L 13 R 480/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 3838/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 480/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 7. Februar 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Jahr 1973 geborene Klägerin siedelte im Jahr 1991 aus Afghanistan kommend in die Bundesrepublik Deutschland über. Nachdem sie von September 2005 – Januar 2017 im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch stand, war sie ab Januar 2019 als Verkäuferin in einer Bäckerei geringfügig beschäftigt. Zuletzt arbeitete sie dort in einem zeitlichen Umfang von ca. 3 - 4 Stunden täglich.

Am 9. August 2019 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie führte hierzu Wirbelsäulenbeschwerden und eine Angststörung an.

Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch B1, der in seinem Gutachten vom 22. Oktober 2019 bei der Klägerin eine postoperativ anhaltende Lumboischialgie re. nach Sequestrektomie L5/S1 (Juni 2019) mit S1-Wurzelreizsyndrom und mittelgradigen Funktionseinschränkungen und belastungsbedingte Schmerzen beider Handgelenke unklarer Genese, ohne Funktionseinschränkungen feststellte und den Verdacht auf ein Postnukleotomiesyndrom äußerte.
Zur abschließenden sozialmedizinischen Beurteilung empfahl B1 die Durchführung einer stationären, orthopädisch ausgerichteten Rehabilitationsmaßnahme.

Eine solche durchlief die Klägerin vom 17. Dezember 2019 - 7. Januar 2020 in der R1 Klinik, B2. Aus dieser ist sie unter den Diagnosen anhaltender Lumboischialgien rechts; Sequestrektomie L5/S1 (6/19) wegen BSV mit S1/S2 Wurzelreizsyndrom, belastungsabhängigen Schmerzen beider Handgelenke linksbetont, unklarer Genese sowie einem psychovegetativen Erschöpfungssyndrom mit rezidivierenden Depressionen als fähig entlassen worden, leichte Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich und mehr verrichten zu können (Entlassungsbericht vom 8. Januar 2020).
.
Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 5. Mai 2020 ab. Begründend führte sie aus, im Zeitraum vom 1. November 2008 - 8. August 2019 seien nur 32 Monate mit Pflichtbeiträgen zurückgelegt worden, weswegen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der begehrten Rente nicht erfüllt seien. Darüber hinaus seien auch die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt; die Klägerin könne noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie brachte vor, sie habe am 17. Februar 2015 einen Arbeitsunfall erlitten und sei deswegen seither arbeitsunfähig. Auch bestünden diverse gesundheitliche und psychische Probleme. Unter Vorlage ärztlicher Atteste führte sie aus, sie sei nicht mehr leistungsfähig.

Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020 zurück. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rente seien, so die Beklagte, nicht erfüllt. Auch läge keine Erwerbsminderung, auch nicht zu einem Zeitpunkt, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt gewesen seien, vor.

Hiergegen hat die Klägerin am 23. September 2020 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat sie vorgetragen, bei ihr sei Erwerbsminderung bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten, zu dem die 3/5- Belegung erfüllt gewesen sei. Auch seien die bestehenden Einschränkungen nicht hinreichend berücksichtigt worden. Es bestünden, so die Klägerin unter Vorlage ärztlicher Unterlagen, erhebliche orthopädische Beschwerden, die sich seit einem Arbeitsunfall im Jahre 2015 erheblich verschlimmern hätten. Auf psychiatrischem Fachgebiet bestünden sehr starke Angstzustände und Panikattacken, sie könne kaum schlafen. Sie habe sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen und traue sich nicht unter Menschen zu gehen. Durch die Kriegserlebnisse habe sie auch immer wieder Flashbacks. Sie leide morgens unter starker Antriebsschwäche und unter starken Konzentrationsstörungen. Zuletzt hat die Klägerin ein Attest des H1 vom 17. Februar 2022 vorgelegt, bei welchem sie sich seit dem Januar 2022 in Behandlung befindet.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat hierzu auf ihren Widerspruchsbescheid verwiesen. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien zuletzt im April 2019 erfüllt gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe jedoch keine Erwerbsminderung vorgelegen.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. Die A1 hat unter dem 25. Februar 2021 mitgeteilt, dass sich die Klägerin bei ihr seit dem 14. Oktober 2019 in ambulant psychiatrischer Behandlung befinde (Häufigkeit: Behandlung alle 2 -3 Monate). Für den Zeitraum vor Oktober 2019 könne keine Aussage getätigt werden. Der M1 hat in seiner Stellungnahme vom 9. März 2021 von einer erstmaligen Vorstellung am 30. Juli 2013 berichtet. Die Klägerin leide u.a. unter Rückenschmerzen, Schmerzen beider Füße und beider Handgelenke. Ein Bandscheibenvorfall im Juni 2019 habe eine wesentliche Verschlechterung gebracht, das Befinden habe sich jedoch durch die operative Behandlung wesentlich gebessert. V1, hat ausgeführt, dass die Klägerin seit Juli 2016 wegen Hypothyreose bei Autoimmunthyreoiditis und Struma nodosa von ihr behandelt werde. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit ergebe sich nicht (Stellungnahme vom 14. April 2021).


Das SG hat sodann M2, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit der Klägerin beauftragt. In seinem neurologisch- psychiatrischen Gutachten vom 21. August 2021 hat M2 bei der Klägerin auf seinem Fachgebiet nach deren persönlicher Untersuchung Angst und eine depressive Störung, entsprechend einer mittelschweren depressiven Episode (mit multiplen Phobien, Agoraphobie, Panikattacken), eine Somatisierungsstörung mit anhaltender somatoformer Schmerzstörung, eher leichten Grübelzwang und Zwangshandlungen, eine Persönlichkeitsakzentuierung mit emotionalen und dramatischen Zügen sowie Migräne ohne Aura mit anamnestisch Frequenz bis 15 Tage pro Monat diagnostiziert. Er hat die Einschätzung vertreten, dass die Klägerin bei konsequenter Ausschöpfung der Behandlungsmöglichkeiten über ein mindestens drei bis sechsstündiges Leistungsvermögen, wenn nicht über ein sechsstündiges verfüge.

Unter dem 8. Januar 2022 hat M2 ergänzend dahingehend Stellung genommen, dass für den Zeitraum vor April 2019 kein Störungsbild auf neurologischem Fachgebiet vorliege. Auf psychiatrischem Fachgebiet ergäben sich weder in der Akte noch im Befund Belege für eine quantitative Leistungseinschränkung durch die vorliegende psychische Störung vor April 2019. Die im Gutachten angenommene Leistungsfähigkeit von drei bis sechs Stunden resultiere maßgeblich aus der somatoformen Schmerzstörung nach dem Bandscheibenvorfall und sei eindeutig erst ab Juni 2019 aufgetreten.

Mit Gerichtsbescheid vom 7. Februar 2023 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid vom 5. Mai 2020 (Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020) sei rechtmäßig; die Klägerin habe keinen Anspruch auf die begehrte Rente wegen Erwerbsminderung. Zum Zeitpunkt, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zuletzt vorgelegen hätten, im April 2019, sei die Klägerin weder voll noch teilweise erwerbsgemindert gewesen. Die quantitative Leistungsfähigkeit der Klägerin vor April 2019 sei weder durch orthopädische, psychiatrische noch sonstige Gesundheitsstörungen auf weniger als sechs Stunden täglich eingeschränkt gewesen. Das SG hat sich hierbei auf die Ausführungen des M2 gestützt. Aufgrund der ausführlichen Untersuchungsergebnisse und den eigenen Schilderungen der Klägerin über deren Tagesablauf stehe fest, dass vor April 2019 noch ein ausreichendes Leistungsvermögen bestanden habe um eine Tätigkeit in einem minds. sechsstündigen Umfang verrichten zu können. Dies sei auch in Ansehung der Angaben der behandelnden Ärzte nicht anzunehmen. So sei die Klägerin erst ab Oktober 2019 bei der A1 in Behandlung gewesen. Durch H1 werde sie erst seit Januar 2022 behandelt. Dies gelte auch für das bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegte Attest des F1 vom 9. April 2020, bei dem sich die Klägerin erstmals im Dezember 2019 vorgestellt habe. Der Bericht enthalte überdies keinen psychopathologischen Befund und formuliere nur allgemein, dass eine Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit nicht mehr gegeben sei. Dies überzeuge insb. deswegen nicht, weil die Klägerin trotz dessen fast durchgängig seit August 2019 an ca. 3 Tagen für ca. 3 – 4 Stunden täglich als geringfügig Beschäftigte in einer Bäckerei habe aushelfen können. Auch das Störungsbild auf neurologischem Fachgebiet habe keinen Hinweis auf ein eingeschränktes quantitatives Leistungsbild, vor allem nicht vor April 2019, ergeben. Auf orthopädischem Fachgebiet liege ebenfalls vor dem April 2019 keine quantitative Leistungseinschränkung vor. Dies folge aus dem Reha-Entlassungsbericht vom 8. Januar 2020. Dort seien keine schwerwiegenden Befunde mitgeteilt worden. Hinweise, dass sich das Befinden der Klägerin vor April 2019 anders dargestellt hätte, lägen nicht vor. Vielmehr bestätige die Aussage des behandelnden M1 vom 9. März 2021 die Einschätzung. Schließlich sei auch die Fähigkeit der Klägerin im April 2019 einen Arbeitsplatz zu erreichen nicht wesentlich beeinträchtigt gewesen.


Gegen den ihr am 8. Februar 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14. Februar 2023 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden- Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung bringt sie vor, entgegen den Ausführungen des SG sei bei ihr eine Erwerbsminderung schon zu einem Zeitpunkt eingetreten, als die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und insb. die erforderliche 3/5-Belegung erfüllt gewesen seien. Sie sei nicht mehr in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem Umfang von mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten. Die durch die bestehenden Gesundheitsstörungen bedingten Einschränkungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit seien nicht hinreichend gewürdigt worden. Die Ausführungen von M2 überzeugten nicht, insb. was die Beurteilungen hinsichtlich des Zeitraums vor April 2019 angehe. Vor allem die Beeinträchtigungen aufgrund der Kriegserlebnisse sowie eine posttraumatische Belastungsstörung seien nicht hinreichend beachtet worden. I.d.S. sei bereits in dem Bericht der R2 Klinik eine ambulante Traumatherapie bei einem Verdacht auf PTBS angeraten worden. Die Klägerin hat zur weiteren Begründung ein pflegefachliches Gutachten vom 14. Februar 2023 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 7. Februar 2023 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Mai 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 2020 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung in gesetzlichem Umfang ab dem 1. August 2019 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages verweist sie auf ihr erstinstanzliches Vorbringen sowie auf die aus ihrer Sicht zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid. Sie betont, dass die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig im April 2019 erfüllt habe. Hierzu hat sie u.a. einen Versicherungsverlauf der Klägerin vom 9. Dezember 2024 vorgelegt. Der Nachweis einer quantitativen Leistungsminderung vor April 2019 sei nicht erbracht. Weder B1 noch M2 hätten eine quantitative Leistungsminderung vor April 2019 bestätigt. Zudem habe sich die Klägerin vom 17. Dezember 2019 - 7. Januar 2020 in einer stationären Rehabilitationsmaßnahme befunden. Die Entlassung sei mit einem über 6-stündigen Leistungsvermögen erfolgt. Auch könne das übersandte Pflegegutachten eine quantitative Leistungseinschränkung nicht belegen. Die Angaben der Pflegesachverständigen basierten vornehmlich auf den Beschreibungen der Klägerin selbst, eine Plausibilitätsprüfung sei nicht erfolgt. Insb. ließen sich die dort genannten Einschränkungen nicht mit der weiterhin ausgeübten Tätigkeit als Verkäuferin in einer Bäckerei vereinbaren. Der Beklagten liege jedoch insofern die Anmeldung eine Beschäftigung im Übergangsbereich seit dem 5. Juli 2022 vor. Unabhängig hiervon gehe auch die Pflegesachverständige erst von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes ab Juni 2020, also weit nach April 2019, aus.


Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat sodann H2, nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit der Klägerin beauftragt. In ihrem psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 21. Mai 2024 hat H2 bei der Klägerin eine rezidivierend-depressive Störung, gegenwärtig in mittelgradiger Episode und Ängste, die nicht vollständig einer Panikstörung oder einer generalisierten Angststörung zuordenbar seien, diagnostiziert. Die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung erübrige sich damit. Diskutiert werden könne, ob diese Diagnose zusätzlich kodiert werden sollte. Bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung stehe ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess nicht vollständig erklärt werden könne, im Vordergrund. Dies betr. bei der Klägerin nur die Handschmerzen. Da die Klägerin in den letzten zwei Jahren einer Tätigkeit in einem Umfang von sechs Stunden pro Tag habe nachgehen können, sei davon auszugehen, dass dies auch in Zukunft möglich sein werde. Leichte körperliche Arbeiten wie die als Fachverkäuferin in einer Bäckerei könnten weiterhin verrichtet werden. Die Leistungseinschätzung bestehe seit der Begutachtung.

Die Klägerin hat sodann mitgeteilt, dass sich die Einschränkungen auch nach einem Überfall bei der Arbeit am 8. Mai 2024 erheblich verschlechtert hätten. Seither sei sie nicht mehr arbeitsfähig. Hierzu hat sie einen Bericht von N1 vom 20. Juni 2024 vorgelegt. Im weiteren Fortgang hat sie den Abschlussbericht ihrer Behandlung in der Traumaambulanz der Klinik für des Klinikums E1 vorgelegt.

Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2025 hat die Beklagte, mit solchem vom 5. März 2025 die Klägerin das Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insb. des Vorbringens der Beteiligten wird auf die (elektronisch geführten) Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind, verwiesen.



Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach dem erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (vgl. § 143 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Die Berufung führt für die Klägerin inhaltlich nicht zum Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung; der den Antrag der Klägerin ablehnende streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom
5. Mai 2020 (Widerspruchbescheid vom 9. September 2020) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeinen Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3).

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind hierbei bezogen auf den Leistungsfall, den Eintritt der Erwerbsminderung zu bestimmen. Mit dem Erfordernis, dass binnen der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein müssen (§§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI), wird gewährleistet, dass eine Berechtigung zum Bezug einer Erwerbsminderungsrente nur bei einem (fort-) bestehenden Bezug zum Erwerbsleben beansprucht werden kann. Dieser Bezug wird durch das Erfordernis der Drei-Fünftel- Belegung dem Grunde nach für zwei Jahre aufrechterhalten. Hierdurch wird sichergestellt, dass nur solche Versicherte in den Genuss einer Rente wegen Erwerbsminderung kommen, bei denen wesentlich aufgrund der krankheits- oder behinderungsbedingten Einschränkungen tatsächlich die Möglichkeit beschränkt wird, Erwerbseinkommen zu erzielen. Entscheidend ist, ob die Drei-Fünftel-Belegung zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, zu dem die betreffenden Erkrankungen das zur Erwerbsminderung führende Ausmaß an funktionellen Beeinträchtigungen hervorgerufen haben (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 10. Dezember 2003 - B 5 RJ 64/02 R -, in juris, dort Rn. 30).

Die Klägerin hat zwar die allgemeine Wartezeit für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung von fünf Jahren (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt, indes ist das Erfordernis, dass in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein müssen, nur dann erfüllt, wenn spätestens im
April 2019 bei der Klägerin Erwerbsminderung eingetreten ist.

Anhaltspunkte dafür, dass die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den entsprechend den Vorgaben des § 53 SGB VI die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist und nach § 43 Abs. 5 SGB VI eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, liegen nicht vor. Insb. ist nicht belegt, dass die Klägerin wegen eines Arbeitsunfalls im Februar 2015 (Sturz auf das Steißbein und Distorsion des oberen Sprunggelenks rechts) vermindert erwerbsfähig geworden ist (vgl. § 53 Abs. 1 Satz 1Nr. 1 SGB VI). Die diesbezüglichen Beeinträchtigungen waren (jedenfalls dauerhaft) nicht derart beeinträchtigend, als eine Erwerbsminderung hierdurch bedingt gewesen wäre.

Da schließlich auch die Ausnahmevorschrift des § 241 Abs. 2 SGB VI nicht eingreift, ist daher in Ansehung der im Versicherungsverlauf der Klägerin gespeicherten Zeiten das Erfordernis der 3/5-Belegung letztmalig bei einem Leistungsfall, dem Eintritt der Erwerbsminderung, spätestens im
April 2019 erfüllt.

Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - unabhängig von der Arbeitsmarktlage - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Hieraus folgt, dass grundsätzlich allein eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher (quantitativer) Hinsicht eine Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen vermag, hingegen der Umstand, dass bestimmte inhaltliche Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht mehr verrichtet werden können, einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung grundsätzlich nicht zu begründen vermag.

Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss hierbei im Wege des sog. Vollbeweises erfolgen. Vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R -, in juris). Wird die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung geltend gemacht, muss mithin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass das Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist; bloße Zweifel an der Erwerbsfähigkeit genügen nicht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2020 - L 5 R 3680/17 -, in juris, dort Rn. 30). Können Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Feststellungslast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 23. Oktober 1996 - 4 RA 1/96 -, in juris). Dies gilt auch für die anhand einer retrospektiven Betrachtungsweise zu beantwortende Frage
(vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. März 2023 - L 10 R 997/22 -, in juris m.w.N.), ab welchem Zeitpunkt eine quantitative Leistungsreduzierung bestand; verbleibende Zweifel am genauen Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung gehen zu Lasten des Versicherten (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 2. Mai 2022 - L 2 R 16/21 -; Hessisches LSG, Urteil vom 7. Mai 2021 - L 5 R 206/18 -; LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 23. März 2023, a.a.O., alle in juris).

In Anlegung dieser Maßstäbe ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit der Klägerin bereits im April 2019 in quantitativer Hinsicht abgesunken ist. M2 hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 8. Januar 2022 hierzu ausgeführt, dass Befunde, die eine Leistungseinschränkung vor April 2019 belegen, nicht vorliegen. Dies gelte insb. für die Kriegserlebnisse und die psychische Störung. Die von ihm in seinem Gutachten angenommene Leistungseinschränkung auf drei – sechs Stunden resultiere maßgeblich aus der somatoformen Schmerzstörung nach Bandscheibenvorfall und sei erst ab Juni 2019 aufgetreten. Diese Einschätzung ist für den Senat in Ansehung der aktenkundigen medizinischen Unterlagen schlüssig und nachvollziehbar. Die Angaben der die Klägerin diesbezüglich behandelnden Ärzte beinhalten, bedingt dadurch, dass die Klägerin dort jeweils erst nach dem April 2019 in Behandlung stand, keine psychopathologischen Befunde, die den Zustand der Klägerin im April 2019 beschreiben. Auch lassen die Angaben der behandelnden Ärzte keine Rückschlüsse auf ein eingeschränktes Leistungsvermögen vor dem jeweiligen Behandlungsbeginn zu. Der Umstand, dass sich die Klägerin erst im Oktober 2019 in fachärztliche Behandlung begeben hat, zeigt vielmehr, dass ihrerseits zuvor kein Behandlungsdruck und dem vorangehend keine maßgebliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit empfunden worden ist. Auch soweit im benannten Entlassungsbericht vom 8. Januar 2020 eine ambulante Traumatherapie wegen des Verdachts auf eine posttraumatische Belastungsstörung angeraten worden ist, bedingt dies nicht die Annahme einer rentenbegründenden Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit. Ungeachtet davon, dass sich im weiteren Fortgang der Verdacht nicht bestätigt hat, M2 hat vielmehr nach der Untersuchung der Klägerin festgestellt, dass die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht vorliegen, beinhaltet der Rehabilitationsentlassungsbericht auch keine gravierenden psychopathologischen Befunde, insofern erschöpft sich der Bericht in der Mitteilung, dass die Psyche geordnet sei und die Klägerin subdepressiv wirke.

Auch im Hinblick auf die Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet ist nicht belegt, dass diese bereits im April 2019 zu einer quantitativen Leistungseinschränkung geführt haben. Im Hinblick auf die bestehenden Erkrankungen der Wirbelsäule zeigen sowohl das Gutachten des B1 vom 22. Oktober 2019, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet und das auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 30. September 2019 fußt, als auch der Bericht über die vom 17. Dezember 2019 - 7. Januar 2020 in der R1 Klinik durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme keine derart beeinträchtigenden Befunde auf, die eine quantitative Leistungsreduzierung bedingen könnten. So hat B1 zwar ausgeführt, es bestünden mittelgradige funktionelle Einschränkungen mit anhaltenden Sensibilitätsstörungen, er hat jedoch insofern die Einschätzung vertreten, dass eine Rehabilitationsmaßnahme angezeigt sei. Nach dieser konnten bei der Klägerin nur noch mäßige Funktionseinschränkungen objektiviert werden. Vor diesem Hintergrund ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit in quantitativer Hinsicht eingeschränkt gewesen ist. Die Einschätzung der Rehabilitationseinrichtung ist insofern schlüssig. Nachdem auch der behandelnde M1 in seiner Stellungnahme für das SG vom 9. März 2021 mitgeteilt hat, dass ein Bandscheibenvorfall im Juni 2019 zu einer wesentlichen Verschlechterung im Gesundheitszustand der Klägerin geführt habe, der sich jedoch durch die operative Behandlung wieder wesentlich gebessert habe, ist eine quantitative Leistungsreduzierung infolge der Wirbelsäulenerkrankung (und der weiteren Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet) bis April 2019 nicht belegt. Dies wird auch durch die Angaben von M2 bestätigt, der hierzu ausgeführt hat,
dass sich der Bandscheibenvorfall mit großer Wahrscheinlichkeit um den 4. Juni 2019 und damit nach April 2019 ereignet habe.

Nachdem auch im Übrigen keine Befunde aktenkundig sind, die eine quantitative Leistungsreduzierung der Klägerin bereits im April 2019 belegen, ist der Senat (auch) in Zusammenschau der erhobenen Befunde auch unter Berücksichtigung der Erkrankungen auf den weiteren medizinischen Fachgebieten, nicht davon überzeugt, dass die bestehenden Gesundheitsstörungen der Klägerin bis zum April 2019 eine quantitative Leistungsreduzierung nach sich gezogen haben; die Klägerin war daher bis April 2019 weder teilweise, noch voll erwerbsgemindert.

Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer spezifischen Leistungsbehinderung im April 2019 bzw. wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu diesem Zeitpunkt eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen war, liegen nicht vor.

Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) scheidet bereits deswegen aus, weil die Klägerin nicht, wie gesetzlich gefordert, vor dem 2. Januar 1961 geboren ist.

Der Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten; die Berufung der Klägerin gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG vom
7. Februar 2023 ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet in § 193 SGG und berücksichtigt im Rahmen der anzustellenden gerichtlichen Ermessensentscheidung (vgl. BSG, Beschluss vom 25. Mai 1957 - 6 RKa 16/54 -, in juris, dort Rn. 8), dass die Klägerin auch in der Rechtsmittelinstanz mit ihrem Begehren nicht durchgedrungen ist.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.



 

Rechtskraft
Aus
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