Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 18. April 2024 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe eines Festzuschusses für Zahnersatz.
Die bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin nahm – wie dem Bonusheft zu entnehmen ist – regelmäßig einmal jährlich die zahnärztlichen Vorsorgetermine wahr. Im Jahr 2022 enthält das Bonusheft hinsichtlich eines für den 24. November 2022 vorgesehenen Termins folgenden Eintrag der Zahnarztpraxis: „Musste Vorsorgetermin im November coronabedingt absagen“. Der nächste Eintrag im Bonusheft datiert auf den 31. Januar 2023.
Auf Antrag der Klägerin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 31. Januar 2023 einen Festzuschuss für einen Zahnersatz für den Zahn 46 iHv 60 Prozent der Kosten des Zahnersatzes für eine Regelversorgung (241,68 €). Da die Klägerin kein vollständiges Bonusheft eingereicht habe, sei ein höherer Zuschuss nicht möglich.
Den dagegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sie den Termin am 24. November 2022 coronabedingt nicht habe wahrnehmen können und einen Ersatztermin erst am 31. Januar 2023 erhalten habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2023 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Ausnahmefall greife nur, wenn es zwar einen begründeten Ausfall des Untersuchungstermins gebe, dieser aber nicht in den letzten fünf Jahren liege. Ihr sei kein Ermessen eingeräumt, wenn in den letzten fünf Jahren ein Termin nicht stattgefunden habe.
Mit ihrer am 25. Mai 2023 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren, einen Festzuschuss von mehr als 60 Prozent (75 Prozent) zu erhalten, weiterverfolgt. Es treffe sie keinerlei Schuld, dass sie den für November 2022 vorgesehenen Termin nicht habe wahrnehmen können. Es sei im Jahr 2022 aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich gewesen, noch im gleichen Jahr einen Zahnarzttermin in Berlin zu bekommen.
Mit Urteil vom 18. April 2024 hat das Sozialgericht (SG) Frankfurt (Oder) die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 31. Januar 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2023 verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts den Antrag der Klägerin auf Gewährung eines Festzuschusses zum Zahnersatz iHv 75 Prozent für die Versorgung des Zahnes 45 neu zu bescheiden. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Nach Auffassung des Gerichts könne die Beklagte trotz der fehlenden Untersuchung im Jahr 2022 den Festzuschuss auf 75 Prozent erhöhen, da ein begründeter Ausnahmefall vorliege. Die Auffassung der Beklagten, die Ausnahmeregelung des § 55 Abs. 1 Satz 7 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) greife nur, wenn in den letzten fünf Jahren vor der Behandlung die Untersuchungen regelmäßig stattgefunden hätten und der begründete Ausnahmefall in den Jahren sechs bis zehn vor der Behandlung liege, sei mit dem Wortlaut der Norm nicht vereinbar. Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass dieser begründete Ausnahmefall auch unabhängig von § 55 Abs. 1 Satz 6 SGB V (Nichtinanspruchnahme einer Untersuchung im Jahr 2020) gelten könne. Diese Regelung mache keinen Sinn, wenn die ersten fünf Jahre von der Regelung des Satz 7 nicht erfasst sein sollten, jedenfalls nicht bis zu einem Behandlungsfall im Jahr 2025. Ein begründeter Ausnahmefall für die einmalige Unterbrechung der Untersuchung liege bei der Klägerin im Jahr 2022 vor. Die Untersuchung der Klägerin im Jahr 2022 sei ausgefallen, da die Klägerin an Corona erkrankt gewesen sei und ihr ihre Zahnarztpraxis im Jahr 2022 keinen Alternativtermin mehr habe anbieten können. Davon sei nach Bestätigung der die Klägerin behandelnden Zahnärztin auszugehen. Die Beklagte könne damit der Klägerin den Festzuschuss auf 75 Prozent erhöhen. Weil die Beklagte die Tatbestandsvoraussetzung des § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V für die Klägerin nicht anerkannt habe, habe sie keine Ermessensentscheidung getroffen. Es liegt ein Ermessensausfall vor. Es sei jedoch nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen. Aus diesem Grund könne die Beklagte nur zur Neuverbescheidung des Antrages der Klägerin auf Festzuschuss für den Zahnersatz verpflichtet werden.
Mit ihrer Berufung hält die Beklagte an ihrer Rechtsauffassung fest. Die Regelungen in § 55 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB V einerseits und die Sätze 5 und 7 anderseits bauten aufeinander auf. Die Erhöhung des Festzuschusses auf 75 Prozent solle nach dem Willen des Gesetzgebers und dem Sinn und Zweck des § 55 SGB V erst zum Tragen kommen, wenn die Voraussetzungen für eine Erhöhung auf 70 Prozent vorlägen. Dies sei von der bisherigen Fassung des § 55 SGB V eindeutig geregelt, als es in § 55 Abs. 1 Satz 5 SGB V in der vor dem 1. Oktober 2020 geltenden Fassung gelautet habe: „Die Festzuschüsse nach Satz 2 erhöhen sich um weitere 10 Prozent von Hundert, wenn der Versicherte seine Zähne regelmäßig gepflegt und in den letzten zehn Kalenderjahren vor Beginn der Behandlung die Untersuchungen nach Satz 4 Nr. 1 und 2 ohne Unterbrechung in Anspruch genommen hat.“ Aus der Gesetzesbegründung zum Terminservice- und Versorgungsgesetz ergebe sich, dass mit der dadurch veranlassten Änderung des § 55 SGB V an der bisherigen Systematik zur Regelung der Erhöhung der Festzuschüsse festgehalten werden sollte. Beabsichtigt sei lediglich eine finanzielle Entlastung der Versicherten durch eine Erhöhung des Standard-Festzuschusses von 50 auf 60 Prozent sowie die Änderung der möglichen Erhöhungen des Festzuschusses. Die Einführung der festen Prozentsätze in der Regelung anstelle der „von Hundertsätze“ sei dabei lediglich aus Gründen der Verständlichkeit erfolgt. Der Gesetzgeber habe hiermit lediglich die Höhe der möglichen Festzuschüsse ändern wolle. Keinesfalls sei es beabsichtigt, eine Änderung der Systematik der Ansprüche auf Erhöhung der Festzuschüsse herbeizuführen. Dies entspreche auch nicht dem Sinn und Zweck der Norm, da mit der Erhöhung des Festzuschusses auf 75 Prozent eine zusätzliche Erhöhung erreicht werden solle, die auf den Voraussetzungen der vorherigen Erhöhung auf 70 Prozent aufbaue und diese honoriere. Bei einer anderen Auslegung wären die Regelungen zu den möglichen Erhöhungen der Festzuschüsse widersprüchlich, da dem Versicherten der höhere Festzuschuss von 75 Prozent ermöglicht würde, obwohl nicht einmal die Voraussetzungen für die geringere Erhöhung auf 70 Prozent vorlägen. Obgleich nach Auffassung der Beklagten bereits aus diesem Grund eine Erhöhung des Festzuschusses auf 75 Prozent im hiesigen Sachverhalt nicht erfolgen könne, sei auch bei Anwendbarkeit der Ausnahmeregelung nach Satz 7 die von der Klägerin begehrte Anerkennung des Jahres 2022 bei der Ermittlung der Festzuschüsse bei etwaigen zukünftigen Zahnersatzversorgungen aus Sicht der Beklagten nicht möglich. So könne eine zahnärztliche Vorsorgeuntersuchung ganzjährig stattfinden. Der Umstand, dass ein Termin zur zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchung im November – mithin knapp vor dem Jahresende – angesetzt worden sei und bei Verhinderung nicht mehr im selben Jahr wahrgenommen werden könne, liege im Verantwortungs- und Risikobereich der Klägerin.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 18. April 2024 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, auf die wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes Bezug genommen wird, haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass die Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig und insoweit begründet ist, als die Beklagte es abgelehnt hatte, eine Ermessensentscheidung nach § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V zu treffen. Insoweit war der Bescheid vom 31. Januar 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2023 rechtswidrig und aufzuheben. Zu Recht hat das SG die Beklagte verpflichtet, über den Anspruch der Klägerin auf einen höheren Festbetragszuschuss neu zu entscheiden.
Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der ab dem 11. Juli 2021 geltenden Fassung (wobei die Regelung – bis auf Satz 6 – schon durch das Terminservice- und Versorgungsverbesserungsgesetz <TSVG> vom 6. Mai 2019 mit Wirkung zum 1. Oktober 2020 neu formuliert und durch den jetzigen Satz 7 ergänzt wurde) haben Versicherte nach den Vorgaben in den Sätzen 2 bis 7 Anspruch auf befundbezogene Festzuschüsse bei einer medizinisch notwendigen Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen (zahnärztliche und zahntechnische Leistungen) in den Fällen, in denen eine zahnprothetische Versorgung notwendig ist und die geplante Versorgung einer Methode entspricht, die gemäß § 135 Abs. 1 SGB V anerkannt ist. Nach Satz 2 umfassen die Festzuschüsse 60 Prozent der nach § 57 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 5 und 6 SGB V festgesetzten Beträge für die jeweilige Regelversorgung. Dabei gibt Satz 3 vor: Für eigene Bemühungen zur Gesunderhaltung der Zähne erhöhen sich die Festzuschüsse nach Satz 2 auf 70 Prozent. Dieser Anspruch auf Erhöhung des Festzuschusses entfällt gemäß Satz 4, wenn der Gebisszustand des Versicherten regelmäßige Zahnpflege nicht erkennen lässt und der Versicherte während der letzten fünf Jahre vor Beginn der Behandlung 1. die Untersuchungen nach § 22 Abs. 1 SGB V nicht in jedem Kalenderhalbjahr in Anspruch genommen hat und 2. sich nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht wenigstens einmal in jedem Kalenderjahr hat zahnärztlich untersuchen lassen. Nach Satz 5 erhöhen sich die Festzuschüsse nach Satz 2 auf 75 Prozent, wenn der Versicherte seine Zähne regelmäßig gepflegt und in den letzten zehn Kalenderjahren vor Beginn der Behandlung die Untersuchungen nach Satz 4 Nr. 1 und 2 ohne Unterbrechung in Anspruch genommen hat. Abweichend von den Sätzen 4 und 5 entfällt die Erhöhung der Festzuschüsse nicht aufgrund einer Nichtinanspruchnahme der Untersuchungen nach Satz 4 im Kalenderjahr 2020 (Satz 6). In begründeten Ausnahmefällen können die Krankenkassen abweichend von Satz 5 und unabhängig von Satz 6 die Festzuschüsse nach Satz 2 auf 75 Prozent erhöhen, wenn der Versicherte seine Zähne regelmäßig gepflegt und in den letzten zehn Jahren vor Beginn der Behandlungen die Untersuchungen nach Satz 4 Nummer 1 und 2 nur mit einer einmaligen Unterbrechung in Anspruch genommen hat.
Dass die Klägerin dem Grunde nach einen Anspruch auf die Gewährung des Festzuschusses hatte, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die Beteiligten streiten vielmehr allein um die Höhe des zu gewährenden Festzuschusses. Dabei geht es um die Frage, ob das einmalige Versäumnis der Durchführung einer Zahnvorsorgeuntersuchung im Jahr 2022 unberücksichtigt bleiben kann.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin hatte insbesondere in den letzten zehn Jahren vor Beginn der Behandlungen die Untersuchungen nach Satz 4 Nr. 1 und 2 nur mit einer einmaligen Unterbrechung in Anspruch genommen. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es danach für den Anspruch nicht erforderlich, dass das einmalige Versäumnis einer Vorsorgeuntersuchung mehr als fünf Jahre zurückliegt. Auch eine (einjährige) Vorsorgelücke in den letzten fünf Jahren vor Antragstellung erfüllt die tatbestandlichen Vorrausetzungen. Der Senat schließt sich insoweit – nach eigener Prüfung – den Ausführungen des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen an (vgl. Urteil vom 10. Oktober 2024 – L 5 KR 1137/23 –, juris Rn. 38 ff., zum damaligen § 55 Abs. 1 Satz 6 SGB V, welcher wortgleich mit der nunmehr in Satz 7 enthaltenen Regelung ist). Dieses hatte ua ausgeführt:
„1.) Der Wortlaut des § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V stützt die Auffassung der Beklagten nicht. Dort heißt es, dass lediglich ein einmaliges Versäumnis der Vorsorgeuntersuchung "in den letzten zehn Jahren vor Behandlungsbeginn" erfolgt sein darf. Eine nähere Eingrenzung, dass das Versäumnis mehr als fünf Jahre zurückliegen müsse, ist der Formulierung hingegen nicht zu entnehmen.
2.) Auch den Gesetzesmaterialien kann die Einschränkung, wie sie von der Beklagten vertreten wird, nicht entnommen werden. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V in der hier maßgeblichen Fassung vom 06.05.2019 wurde durch das Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz - TSVG, BGBl. I 2019, S. 646) mit Wirkung zum 01.10.2020 eingeführt. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass die Bonusregelung zur Erhöhung des Festzuschusses für Zahnersatz versichertenfreundlicher ausgestaltet werden solle (vgl. BT-Drs. 19/8351, S. 217). Zwar verweist der Gesetzgeber auf die bislang geltende Rechtslage und führt aus, dass die versicherte Person bisher nur dann einen Anspruch auf einen weiteren Bonus über die vorhergehende Erhöhung hinaus habe, wenn er regelmäßig seine Zähne gepflegt und in den letzten zehn Kalenderjahren vor Behandlungsbeginn die Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig in Anspruch genommen habe. Allein die Erwähnung des weiteren Bonus über die vorhergehende Erhöhung hinaus bedeutet aber nicht, dass auch nach der gesetzlichen Neuregelung ein Festzuschuss von 75 Prozent nur dann erfolgen soll, wenn die Vorrausetzung eines Zuschusses i.H.v. 70 Prozent vorliegen. § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V ist vielmehr als eigenständiger Tatbestand zu verstehen, der Versicherten bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen einen autonomen Anspruch auf den 75-prozentigen Festzuschuss eröffnen sollte, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für den 70-prozentigen Zuschuss nach § 55 Abs. 1 S. 3, 4 SGB V erfüllt wurden oder nicht. Dafür spricht schon, dass der Gesetzgeber bei Einführung des Satzes 6 zum 01.10.2020 auch den Wortlaut des Satzes 5 geändert hat: Während Satz 5 in der bis zum 30.09.2020 geltenden Fassung noch von einer Erhöhung um weitere 10 vom Hundert sprach, wurde in der ab 01.10.2020 geltenden Fassung der Betrag von 75 Prozent festgeschrieben. Die Abhängigkeit von der ersten Erhöhung wurde damit sprachlich aufgehoben. Im Übrigen wäre es auch anders nicht zu erklären, warum der Gesetzgeber weder im Gesetzeswortlaut noch in der Begründung explizit darauf hingewiesen hat, dass das Versäumnis der Vorsorgeuntersuchung mehr als fünf Jahre zurückliegen müsse, anstatt sich für die Formulierung "in den letzten zehn Jahren" zu entscheiden.
3.) Ein anderes Ergebnis ist auch der Gesetzessystematik nicht zu entnehmen. Zwar sieht § 55 Abs. 1 S. 6 SGB V ausdrücklich eine Erhöhung der Festzuschüsse auf 75 Prozent abweichend von Satz 5, nicht aber auch von den Sätzen 3 und 4 vor, in denen die Erhöhung auf 70 Prozent geregelt ist. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Voraussetzungen der Sätze 3 und 4, also u.a. ein lückenloser Nachweis über Vorsorgeuntersuchungen in den letzten fünf Jahren, kumulativ zu den in Satz 6 genannten vorliegen müssten. Die Formulierung "abweichend von Satz 5" ist vielmehr im Zusammenhang mit der Angabe zur Höhe der Festzuschüsse, nämlich 75 Prozent, zu lesen. Deren grundsätzliche Gewährung regelt allein Satz 5, so dass auch nur eine abweichende Reglung von dieser Vorschrift getroffen werden musste.
4.) Sinn und Zweck der zum 01.10.2020 neu eingeführten Reglung war es, die Bonusregelung zur Erhöhung des Festzuschusses für Zahnersatz versichertenfreundlicher auszugestalten. In begründeten Ausnahmefällen soll zukünftig ein einmaliges Versäumen einer Vorsorgeuntersuchung folgenlos bleiben (so der Wortlaut der Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 19/8351, S. 217). Eine versichertenfreundlichere Regelung wird aber nur erreicht, wenn sich bei einem Blick ins Gesetz auch für einen juristischen Laien unmittelbar erschließt, unter welchen Voraussetzungen er Anspruch auf die begehrte Leistung hat. Dieses Ziel wird nur dann erreicht, wenn entsprechend dem Wortlaut der Regelung ein einmaliges Versäumnis innerhalb der vorausgegangen zehn Jahre - gleich in welchem Jahr - als folgenlos angesehen werden kann.“
Indem die Beklagte – zu Unrecht – davon ausgegangen ist, dass sie die Ermessensentscheidung des § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V nur dann treffen kann, wenn die Unterbrechung der Kontrolluntersuchungen in den Jahren sechs bis zehn vor der Untersuchung liegt, hat sie keine entsprechende Ermessensentscheidung getroffen, womit ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt. Die Klägerin hat einen Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung im Rahmen des § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V (§ 39 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil <SGB I>).
Nach Auffassung des Senats ist auch ein begründeter Ausnahmefall iSd § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V nicht auszuschließen. Bei der Formulierung "begründeter Ausnahmefall" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass vorliegend eine sog. Kopplungsvorschrift vorliegt, in der ein unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen miteinander kombiniert werden. Zwar wird in einem solchen Fall der Ermessensspielraum der Verwaltung erheblich eingeschränkt, weil ggf. die gleichen Erwägungen im Rahmen der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs und bei der Ermessensausübung anzustellen sind (vgl. dazu Groth in jurisPK-SGB I, 4. Auflage 2024, § 39 Rn. 27 <Stand: 15. Juni 2024>). Ein solches Ergebnis ist aber hinzunehmen, weil nicht ausgeschlossen ist, dass im Rahmen der Einzelfallprüfung noch ergänzende Gesichtspunkte bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.
Wann ein begründeter Ausnahmefall vorliegt, ist gesetzlich nicht geregelt. Jedenfalls fallen hierunter aber Sachverhaltskonstellationen, in denen sich die einmalige Unterbrechung der Kontrolluntersuchungen nicht auf ein Versäumnis der versicherten Person zurückführen lässt (vgl. Blöcher in: Hauck/Noftz SGB V, 3. Ergänzungslieferung 2025, § 55 SGB 5, Rn. 68, der noch weiter geht und auch eine solche Unterbrechung unter den Begriff „begründeter Ausnahmefall“ subsumiert, die offensichtlich keine Auswirkungen auf die Notwendigkeit der anstehenden Zahnersatzversorgung gehabt hat). Gesundheitliche Einschränkungen, die das Wahrnehmen eines Arzttermins verhindern, sind grundsätzlich als ein begründeter Ausnahmefall anzusehen. In zeitlicher Hinsicht ist dabei zu berücksichtigen, dass nach der gesetzlichen Regelung des § 55 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 SGB V das Kalenderjahr zur Durchführung der Vorsorgeuntersuchung vollständig ausgeschöpft werden kann. Aus diesem Grunde dürfte es beispielsweise unzulässig sein, Versicherte, die in der zweiten Jahreshälfte erkranken, auf die Möglichkeit der Vorsorgeuntersuchung in der ersten Jahreshälfte zu verweisen (vgl. auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, aaO Rn. 59).
Die Klägerin konnte den für November 2022 geplanten Termin aufgrund einer Corona-Infektion nicht wahrnehmen. Dies steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Nach Auffassung des Senats ist ein Termin im November auch nicht so knapp gewählt, dass allein deshalb von einem Versäumnis der Klägerin auszugehen ist. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass es nachvollziehbar ist, dass die Klägerin einen ungefähren Jahresrhythmus einhalten wollte und auch schon in den Jahren davor die Termine in den Oktober bzw. November gelegt hatte. Zum anderen ist es auch nicht ausgeschlossen, dass der Termin grundsätzlich noch in den restlichen Wochen des Jahres nachgeholt werden kann. Dass dies vorliegend nicht der Fall war, hat die Zahnarztpraxis der Klägerin bestätigt. Ersichtlich hatte die Klägerin sich bemüht, den versäumten Termin noch im Jahr 2022 nachzuholen. Nach Auffassung des Senats spricht es nicht gegen einen begründeten Ausnahmefall, dass die Klägerin sich nicht um einen Termin in anderen Zahnarztpraxen bemüht hat. Ein Wechsel des behandelnden Zahnarztes allein zur Erreichung eines Termins noch im selben Jahr überspannt die Anforderungen an die Regelungen in § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V. Dies schon deshalb, weil die Vorteile einer kontinuierlichen Kontrolle und Behandlung durch dieselbe Praxis sinnvoll und im Ergebnis – durch die Vermeidung von Doppeluntersuchungen – auch wirtschaftlich ist.
Lagen damit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Satz 7 SGB V vor, war die Verurteilung der Beklagten im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens zu einer Neubescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts durch das SG nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt die teilweise Klageabweisung durch das SG.
Gründe für die Zulassung der Revision iSd § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.