L 11 SB 186/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 32 SB 221/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 186/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).
  2. Ein bestimmter GdB steht mit der Frage, ob bei dem behinderten Menschen volle Erwerbsminderung besteht, in keinerlei Wechselwirkung, weil die jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen völlig unterschiedlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 24. August 2017 - B 9 SB 24/17 B – juris).
  3. Zur GdB-Bewertung des Restless-legs-Syndroms kann auf den einschlägigen Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - vom April 2002 zur Beurteilung bei Restless-legs-Syndrom verwiesen werden. Danach bietet sich eine analoge Bewertung des Restless-legs-Syndroms mit anderen Hypersomnien wie dem Schlaf-Apnoe-Syndrom an (vgl. BSG, Beschluss vom 13. März 2023 - B 9 SB 41/22 B – juris).

 

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 18. April 2023 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 12. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 dazu verurteilt, den Grad der Behinderung des Klägers mit Wirkung ab dem 28. Januar 2019 mit 40 festzustellen.

 

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des gesamten Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

 

Der 1965 geborene Kläger beantragte bei dem Beklagten am 25. September 2018 erstmals die Feststellung seines Behindertenstatus unter Geltendmachung insbesondere orthopädischer Leiden, Schmerzen und Schlafstörungen. Nach medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 12. April 2019 mit Wirkung ab dem 25. September 2018 den GdB wegen einer Funktionsstörung der Wirbelsäule mit 20 fest. Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch ermittelte der Beklagte weiter medizinisch. Zur Vorlage kam unter anderem ein Entlassungsbericht des Reha-Zentrums L über eine ganztägig ambulante Rehabilitationsmaßnahme vom 7. bis 25. Januar 2019 (Diagnosen: chronisches Lendenwirbelsäulen <LWS>-Syndrom mit Lumboischialgie links bei Spondylarthrose L3-5 und Bandscheibenschäden, Halswirbelsäulen <HWS>-Syndrom mit Brachialgie links bei Nucleus-pulposus-Prolaps <NPP> C5/C6 mit Myelonpelottierung und Affektion/Irritation der Wurzeln C5, C6, neuropathisches Schmerzsyndrom, initiale Coxarthrose beidseits; Entlassung als arbeitsunfähig im Beruf als Fleischer). Der Beklagte wies den Widerspruch bei unveränderter Leidensbezeichnung durch Widerspruchsbescheid vom 21. August 2019 zurück.

 

Hiergegen hat der Kläger am 12. September 2019 Klage erhoben.

 

Das Sozialgericht hat den – bereits bekannten – Entlassungsbericht beim Reha-Zentrum L beigezogen und Befundberichte bei dem Internisten L, dem Orthopäden K, der Psychiaterin und speziellen Schmerztherapeutin Dr. H und bei dem Internisten S eingeholt.

 

Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. W ein fachorthopädisches Gutachten vom 21. Juni 2021 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 3. Mai 2021 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei dem Kläger sei ab dem 28. Januar 2019 mit 40 zu bewerten. Dabei lägen mittelschwere Funktionsstörungen der Wirbelsäule in zwei Abschnitten in Form von Bandscheibenverlagerungen der HWS mit sensiblem Nervenwurzelreizsyndrom und Bandscheibenverlagerungen der LWS mit sensiblem Nervenwurzelreizsyndrom (Einzel-GdB 30), eine leichte Funktionsstörung der linken Schulter durch Läsion der Drehmuskelmanschette und eine Schultereckgelenksarthrose (Einzel-GdB 10), eine Funktionsbeeinträchtigung der unteren Extremitäten durch Polyneuropathie, unruhige Beine und die Angabe eines Kalkaneussporns (Einzel-GdB 10), eine Trigeminusneuralgie links (Einzel-GdB 20), psychische Beeinträchtigungen durch Depressionen (Einzel-GdB 20) sowie Funktionsstörungen des Herz-Kreislaufsystems durch Bluthochdruck und Verdacht auf Einengung der Aortenklappe (Einzel-GdB 20) vor. Der GdB von 40 liege dokumentationsfest seit dem 28. Januar 2019 – dem Behandlungsbeginn bei der Neurologin und Psychiaterin Dr. H – vor.

 

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 27. August 2021 ein Teilanerkenntnis erklärt, wonach er sich bereit erklärt hat, ab dem 3. Mai 2021 einen GdB von 40 und für die Zeit vom 10. Dezember 2020 bis zum 2. Mai 2021 einen GdB von 30 festzustellen. Ausweislich einer dem Schriftsatz beigefügten versorgungsärztlichen Stellungnahme sei die psychische Beeinträchtigung ab dem zweiten Befundbericht von Dr. H vom 10. Dezember 2020 mit 30 zu bewerten. Das Wirbelsäulenleiden könne ab Begutachtung durch Dr. W mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet werden. Der Bluthochdruck könne nur mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet werden. Polyneuropathie und Trigeminusneuralgie könnten je mit keinem Einzel-GdB bewertet werden.

 

Zu den Einwänden des Beklagten wie auch des Klägers hat der Sachverständige Dr. W unter dem 26. Oktober 2021 ergänzend Stellung genommen und erklärt, an seiner Einschätzung festzuhalten. Ein neurologisches Zusatzgutachten würde er aber befürworten.

 

Das Sozialgericht hat bei dem Chefarzt der Klinik für Neurologie des A Fachklinikums  Prof. Dr. B ein neurologisches Fachgutachten vom 4./29. Januar 2022 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 29. Dezember 2021 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei dem Kläger sei mit 40 zu bewerten. Dabei sei ein Wirbelsäulenschaden mit mittelgradig schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten (HWS, LWS) mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Es bestehe ein chronisches Schmerzsyndrom der LWS und der HWS mit häufig rezidivierenden und anhaltenden Bewegungseinschränkungen mittleren Grades und häufig rezidivierenden und über Tage anhaltenden Wirbelsäulensyndromen. Da zwei Wirbelsäulenabschnitte betroffen seien, seien die Beschwerden mittelschwer, da aber keine Lähmungserscheinungen vorlägen, betrage der GdB 30. Hinweise auf eine außergewöhnliche Schmerzerkrankung bestünden nicht. Eine mittelgradige depressive Episode sei ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Die behandelnde Neurologin und Psychiaterin bestätige das in ihren Befundberichten. Die antidepressive Therapie habe bislang keine wesentliche Linderung erbracht. Eine Schultergelenkserkrankung links sei mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Mit keinem Einzel-GdB seien je eine Hypästhesie des linken Beines, der linken Leiste, des linken Genitalbereichs sowie aller zehn Fingerkuppen, Bewegungsstörungen unklarer Ursache und chronische Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren zu bewerten. Eine Trigeminusneuralgie links sei nicht zu erkennen; der Kläger gebe dort nur ein Taubheitsgefühl an, dies stelle keine Funktionsbeeinträchtigung dar. Gleiches gelte für eine Polyneuropathie und Syndrom der unruhigen Beine. Alle vorgenannten Beschwerden lägen so seit mindestens September 2018 vor.

 

Der Kläger hat Einwände gegen das Gutachten von Prof. Dr. B geäußert. Dass nach diesem kein Restless-legs-Syndrom vorliegen soll, verwundere die behandelnde Neurologin, nach deren Einschätzung die Eingangskriterien zweifellos erfüllt seien. Mittlerweile leide der Kläger an Atemaussetzern und habe eine Schlafmaske verordnet bekommen, was nach Vermutung der behandelnden Neurologin auf eine durch das Restless-legs-Syndrom verursachte Hirnschädigung zurückzuführen sei.

 

Das Sozialgericht hat einen weiteren Befundbericht bei der Neurologin und Psychiaterin Dr. H nebst beigefügten Schlaflaborbefunden und anschließend bei dem Sachverständigen Prof. Dr. B eine Ergänzung zum neurologischen Gutachten vom 1. Februar 2023 eingeholt. Der Sachverständige hat erklärt, die Beschwerden, die der Kläger dem Restless-legs-Syndrom zuordne, entsprächen den Diagnosekriterien in keinem Punkt. Vom Kläger geschilderte Bewusstseinsstörungen seien kein Symptom des Restless-legs-Syndroms. Gleiches gelte für das Schlafapnoe-Syndrom. Der Kläger ist dem entgegen getreten.

 

Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht das Teilanerkenntnis des Beklagten vom 27. August 2021 angenommen und die Klage aufrecht erhalten, soweit er einen GdB von 50 begehrt hat. Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme vorgelegt, nach dem das Schlafapnoe-Syndrom ab Diagnose am 21. März 2022 mit 10 und ab Behandlung mit einer Schlafmaske am 20. Juni 2022 mit 20 zu bewerten sei. Der Gesamt-GdB bleibe unverändert.

 

Durch Urteil vom 18. April 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Ein höherer GdB als 40 liege nicht vor, was sich aus den eingeholten Sachverständigengutachten ergebe. Danach seien das Leiden der Wirbelsäule und das seelische Leiden mit Einzel-GdB von je 30 zu bewerten. Ob ein Restless-legs-Syndrom vorliege, könne dahinstehen. Wenn das so wäre, müsste sich dessen Beurteilung nach Teil B Nr. 3.1.2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) (Hirnschäden mit isoliert vorkommenden Syndromen) oder Teil B Nr. 8.7 der Anlage zu § 2 VersMedV (Schlafapnoe-Syndrom) richten. Hier liege es nahe, dass die vom Kläger geschilderten Beeinträchtigungen die Auswirkungen seines Schlafapnoe-Syndrom seien, die mit einem Einzel-GdB von 20 angemessen bewertet seien. Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich (Teil B Nr. 2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV) und Bluthochdruck (Teil B Nr. 9.3 der Anlage zu § 2 VersMedV) seien je mit Einzel-GdB von 20, Funktionsstörungen der Schulter nach Teil B Nr. 18.13 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.

 

Der Beklagte hat das angenommene Teilanerkenntnis mit Ausführungsbescheid vom 1. Juni 2023 umgesetzt.

 

Der Kläger hat gegen das ihm am 15. Mai 2023 zugestellte Urteil am 15. Juni 2023 Berufung eingelegt. Es sei nicht nachvollziehbar, warum das seelische Leiden mit einem Einzel-GdB von 30 das Wirbelsäulenleiden von 30 nicht auf 50 erhöhe. Das Schlafapnoe-Syndrom sei mit einem Einzel-GdB von 20 unzureichend bewertet, weil Komplikationen in Gestalt einer Hypertonie bestünden. Entgegen Prof. Dr. B liege ein Restless-legs-Syndrom vor, das das Sozialgericht nicht nachvollziehbar nur mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet habe. Auch die Kostenentscheidung des Sozialgerichts sei nicht nachvollziehbar.

 

Der Senat hat Befundberichte bei dem Internisten L und bei der Neurologin und Psychiaterin Dr. H eingeholt.

 

Der Kläger hat Schlaflaborbefunde und ein Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie Dr. B vom 27. Januar 2024 vorgelegt, das diese nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 26. Januar 2024 im auf eine Erwerbsminderungsrente gerichteten Verfahren S  R  erstattet hat. Danach bestünden auf psychiatrischem Gebiet eine anhaltende chronifizierte derzeit mittelgradige depressive Symptomatik, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und eine somatoforme Schmerzstörung sowie der Verdacht auf eine gemischte Persönlichkeitsstörung, differentialdiagnostisch eine andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom. Auf neurologischem Gebiet lägen ein Restless-legs-Syndrom sowie eine linksseitige Hypästhese und Hypalgesie, deutlich psychogen verstärkt vor. Dem Kläger seien nur leichte Tätigkeiten zuzumuten im Umfang von unter drei Stunden täglich.

 

Der Senat hat nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein psychiatrisches Gutachten bei der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie H vom 6. August 2024 eingeholt, das diese nach ambulanter Untersuchung des Klägers am selben Tag erstattet hat und in dem sie zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB sei seit dem 28. Januar 2019 mit 50 zu bewerten. Zu bewerten seien folgende Funktionsstörungen mit folgenden Einzel-GdB:

 

  • depressive Störung (30),
  • chronische Schmerzstörung (20),
  • Restless-legs-Syndrom (20),
  • linksseitige Hypästhesie (10),
  • Schlafapnoe-Syndrom (20),
  • chronisches Lumbalsyndrom (20),
  • chronisches HWS-Syndrom (20),
  • arterieller Hypertonus (10),
  • Schultergelenksarthrose (20).

 

Warum Prof. Dr. B ein Restless-legs-Syndrom verneint habe, sei nicht nachvollziehbar. Recht habe dieser aber, soweit er eine Trigeminusneuralgie verneine.

 

Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 2. Oktober 2024 zu den Gerichtsakten gereicht, wonach dem Gutachten der Sachverständigen H nicht zu folgen sei. Der Senat hat diese Stellungnahme der Sachverständigen H zur ergänzenden Stellungnahme zugeleitet. In dieser vom 30. Januar 2025 hat die Sachverständige im Wesentlichen erklärt, an ihrer Einschätzung festzuhalten.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 18. April 2023 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 12. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 1. Juni 2023 zu verurteilen, zugunsten des Klägers mit Wirkung ab dem 25. September 2018 den Grad der Behinderung mit 50 festzustellen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist im Übrigen auf seine versorgungsärztlichen Stellungnahmen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.

 

Der Bescheid vom 1. Juni 2023, mit dem der Beklagte sein Teilanerkenntnis ausgeführt hat, ist nicht nach § 96 Abs. 1 SGG Verfahrensgegenstand geworden, weil er den angefochtenen Bescheid im Rechtssinne weder ändert noch ersetzt. Er setzt lediglich das angenommene Teilanerkenntnis um, enthält insoweit nur eine Begünstigung und ändert oder ersetzt nicht die Ablehnung eines GdB von 50.

 

Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist teilweise unzutreffend. Die zulässige Klage ist begründet, soweit dem Kläger der GdB von 40 früher zusteht, als vom Beklagten anerkannt. Der Bescheid des Beklagten vom 12. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50, aber einen solchen auf Feststellung eines GdB von 40 schon ab dem 28. Januar 2019.

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in seiner seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) – seit dem 1. Januar 2024 des Vierzehnten Buches - zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541), vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652), vom 6. Juni 2023 (BGBl. I Nr. 146) und vom 19. Juni 2023 (BGBl. I Nr. 158) Änderungen erfahren haben.

 

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).

 

Der GdB ist seit dem 28. Januar 2019 mit 40 zu bewerten aber nicht höher. Dies folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus den Gutachten der Sachverständigen Dr. W und Prof. Dr. B, die jeweils auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers sowie einer kritischen Würdigung der sonstigen medizinischen Unterlagen beruhen und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen erstattet worden sind. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Bemessung des GdB grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe ist. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R – juris).

 

Das Wirbelsäulenleiden ist nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Davon gehen letztlich alle Sachverständigen aus, übrigens im Ergebnis auch die Sachverständige H, soweit sie LWS- und HWS-Leiden je mit Einzel-GdB von 20 bewertet. Die Untersuchungsbefunde von Dr. W belegen allerdings für den Bereich der HWS nur leichte Einschränkungen der Beweglichkeit der Rotation und der Seitneigung. Das gilt auch für den Bereich der LWS, hier hat der Sachverständige nur eine leichte Einschränkung der Rotation und einen vergrößerten Finger-Boden-Abstand festgestellt, übrigens ohne Schmerzangaben. Dass Dr. W röntgenologisch schwere Verschleißerscheinungen für HWS und LWS festgestellt hat, ist für den GdB ohne Belang, weil nach Teil B Nr. 18.1 der Anlage zu § 2 VersMedV mit Bild gebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z.B. degenerativer Art) allein noch nicht die Annahme eines GdB rechtfertigen. Daher lässt sich die Annahme von Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten und damit ein Einzel-GdB von 30 überhaupt nur unter Berücksichtigung von Schmerzen rechtfertigen. Die ergibt sich auch aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B, der von einem chronischen - ausdrücklich nicht außergewöhnlichen - Schmerzsyndrom der HWS und der LWS ausgeht und so zu einem Einzel-GdB von 30 gelangt. Die Sachverständige H bewertet die chronische Schmerzstörung separat mit einem Einzel-GdB von 20. Der Senat kann offen lassen, ob dies überzeugt. Wollte man nämlich – wie es die Sachverständige H getan hat - die Leiden der HWS, der LWS und die chronische Schmerzstörung je mit Einzel-GdB von 20 bewerten, ergäbe sich daraus ein „kleiner Gesamt-GdB“ von 30, inhaltlich würde daraus also keine Abweichung resultieren.

 

Das seelische Leiden ist nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten und zwar unabhängig davon, ob man es als mittelgradig depressive Episode (Prof. Dr. B) oder als anhaltende chronifizierte mittelgradige Depression (H) bezeichnen wollte. Ein höherer Einzel-GdB als 30 kommt keinesfalls in Betracht, weil die Leiden keiner schweren Störung entsprechen und sich auch nicht im Grenzbereich dazu befinden. Nichts anderes ergibt sich aus dem Rentengutachten von Dr. B, die neben einer Antriebsminderung eine mittelschwere depressive Symptomatik bestätigt hat. Dass sie von einem Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich aufgrund der psychischen Symptomatik ausgegangen ist, besagt nichts zur Höhe des GdB, weil ein bestimmter GdB mit der Frage, ob bei dem behinderten Menschen volle Erwerbsminderung besteht, in keinerlei Wechselwirkung steht, weil die jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen völlig unterschiedlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 24. August 2017 - B 9 SB 24/17 B – juris).

 

Das „recht gut“ (Gutachten H, Seite 10) eingestellte Schlaf-Apnoe-Syndrom mit Notwendigkeit einer kontinuierlichen nasalen Überdruckbeatmung ist nach Teil B Nr. 8.7 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.

 

Inwieweit die Diagnose eine Restless-legs-Syndrom wirklich gesichert ist, kann dahinstehen, weil ein höherer Einzel-GdB von 20 nicht erkennbar ist. Was die Bewertungsgrundlage betrifft, kann auf den einschlägigen Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - vom April 2002 zur Beurteilung bei Restless-legs-Syndrom verwiesen werden (vgl. BSG, Beschluss vom 13. März 2023 - B 9 SB 41/22 B – juris). Fehlt es für die Bemessung des GdB an ausdrücklichen Vorgaben im Teil B der Anlage zu § 2 VersMedV, kann analog auf vergleichbare Bewertungen zurückgegriffen werden (Teil B Nr. 1 Buchstabe b der Anlage zu § 2 VersMedV). Nach dem vorgenannten Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats bietet sich eine analoge Bewertung des Restless-legs-Syndroms mit anderen Hypersomnien wie dem Schlaf-Apnoe-Syndrom an. Denn auch beim Restless-legs-Syndrom bestehen die teilhaberelevanten gesundheitlichen Auswirkungen insbesondere in Schlafstörungen, erhöhter Tagesmüdigkeit und psychischen Folgeerscheinungen wie Gereiztheit, Abgeschlagenheit bis hin zu depressiven Verstimmungen (Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - vom April 2002, „Gutachtliche Beurteilung bei Restless-Legs-Syndrom“, zitiert nach: Wendler, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 10. Auflage 2020, S. 237). Hier sind Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit jedenfalls nach den Ausführungen der Sachverständigen H auf das Restless-legs-Syndrom zurückzuführen. Auch sie geht aber nachvollziehbar von keinem höheren Einzel-GdB als 20 aus. Dies überzeugt, weil die vorliegenden psychischen Beschwerden offenkundig auf die Schmerzkrankheit zurückzuführen sind.

 

Ob die Schulterbeschwerden links nach Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 10 (Dr. W, Prof. Dr. B) oder 20 (H) zu bewerten sind, kann wegen der fehlenden Relevanz für den Gesamt-GdB offen bleiben.

 

Die arterielle Hypertonie ist nach Teil B Nr. 9.3 der Anlage zu § 2 VersMedV mit keinem höheren Einzel-GdB als 10 zu bewerten. Eine Hypertonie in mittelschwerer Form liegt entgegen der Einschätzung des Sachverständigen Dr. W nicht vor, weil keine Organbeteiligung vorliegt und der Bluthochdruck normotensiv eingestellt ist (vgl. Befundbericht des Internisten L vom 4. November 2023). Dass der diastolische Blutdruck mehrfach über 100 mmHg trotz Behandlung liegt, ist nicht erkennbar, er lag auch bei Dr. W genau bei 100 mmHg.

 

Ob eine linksseitige Hypästhesie mit keinem (Prof. Dr. B) oder einem Einzel-GdB von 10 (H) zu bewerten ist, kann wegen der fehlenden Relevanz für den Gesamt-GdB dahinstehen. Eine Trigeminusneuralgie haben beide vorgenannten Fachärzte nachvollziehbar verneint, dem folgt der Senat.

 

Der Gesamt-GdB beträgt 40. Dabei wird der Einzel-GdB von 30 für das Wirbelsäulenleiden einschließlich eines chronischen Schmerzsyndroms trotz erheblicher Überschneidungen durch den Einzel-GdB von 30 für das seelische Leiden um einen 10-er-Wert erhöht. Soweit die Sachverständige H annimmt, die beiden Einzel-GdB von je 30 für das Wirbelsäulen- und das seelische Leiden ergäben einen GdB von 50, folgt der Senat dem nicht. Denn im Einzel-GdB von 30 steckt mit der chronischen Schmerzkrankheit bereits eine erhebliche seelische Komponente. Die darüber hinausgehenden auf dem seelischen Leiden beruhenden Teilhabebeeinträchtigungen sind zu berücksichtigen, rechtfertigen aber keine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 50. Eine weitere Erhöhung durch die weiteren mit Einzel-GdB von 10 und 20 zu bewertenden Leiden findet gemäß den skizzierten versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht statt. Das Ausmaß der Behinderung (vgl. Teil A Nr. 3 d) ee) der Anlage zu § 2 VersMedV) nimmt durch die mit Einzel-GdB von je 20 zu bewertenden Leiden – Schlafapnoe-Syndrom, Restless-legs-Syndrom (fraglich), Schulterbeschwerden links (fraglich) – nicht wesentlich zu. Insbesondere ergibt der Vergleich mit festen Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 b) der Anlage zu § 2 VersMedV), dass die Leiden des Klägers nicht beispielsweise mit Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z.B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) entsprechen (vgl. Mecke, SGb 2023, 220, 227) gleichzusetzen sind.

 

Der GdB von 40 ist entgegen der Auffassung des Beklagten bereits seit dem 28. Januar 2019 festzustellen. Insbesondere die Sachverständigen Dr. W und H knüpfen nachvollziehbar den höheren GdB an den Behandlungsbeginn bei der Neurologin und Psychiaterin Dr. H. Dies überzeugt auch deshalb, weil im Entlassungsbericht des Reha-Zentrums L über eine ganztägig ambulante Rehabilitationsmaßnahme vom 7. bis 25. Januar 2019 – und damit kurz vor Beginn der Behandlung bei Dr. H – die Beeinträchtigungen des Klägers im jetzigen Ausmaß im Wesentlichen bereits beschrieben werden.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger hat zwar rechnerisch im Umfang von rund zwei Drittel obsiegt, die Schwerbehinderteneigenschaft, an deren Zuerkennung der Gesetzgeber besondere Vorteile anknüpft, aber verpasst.

 

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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