Vorschussbemessung von einem fehlenden Erwerbseinkommen der Klägerin im Bezugszeitraum ungeachtet dessen ausgegangen ist, dass die Klägerin bereits im Zuge der Beantragung des Elterngeldes ihre Absicht zur Wiederaufnahme ihrer selbständigen Tätigkeit schon wenige Wochen nach der Geburt der Tochter mitgeteilt hatte.
In diesem Zusammenhang kann sich die Beklagte schon deshalb nicht auf die zahlenmäßigen Angaben der Klägerin im Antragsformular vom 5. Mai 2018 zu den erwartenden Einnahmen und Ausgaben aus einer solchen Tätigkeit berufen, da diese augenscheinlich durch Missverständnisse und/oder Rechenfehler geprägt und dementsprechend ohne weitere Erläuterungen nicht verwertbar waren. Nach dem Wortlaut der Angaben hätte die Klägerin einen monatlichen Verlust von knapp 1.000 € aus der selbständigen Tätigkeit erwartet. Einen solchen Verlust konnte sie, wie schon der Bezug ergänzender Grundsicherungsleistungen verdeutlicht, aber wirtschaftlich gar nicht tragen. Auch wäre die Wiederaufnahme der selbständigen Tätigkeit nach der Geburt der Tochter bei einer so ungünstigen wirtschaftlichen Ausgangslage gar nicht sinnvoll gewesen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.