L 7 KA 14/25 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 22 KA 17/25 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 14/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Im Gegensatz zur Amtsenthebung nach § 59 Abs. 3 SGB IV darf die Entbindung vom Vorstandsamt nach § 59 Abs. 2 SGB IV nicht für sofort  vollziehbar erklärt werden; angesichts der spezialgesetzlichen Regelungen in § 59 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IV darf die allgemeinere Regelung in § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG nicht ergänzend herangezogen werden. 

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2025 geändert.

 

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Beschlusses der Vertreterversammlung der Antragsgegnerin vom 24. Februar 2025 (schriftlicher Bescheid vom 13. März 2025) wird aufgehoben.

 

Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die Entbindung von seinem Amt als Mitglied des Vorstandes durch den Beschluss der Vertreterversammlung der Antragsgegnerin vom 24. Februar 2025 (schriftlicher Bescheid vom 13. März 2025) aufschiebende Wirkung entfaltet.

 

Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückgewiesen.

 

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

 

Die Antragsgegnerin wird vorläufig bis zum Eintritt von Rechtskraft in der Hauptsache verpflichtet, den Antragsteller innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieser Entscheidung wieder als Vorstandsvorsitzenden der KZV Berlin einzusetzen, ihn auf der Homepage der KZV Berlin sowie im Intranet wieder als Vorstandsvorsitzenden zu führen und ihm die mit dem Amt des Vorstandsvorsitzenden verbundenen Befugnisse und Funktionen einzuräumen.

 

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragsgegnerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

 

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 137.000,00 Euro festgesetzt.

 

 

 

Gründe

 

1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2025 bleibt, von den im Tenor ersichtlichen Modifikationen abgesehen, im Ergebnis ohne Erfolg.

 

Die Antragsgegnerin hätte die Entbindung des Antragstellers „von seinem Amt als Vorstand der KZV Berlin“ nicht für sofort vollziehbar erklären dürfen, denn dies ist gesetzlich kraft vorrangiger Sonderregelungen im Vierten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) nicht vorgesehen. Daher entfaltet der Widerspruch des Antragstellers gegen die Entbindungsverfügung aufschiebende Wirkung.

 

Die derzeit mit einem Widerspruch angegriffene Entbindung des Antragstellers von seinem Amt als Vorstand der KZV Berlin beruht auf § 79 Abs. 6 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Verbindung mit §§ 35a Abs. 7 Satz 1 und 59 Abs. 2 Satz 1 SGB IV. Danach hat – sinngemäß – die Vertreterversammlung einer Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung ein Vorstandsmitglied durch Beschluss von seinem Amt zu entbinden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. § 79 Abs. 6 Satz 1 SGB V in Verbindung mit §§ 35a Abs. 7 Satz 1 und 59 Abs. 3 Satz 1 SGB IV regelt demgegenüber die Möglichkeit der Amtsenthebung, sofern das Vorstandsmitglied in grober Weise gegen seine Amtspflichten verstößt. Mit Bezug zur Amtsenthebung nach § 59 Abs. 3 Satz 1 SGB IV regelt § 59 Abs. 3 Satz 2 SGB IV, dass die Vertreterversammlung „die sofortige Vollziehung des Beschlusses“ (also der Amtsenthebung) anordnen kann; diese Anordnung „hat die Wirkung, dass das Mitglied sein Amt nicht ausüben kann“.

 

In systematischer Auslegung von § 59 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IV gelangt der Senat zu der Überzeugung, dass nur die Amtsenthebung nach § 59 Abs. 3 SGB IV, nicht aber die Entbindung nach § 59 Abs. 2 SGB IV für sofort vollziehbar erklärt werden darf. Denn wenn der Gesetzgeber des SGB IV die Möglichkeit einer Vollziehungsanordnung auch für die an einfachere Voraussetzungen geknüpfte Entbindung nach      § 59 Abs. 2 Satz 1 SGB IV hätte vorsehen wollen, hätte er dies ausdrücklich regeln müssen. In der Systematik der Absätze 2 und 3 des § 59 SGB IV ist eine Vollziehungsanordnung aber ausdrücklich nur im Rahmen des Absatzes 3 für die Amtsenthebung vorgesehen. Daraus folgt im Gegenschluss, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Amtsentbindung nach § 59 Abs. 2 SGB IV rechtlich nicht vorgesehen ist; insoweit verdrängen auch die in § 59 SGB IV getroffenen Sonderregelungen die allgemeine Regelung in § 86a Abs. 2 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das entspricht auch der ganz vorherrschenden und ausdrücklichen Ansicht in der gängigen Kommentarliteratur (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, Rdnr. 23b zu § 86a [„Die sofortige Vollziehung eines Amtsentbindungsbeschlusses nach § 59 Abs. 2 SGB IV ist nicht zulässig <allgM, …>; dies folgt daraus, dass die Vorschrift, anders als § 59 Abs. 3 SGB IV, die Möglichkeit der VzA nicht erwähnt.“]; Palsherm in jurisPK SGB IV, Rdnr. 19 zu § 59 SGB IV [„Eine Anordnung sofortiger Vollziehung ist für die Amtsentbindung im Unterschied zur Amtsenthebung nicht vorgesehen.“]; Rombach in Hauck/Noftz, SGB IV, Rdnr. 9 zu    § 59 SGB IV [„Die Amtsentbindung wirkt nach Ablauf der Rechtsmittelfrist.“]; Jüttner/Wehrhahn, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl., Rdnr. 43 zu § 86a [Besondere Anordnungsermächtigung nur in Bezug auf die Amtsenthebung nach § 59 Abs. 3 SGB IV]; and. Ans. nur – ohne Begründung – Hamdorf in Hauck/Noftz, SGB V, Rdnr. 50 zu § 79 SGB V). Gegenläufige Rechtsprechung ist – abgesehen von der vorliegend angegriffenen Entscheidung des Sozialgerichts  – nicht ersichtlich. Sinn und Zweck der Regelung in § 59 Abs. 3 SGB IV bestätigen die vom Senat für zwingend gehaltene Auslegung: Bei einer groben Verletzung von Amtspflichten erscheint es plausibel, dass es einer Vertreterversammlung unzumutbar ist, mit einem Vorstandsmitglied auch nur vorübergehend weiter zusammenzuarbeiten; bei (nur) einem „wichtigen Grund“ im Sinne von § 59 Abs. 2 SGB IV drängt sich dies nicht auf.

 

Der Auffassung des Senats entspricht im Übrigen sogar die Satzung der Antragsgegnerin. Dort heißt es in § 13 Abs. 2, Sätze 3 und 4: „Das Amt dieser Person als Mitglied des Vorstandes endet, auch wenn es sich um die Vorsitzende/den Vorsitzenden des Vorstandes handelt, wenn die VV mit der Mehrheit ihrer Mitglieder die Entbindung oder Enthebung beschließt und der Beschluss unanfechtbar geworden ist. Die VV kann die sofortige Vollziehung des Enthebungsbeschlusses anordnen.“ Der Senat kann nicht nachvollziehen, warum die Antragsgegnerin von dieser klaren Satzungsregelung, die den bunderechtlichen Vorgaben entspricht, abgewichen ist.

 

Die Auffassung des Sozialgerichts, wonach die Regelungen in § 59 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IV durch die Einführung von § 86a SGG m.W.v. 2. Januar 2002 gleichsam keine Geltung mehr beanspruchten, überzeugt schon deshalb nicht, weil § 59 SGB IV auch lange nach Inkrafttreten der §§ 86a und 86b SGG noch reformiert wurde, zuletzt durch Einfügung von § 59 Abs. 3 Satz 3 SGB IV m.W.v. 1. Januar 2018, ohne dass der Gesetzgeber Anlass gesehen hätte, die Regelung zur Anordnung der sofortigen Vollziehung ausschließlich der Amtsenthebung zu korrigieren. Ebenso wenig ist es tragfähig, im vorliegenden Zusammenhang auf den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 5. Juni 2013, B 6 KA 4/13 B, zu rekurrieren, denn dieser besagt nur, dass entgegen dem Wortlaut von § 97 Abs. 4 SGB V nicht nur der Berufungsausschuss, sondern auch der Zulassungsausschuss die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung im öffentlichen Interesse anordnen kann; es ist nicht ersichtlich, inwieweit dies im vorliegenden Zusammenhang fruchtbar gemacht werden könnte.

 

Danach war der Antragsgegnerin eine Anordnung der sofortigen Vollziehung der Amtsentbindung rechtlich verwehrt. Der Senat hat daher die Anordnung der sofortigen Vollziehung des vorliegend streitgegenständlichen Beschlusses der Vertreterversammlung der Antragsgegnerin vom 24. Februar 2025 (schriftlicher Bescheid vom 13. März 2025) aufgehoben. Weil zwischen den Beteiligten Streit über die aufschiebende Wirkung des vom Antragsteller erhobenen Widerspruchs besteht, war ergänzend festzustellen, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die Entbindung von seinem Amt als Mitglied des Vorstandes aufschiebende Wirkung entfaltet. Beide Maßnahmen des Eilrechtsschutzes sind als „Minus“ von § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG umfasst. Des darüber hinausgehenden Antrages des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs anzuordnen, bedurfte es daneben nicht. Daher war der Eilantrag zur Klarstellung im Übrigen zurückzuweisen. Zugleich war die Beschwerde der Antragsgegnerin, die der Sache nach unterliegt, im Übrigen zurückzuweisen.

 

2. Dem Antrag des Antragstellers auf Vollzugsfolgenbeseitigung hatte der Senat zu entsprechen.

 

Nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt – hier: die Amtsentbindung – im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist. Ein diesbezüglicher Antrag kann auch erstmals im Beschwerdeverfahren gestellt werden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, Rdnr. 10a zu § 86b).

 

Insoweit hat der Senat Folgendes in seine Erwägungen eingestellt: Weil dem Widerspruch des Antragstellers gegen die verfügte Amtsentbindung aufschiebende Wirkung zukommt, ist der status quo ante vollständig wiederherzustellen. Das Wesen der aufschiebenden Wirkung besteht darin, dass die Verwaltung während des Schwebezustandes bis zum Eintritt von Bestandskraft keine Maßnahme wegen des Verwaltungsakts anordnen oder vollziehen darf, die den durch den Verwaltungsakt Betroffenen belasten könnte. Mit anderen Worten: Der Antragsteller ist so zu stellen, als sei er nicht seines Amtes als Mitglied des Vorstandes und damit automatisch auch seines Amtes als Vorstandsvorsitzender entbunden worden. Das Amt als Vorstandsvorsitzender ist ihm wieder zugänglich zu machen.

 

Dass der Antragsteller vor der Entbindung vom Amt als Mitglied des Vorstands durch gesonderten Beschluss der Vertreterversammlung aus dem Amt des Vorsitzenden des Vorstandes „abgewählt“ wurde, ändert daran nichts. Der Beschluss über die „Abwahl“ wird von der Entbindung vom Vorstandsamt konsumiert und fällt nicht eigenständig ins Gewicht. Außerdem sehen weder § 79 SGB V noch die Satzung der Antragsgegnerin (vgl. § 13) eine „Abwahl“ von (vorsitzenden) Vorstandsmitgliedern vor. Im Falle der Entbindung endet das Amt als Mitglied des Vorstandes, auch wenn es sich um die Vorsitzende/den Vorsitzenden des Vorstandes handelt, erst, wenn die Vertreterversammlung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder die Entbindung beschließt und der Beschluss – anders als hier – unanfechtbar geworden ist (§ 13 Abs. 2 Satz 3 der Satzung). Da das Amt als Vorstandsvorsitzender danach nicht endete und die sofortige Vollziehung aufgehoben worden ist (siehe 1.), ist der status quo ante die Ausübung des Amtes als Vorstandsvorsitzender. Dafür spricht auch, dass die „Abwahl“ des Antragstellers als Vorsitzender des Vorstandes ausweislich des Protokolls der Vertreterversammlung vom 24. Februar 2025 damit begründet wurde, dass der Antragsteller sein Amt nicht ausüben könne und die Antragsgegnerin handlungsfähig bleiben müsse. Dieser Zweck der „Abwahl“ hat sich durch die Aufhebung der sofortigen Vollziehung erledigt. Im Übrigen würde durch die Sichtweise der Antragsgegnerin, dass dem Antragsteller wegen der vorherigen (ohne besondere Voraussetzungen möglichen) „Abwahl“ als Vorsitzender im Wege der Folgenbeseitigung nur ein Amt als Stellvertreter zur Verfügung gestellt werden müsse, der durch § 59 SGB V bzw. § 13 Abs. 2 der Satzung vermittelte Schutz entwertet.

 

Die entsprechenden Maßnahmen zur Vollzugsfolgenbeseitigung hätte die Antragsgegnerin spätestens in dem Augenblick eigenständig ergreifen müssen, in dem sie im Eilverfahren vor dem Sozialgericht unterlag, denn der Beschluss des Sozialgerichts vom 15. April 2025 war mit Bekanntgabe wirksam und die vorliegende Beschwerde entfaltete insoweit keine aufschiebende Wirkung. Trotz alledem räumt die Antragsgegnerin dem Antragsteller derzeit nur das Amt eines stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden ein, während das zuvor vom Antragsteller bekleidete Amt des Vorstandsvorsitzenden nunmehr vom Beigeladenen zu 2. eingenommen wird; so wird es auch auf der Internetseite der Antragsgegnerin dargestellt. Dies handelt der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zuwider und ist über die gerichtlich angeordnete Vollzugsfolgenbeseitigung zu regulieren, weil der Eilrechtsschutz des Antragstellers ansonsten teilweise leerliefe. Die Antragsgegnerin wird mithin sämtliche Maßnahmen, in denen eine Vollziehung der Amtsentbindung liegt, rückgängig zu machen haben; dazu gehört es ganz zentral, dem Antragsteller sein Amt als einziger Vorsitzender des Vorstandes wieder einschränkungslos zugänglich zu machen.

 

Die Entscheidung zur Vollzugsfolgenbeseitigung ist vollstreckungsfähig wie eine Regelungsanordnung, § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, Rdnr. 22a zu § 86b).

 

Um der Vertreterversammlung der Antragsgegnerin die notwendige Zeit einzuräumen, die Bestellung des Beigeladenen zu 2. zum Vorstandsvorsitzenden rückgängig zu machen – auch dies gehört zur zwingenden Beseitigung der Vollzugsfolgen – hat der Senat der Antragsgegnerin für die Umsetzung der Vollzugsfolgenbeseitigung eine Frist von zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses eingeräumt.

 

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die vom Sozialgericht vorgenommene Orientierung des Streitwerts an § 56 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG hält der Senat für sachgerecht und wird für das Beschwerdeverfahren übernommen.

 

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.

Rechtskraft
Aus
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