L 20 KR 186/23

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 KR 17/23
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 KR 186/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Für die Prognoseentscheidung der Krankenkasse, ob beim Versicherten ein Zustand der erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit noch voraussichtlich 6 Monate andauern wird, bedarf es eines ärztlichen Gutachtens, in dem die erhobenen Befunde - zumindest summarisch - wiedergegeben werden und eine Äußerung zu den durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer enthalten ist.
2. Eine fehlende Ermessesausübung kann zwar grundsätzlich auch noch im Widerspruchsbescheid nachgeholt werden. Eine Nachholung zu einem Zeitpunkt, in dem die dem Versicherten gesetzte Frist zur Beantragung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bereits abgelaufen ist, ist jedoch nicht mehr möglich.

 

I. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 28.03.2023 und der Bescheid der Beklagten vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist eine Aufforderung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu beantragen.

Die 1981 geborene Klägerin bezog Arbeitslosengeld. Ab dem 25.02.2022 erkrankte sie an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2) und reichte eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB), ausgestellt von R (R), bei der Beklagten ein. Aufgrund derselben Erkrankung bescheinigte R auch für die Folgezeit eine Arbeitsunfähigkeit der Klägerin. Mit Schreiben vom 12.04.2022 bat die Beklagte R um Übersendung eines Befundberichts an den Medizinischen Dienst Bayern (MD). In einer Erklärung für den Bezug von Krankengeld vom 09.04.2022 strich die Klägerin eine Information zur Erhebung und Verarbeitung von Daten zum Zwecke der Zahlung von Krankengeld durch. Mit Bescheid vom 09.05.2022 bewilligte die Beklagte Krankengeld in Höhe von 39,62 € täglich ab dem 08.04.2022 im Anschluss an die Leistungsfortzahlung durch die Agentur für Arbeit.

Mit Schreiben vom 30.06.2022 wandte sich die Beklagte erneut an R und bat um die Übersendung der Psychotherapieverlaufsberichte an den MD. Eine Einwilligungserklärung der Klägerin liege vor. R bat hierzu die Beklagte um Überprüfung deren Behauptung, dass eine Einwilligungserklärung vorliege und bat um Übersendung einer solchen. In seinem sozialmedizinischen Kurzgutachten vom 01.09.2022 führte der MD aus, die Klägerin sei wegen einer rezidivierenden, derzeit schwer ausgeprägten depressiven Störung in regelmäßiger Psychotherapeutischer Behandlung, wobei ein wechselnder Verlauf mit geringfügiger Besserung angegeben werde. Der fachärztliche Verlaufsbericht beschreibe ausführlich die für die Erkrankung typische Symptomatik. Es müsse von einer länger andauernden Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden. Eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme sei indiziert. Hinsichtlich der Arbeitsplatzsituation bestehe seit 01.10.2021 Arbeitslosigkeit für einen unbekannten Vermittlungsumfang. Nach sozialmedizinischer Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit sei die Klägerin weiterhin arbeitsunfähig, wobei ein Ende der Arbeitsunfähigkeit derzeit nicht in Sicht sei. Mit den intensiven Therapien unter ambulanten Bedingungen habe in den vergangenen Monaten keine ausreichende Besserung der psychischen Einschränkung erreicht werden können. Es bestünden insbesondere noch eine depressive Störung mit Symptomen aus dem Bereich Stimmung, Antrieb und Konzentration sowie Einschränkungen der Durchhaltefähigkeit und Anpassungsfähigkeit. In Übereinstimmung mit der Einschätzung des Nervenarztes werde unter Berücksichtigung des langen Krankheitsverlaufes und der gesundheitlichen Gesamtsituation die Erwerbsfähigkeit als erheblich gefährdet angesehen. Die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung des § 51 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) seien erfüllt. Es sei eine stationäre Reha-Maßnahme in einer psychosomatisch ausgerichteten Klinik indiziert. Rehabilitationsziele seien die Stabilisierung des psychischen Restleistungsvermögens, Erlernen eines besseren Umgangs mit der bestehenden Symptomatik, Beratung zum Sozialrecht, Entwicklung neuer Lebens- und Berufsperspektiven. Eine positive Rehabilitationsprognose werde für eine ausreichende Sicherung eines Leistungsbildes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesehen. Im Ergebnis seien die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung erfüllt und es liege eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit vor. Sozialmedizinisch würden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation empfohlen.

Mit Bescheid vom 05.09.2022 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass nach den ihr vorliegenden ärztlichen Gutachten die Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblich gefährdet oder gemindert sei. Unter Abwägung aller Umstände komme man deshalb zu dem Ergebnis, dass die Klägerin möglichst bald einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen habe. Die entsprechende Frist ende am 17.11.2022. Weiter wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf Krankengeld ruhe, wenn nicht innerhalb der Frist von zehn Wochen ein Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben gestellt würde.

Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Der Verwaltungsakt sei ungültig. Mangels ärztlicher Schweigepflichtentbindungserklärung bzw. Vollmacht seien offenbar Daten des behandelnden Arztes unerlaubt angefragt worden. Eine Einwilligung für das Gutachten, bei dem der Gutachter nicht zu erkennen sei, sei nicht erteilt worden. Eine Anhörung fehle. Mit Schreiben vom 09.10.2022 gab die Beklagte der Klägerin noch Gelegenheit, sich zur Aufforderung einen Antrag auf Rehabilitationsleistungen zu stellen, bis 31.10.2022 zu äußern. Die dem Gutachten des MD zugrundeliegenden medizinischen Unterlagen seien vom MD direkt beim behandelnden Arzt angefordert worden, so dass eine Datenschutzverletzung durch die Beklagte nicht vorliege. Hierauf erklärte die Klägerin, eventuell erteilte Einwilligungen würden widerrufen und eine Datenweitergabe untersagt. Dies gelte auch für mündliche und schriftliche Auskünfte an Dritte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2022 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des MD hätten die Voraussetzungen für eine Aufforderung zum Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vorgelegen. Auf die Aufforderung habe auch nicht verzichtet werden können, da im Rahmen der Ermessensausübung gerade keine Interessenabwägung zugunsten der Klägerin hätte erfolgen können. So seien berechtigte Interessen, wonach der Antrag aufgrund tarifvertraglicher Vorschriften bei Feststellung zum Arbeitsplatzverlust führen würde, ein Anspruch auf eine Zusatz- oder Betriebsrente verloren ginge, eine erhebliche Verbesserung des Rentenanspruchs ausbliebe oder aber ohne Reha-/Rentenantragstellung die Wartezeit für eine Altersrente erreicht würde oder die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der KVdR durch weitere Beitragszeiten noch erfüllt werden könnten, gerade nicht ersichtlich gewesen. Auch im Widerspruchsverfahren seien keine berechtigten Interessen angezeigt worden. Der Widerspruchsvortrag habe sich auf eine fehlende Anhörung sowie angenommene Datenschutzverletzungen beschränkt. Eine Rückäußerung im Rahmen der zwischenzeitlich nachgeholten Anhörung sei nicht erfolgt.

Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Würzburg (SG) Klage erhoben. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien bereits aus formalen Gründen nichtig. Es sei im Bescheid vom 05.09.2022 nicht genannt worden, auf welche konkreten "Gutachten" dieser sich beziehe. Es werde davon ausgegangen, dass es sich um das Gutachten vom 01.09.2022 handele, das nicht unterschrieben sei und nur den Nachnamen des Gutachters angebe. Es handele sich auch nicht um ein automatisiertes Verfahren. Es sei fraglich, ob der MD überhaupt eine Beurteilung habe vornehmen dürfen. Eine ärztliche Schweigepflichtentbindungserklärung oder eine Vollmacht dürften nicht vorgelegen haben, worauf bereits der behandelnde Arzt hingewiesen habe. Der Gutachter hätte sich vergewissern müssen, ob eine entsprechende Schweigepflichtentbindung vorliege. Da das Gutachten ausschließlich auf den Daten des behandelnden Arztes beruhe, lägen Datenschutzverstöße vor. Die Beklagte habe die telefonische Mitteilung ihres Arztes festgehalten, wonach eine Reha wohl eher nicht möglich sei, da eine Maskenablehnung/-panik vorläge und die vorgeschriebenen Antigentests ein unzumutbares schmerzhaftes Verfahren darstellten, das eine Panik zur Folge habe. Dies sei im Gutachten nicht erwähnt worden und würde eher zu einer Verschlechterung ihres Zustands als zu einer Besserung führen. Die Dialoganfragen, auf denen das Gutachten beruhe, hätten sich auf eine "K L" bezogen. Die genannte Person stimme weder mit der im Verwaltungsakt vom 05.09.2022 noch mit der im Gutachten vom 01.09.2022 überein. An die aufschiebende Wirkung habe sich die Beklagte nicht gehalten. Die Interessenabwägung sei unzureichend gewesen. Gegebenenfalls spiele hier die Umsatzsteuerpflicht der Beklagten eine Rolle. Die Umstände der Maskenablehnung/-panik und der vorgeschriebene Antigentest seien bei der Begutachtung ignoriert worden.

Die Klägerin hat unter anderem einen Bericht des R für den MD vom 29.04.2022 vorgelegt. Darin ist unter anderem angegeben, dass eine stationäre/teilstationäre Krankenhausbehandlung von der Klägerin wegen Maskenpflicht abgelehnt würde. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei nicht erheblich gefährdet und auch die Erwerbsfähigkeit nicht gemindert. Ob Reha-Maßnahmen gegebenenfalls nach Abschluss der Akutbehandlung indiziert seien, sei nicht absehbar. Ab wann Arbeitsfähigkeit bestehe, sei nicht absehbar, denn Depressionen würden unterschiedlich verlaufen.

Das SG hat - nach Anhörung der Beteiligten - die Klage mit Gerichtsbescheid vom 28.03.2023 abgewiesen. Die angefochtene Entscheidung sei nach Nachholung der Anhörung formell rechtmäßig. Sie sei mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen worden, so dass Unterschrift und Namenswiedergabe fehlen könnten. Der Bescheid sei auch materiell rechtmäßig. Nach dem schlüssigen Gutachten des MD vom 01.09.2022 ergebe sich eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin. Dies habe auch R bestätigt. Die Frist sei ordnungsgemäß eingeräumt und die Klägerin über die Rechtsfolgen belehrt worden. Die Beklagte habe ihr Ermessen erkannt und Ermessensfehler seien weder ersichtlich noch vorgetragen. Erstmals im Gerichtsverfahren sei vorgebracht worden, ein Antigentest sowie das Tragen einer Maske sei für sie ein unzumutbarer schmerzhafter Eingriff, der auch Panik zur Folge habe. Nachweise hierzu habe sie nicht vorgelegt. Da die Klägerin der Aufforderung nicht nachgekommen sei, entfalle der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf des 17.11.2022. Der Vortrag der Klägerin in Bezug auf die Auflistung der Beklagten in einem internationalen Firmenverzeichnis und deren Umsatzsteuerpflicht sei unerheblich.

Dagegen hat die Klägerin Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Das SG hätte vorliegend nicht durch Gerichtsbescheid entscheiden dürfen. Dieser sei formell rechtswidrig. Der angefochtene Bescheid und das Gutachten hätte aufgrund der Ermessensentscheidung unterschrieben werden müssen. Ein Erlass mittels automatisierter Einrichtung liege nicht vor. Die Krankengeldleistung sei willkürlich rückwirkend eingestellt worden. Ihr Name sei nicht exakt wiedergegeben worden, was zwingend gewesen wäre. Auch hätten sich alle Dialoganfragen auf eine "K" bezogen, nicht auf eine "A.". Eine persönliche Begutachtung durch den MD sei nicht erfolgt, weshalb es sich nicht um ein Gutachten handeln könne. Aufgrund der alleinigen Nennung des Nachnamens des Gutachters sei dieser nicht vollständig identifizierbar. Damit ergebe sich die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes und die Rechtsunwirksamkeit des medizinischen Gutachtens. Aus den Akten ergäben sich keine medizinischen Unterlagen ihres behandelnden Arztes - mangels einer Einwilligungserklärung dürften diese dem MD nicht vorgelegen haben -, so dass auch das Gutachten nicht auf diesen Unterlagen beruhen könne. Nicht nachvollziehbar sei, dass R die Einschätzung des MD zur erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit bestätigt habe. Sie sei persönlich nicht begutachtet worden. Die Beklagte habe ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Ihre Klage- und Berufungsschriftsätze habe sie per Computerfax selbst an das Gericht verschickt. Die Unterschriften stammten von ihr.

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 28.03.2023 und den Bescheid der Beklagten vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Widerspruchsbescheid genüge den Formvorschriften. Das Gutachten des MD entspreche den Anforderungen des § 51 SGB V. Hierfür bedürfe es nicht zwangsläufig einer ambulanten Untersuchung. Aufgrund der medizinischen Unterlagen des R sei festgestellt worden, dass die Klägerin trotz monatelanger intensiver Therapien unter ambulanten Bedingungen keine ausreichende Besserung der psychischen Einschränkung erreicht habe. Es bestünde weiterhin eine depressive Störung mit verschiedenen Symptomen. Eine stationäre Reha-Maßnahme sei empfohlen worden, so dass eine erhebliche Gefährdung der Erwerbstätigkeit vom Gutachter nachvollziehbar bejaht worden sei. Da es sich bei dem Gutachten nicht um einen Verwaltungsakt handele, bedürfe es auch keiner Unterschrift. Die Ermessensausübung habe im Widerspruchsbescheid nachgeholt werden können, denn der Bescheid erhalte seine endgültige Gestalt erst in Form des Widerspruchsbescheides. Da der Behandler der Klägerin keine Unterlagen zur Weiterleitung und Beurteilung übermittelt habe, genüge das Gutachten des MD den notwendigen Anforderungen. Dem MD hätten lediglich die Dialoganfrage, die Verlaufsangaben vom 29.04.2022 bis 21.08.2022 sowie der Bericht für den MD vom 29.04.2022 vorgelegen. Das Gutachten enthalte alle medizinischen Gesichtspunkte, die die Beurteilung zulassen würden, ob eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit anzunehmen sei oder nicht. Sowohl die festgestellten Gesundheitsstörungen, die Leistungseinschränkungen und deren voraussichtliche Dauer seien dargelegt worden. Es sei eine schwer ausgeprägte depressive Störung mit verschiedenen Symptomen beschrieben worden. Diese würden zu Einschränkungen der Durchhaltefähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Klägerin führen. Danach komme der MD zu der Einschätzung, dass der lange Krankheitsverlauf und die gesundheitliche Gesamtsituation die Erwerbsfähigkeit der derzeit arbeitslosen Klägerin erheblich gefährden würden. Schließlich sei dargelegt worden, dass eine stationäre Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Klinik mit den Rehabilitationszielen Stabilisierung des psychischen Restleistungsvermögens, Erlernen eines besseren Umgangs mit der Symptomatik und der Entwicklung neuer Lebens- und Berufsperspektiven indiziert sei, um eine positive Prognose für eine ausreichende Sicherung eines Leistungsbildes für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

1. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 mit dem die Beklagte die Klägerin aufgefordert hat, bis 17.11.2022 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 51 Abs. 1 SGB V zu beantragen. Statthafte Klageart ist die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Den zunächst noch gestellten Antrag, die Beklagte zur Nach- und Weiterzahlung von Krankengeld ab dem 18.01.2023 zu verpflichten, hat die Klägerin zuletzt nicht mehr aufrechterhalten. Im Übrigen hätte es sich um eine unzulässige Klageänderung/-erweiterung iSv § 153 Abs. 1 SGG iVm § 99 Abs. 1 SGG gehandelt, denn weder lag eine Einwilligung der Beklagten noch eine Sachdienlichkeit vor. Es hätte hierzu noch weiterer Ermittlungen bedurft, denn die (Weiter-)Zahlung von Krankengeld hängt im Hinblick auf die Voraussetzungen der §§ 44 ff SGB V nicht allein von der Aufhebung des angefochtenen Bescheides ab. Einer von der Klägerin angeregten Beweiserhebung zu den der Gutachtenserstellung zugrundeliegenden Befunde war mangels Entscheidungserheblichkeit (siehe dazu unter 2.) nicht weiter nachzugehen. Die weiteren Feststellungsanträge hat die Klägerin zuletzt nicht mehr aufrechterhalten. Ihnen hätte im Übrigen ein Feststellungsinteresse gefehlt, denn eine Feststellungsklage (§ 55 SGG) ist neben der vorliegenden, zulässigen Anfechtungsklage subsidiär. Dies gilt auch für eine Nichtigkeitsfeststellungsklage iSv § 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 12.10.2016 - B 4 AS 37/15 R - juris, Rn. 23).

2. Der Senat hat keine Bedenken an der Zulässigkeit der Klage bzw. der Berufung.

Nach § 90 SGG bzw. § 151 Abs. 1 SGG ist die Klage bzw. die Berufung schriftlich zu erheben bzw. einzulegen. Nach § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG soll die Klage von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Zeitangabe unterzeichnet sein; dies gilt gem. § 153 Abs. 1 SGG entsprechend auch für das Berufungsverfahren. Regelmäßig erscheint die eigenhändige Unterschrift erforderlich, um die Erklärung zweifelsfrei zuordnen und zurechnen zu können, maßgeblich ist aber letztlich, dass sich aus dem eingereichten Schriftstück die Urheberschaft und der Wille des Klägers zur Einreichung der Klage ergibt, was auch bei der Einreichung von Fotokopien oder der Verwendung eines Faksimilestempels gewahrt wird, wenn hierdurch der Kläger eindeutig zu identifizieren ist (vgl. dazu Föllmer in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., Stand: 08.04.2025, § 90 Rn. 18 mwN).

Nach dem Vortrag der Klägerin, für deren Unrichtigkeit der Senat keinen Anhalt hat, hat sie ihre Schriftsätze jeweils selbst mit einem Computerfax an das Gericht übermittelt. Die Schriftsätze enthalten dabei - neben einer Orts- und Zeitangabe - eine eingescannte Unterschrift der Klägerin. Es ist daher die Klägerin als Erklärende aus den willentlich von ihr übermittelten Schriftsätzen eindeutig bestimmbar, weshalb sowohl die Klageerhebung als auch die Berufungseinlegung durch die elektronische Übertragung einer Textdatei mit eingescannter Unterschrift auf ein Faxgerät des Gerichts formwirksam erfolgt ist (vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 05.04.2000 - GmS-OGB 1/98 - juris, Rn. 15; BSG, Beschluss vom 17.03.2016 - B 11 AL 6/16 B -, Rn. 10, juris; Föllmer, aaO, Rn. 16).

3. Die Aufforderung gegenüber der Klägerin, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu beantragen, ist rechtswidrig erfolgt.

a) Es kann dahinstehen, ob der Bescheid vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 bereits wegen eines Anhörungsmangels (§ 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) rechtswidrig ist, weil die Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheides vom 05.09.2022 nicht angehört hat, oder ob ein etwaiger Anhörungsmangel im Hinblick auf die mit Schreiben vom 09.10.2022 der Klägerin gebotenen Gelegenheit zu Äußerung zur Antragsaufforderung durch Nachholung im Widerspruchsverfahren geheilt worden ist (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X).

b) Der Bescheid vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 ist jedenfalls materiell rechtswidrig.

Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben. Stellen Versicherte innerhalb der Frist den Antrag nicht, entfällt der Anspruch auf Krankengeld - nicht das Stammrecht, sondern der Zahlungsanspruch (vgl. Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 37 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 32/13 R - juris, Rn. 17) - mit Ablauf der Frist (§ 51 Abs. 3 S. 1 SGB V).

Die Regelung dient als Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes, wonach die Leistungen zur Teilhabe Vorrang haben vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind, in erster Linie dazu, beim Versicherten die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen (vgl. Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 38 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 31/13 R - juris Rn. 27). Es erfolgt eine gesetzliche Risikozuordnung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne eines Vor- und Nachrangs konkurrierender Leistungen, nachdem es in erster Linie Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung ist, bei dauerhafter Erwerbsminderung mit Leistungen einzutreten, und das Krankengeld nicht die Funktion hat, dauerhafte Leistungsdefizite oder eine Erwerbsminderung finanziell abzusichern (vgl. Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 38 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 31/13 R - juris Rn. 22). Aufgrund etwaiger möglicher, erheblicher wirtschaftlicher Nachteile bei den Versicherten, die mit der schon vor Erreichen der Anspruchshöchstdauer (§ 48 SGB V) eintretenden Beendigung der Krankengeldzahlung verbunden sind, sind die tatbestandlichen Anforderungen an die Möglichkeit der Krankenkasse zur Aufforderung zu einer entsprechenden Antragstellung recht hoch (zB bei der Ausübung des Ermessens) und es sind die allgemeinen Form- und Verfahrensvorschriften zu beachten (vgl. Urteil des Senats, aaO).

aa) Es liegt bereits kein ausreichendes ärztliches Gutachten iSv § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V vor, anhand dessen die Beklagte hätte feststellen können, ob die Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblich gefährdet oder gemindert war.

Zu den Anforderungen an das Vorliegen des nach § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlichen Gutachtens zur erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit hat der Senat in seiner Entscheidung vom 30.05.2017 (L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 39) folgendes ausgeführt:

"Tatbestandsvoraussetzung von § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V ist, dass eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt. Dies ist der Fall, wenn entweder der gesundheitliche Zustand des Versicherten so schlecht ist, dass mit einer dauerhaften Minderung oder dem Verlust seiner Erwerbsfähigkeit gerechnet werden muss, oder eine solche Minderung bereits eingetreten ist (siehe dazu Brinkhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 51 SGB V Rn. 13). Abzustellen ist auf die persönlichen Verhältnisse des Versicherten, also auf dessen aktuelle körperliche sowie geistige Konstitution und die daraus resultierende gesundheitliche Einschränkung seiner konkreten beruflichen Leistungsfähigkeit (Brinkhoff a.a.O.). In Abgrenzung zur Akuterkrankung liegt eine dauerhafte Minderung oder Gefährdung vor, wenn diese voraussichtlich länger als sechs Monate bestehen wird (Anlehnung an § 101 Abs. 1 SGB VI; s.a. § 30 Abs. 1 S. 3 Bundesversorgungsgesetz und § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX, wo der Gesetzgeber auch auf einen Zeitraum von 6 Monaten abstellt), unabhängig davon, wie lange sie bereits besteht (Brinkhoff a.a.O.; Noftz in Hauck/Noftz, SGB, 11/14, § 51 SGB V Rn. 12). Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Krankenkasse, den Versicherten zur Antragstellung nach § 51 SGB V auffordern will, hat sie daher eine Prognose zu treffen, ob dieser Zustand der erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit noch voraussichtlich 6 Monate andauern wird (siehe dazu auch Brinkhoff a.a.O.). Dies festzustellen, bedarf es nach § 51 Abs. 1 S. 1 SGB V eines ärztlichen Gutachtens ("nach ärztlichem Gutachten"). Dabei muss es sich um mehr als ein Attest oder eine ärztliche Bescheinigung handeln, vielmehr ist notwendig, dass die erhobenen Befunde - zumindest summarisch - wiedergegeben werden und sich der Arzt - soweit es sich um ein sozialmedizinisches Gutachten handelt - zu den nach seiner Auffassung durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer äußert (Brinkhoff a.a.O. Rn. 14; BSG Urteil vom 07.08.1991, 1/3 RK 26/90, juris Rn. 16 m.w.N.; s.a. Knorr/Krasney in Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung - Krankengeld - Mutterschaftsgeld, Stand 01/2015, § 51 SGB V Rn. 8); wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, muss es sich nicht zwangsläufig um ein Gutachten aufgrund ambulanter Untersuchung, sondern dann darf es sich auch um eine ärztliche Stellungnahme nach Aktenlage handeln (so im Ergebnis auch BSG a.a.O. und Brinkhoff a.a.O.). Der Gutachter darf sich allerdings nicht darauf beschränken, nur das Ergebnis seiner Überlegungen mitzuteilen; vielmehr muss das Gutachten aus sich heraus verständlich und für diejenigen, die Verwaltungsentscheidungen möglicherweise überprüfen, nachvollziehbar sein (BSG a.a.O. Rn. 17; Brinkhoff a.a.O.; Knorr/Krasney a.a.O.). Nur dann kann das Gutachten als Grundlage für die Verwaltungsentscheidung der Krankenkasse dienen, ob dem Erkrankten wegen erheblicher Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Frist zur Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen gesetzt werden kann; deshalb hat es alle medizinischen Gesichtspunkte zu enthalten, die die Beurteilung zulassen, ob eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit anzunehmen ist oder nicht (vgl. auch BSG a.a.O. Rn. 17)."

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe, die der Senat auch nach erneuter Prüfung seiner Entscheidung zugrunde legt, erfüllt das Sozialmedizinische Kurzgutachten des MD vom 01.09.2022 nicht die notwendigen Anforderungen.

Das Gutachten wurde vom MD vorliegend aufgrund der Aktenlage erstellt. Als medizinische Unterlagen werden dabei die Dialoganfrage und Verlaufsangaben des R vom 29.04.2022 bis 12.08.2022 sowie der Bericht des R für den MD vom 29.04.2022 benannt. Dabei fällt auf, dass im Bericht vom 29.04.2022, den die Klägerin im Klageverfahren vorgelegt hat, sowohl die Frage nach einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin als auch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit verneint werden. Hierzu lässt sich dem Kurzgutachten des MD jedoch nichts entnehmen. Vielmehr heißt es dort, dass mit der Einschätzung des Nervenarztes - hiermit dürfte der behandelnde Arzt der Klägerin gemeint sein - die Erwerbsfähigkeit als erheblich gefährdet angesehen würde. Dies wäre insoweit widersprüchlich zu dem von der Klägerin vorgelegten Bericht des R vom 29.04.2022. Konkretere Aussagen zu den durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer lassen sich dem Kurzgutachten nicht entnehmen. So heißt es dort, dass noch eine depressive Störung bestehe mit Symptomen aus den Bereichen Stimmung, Antrieb und Konzentration sowie Einschränkungen der Durchhaltefähigkeit und Anpassungsfähigkeit. Welche Leistungseinschränkungen daraus konkret für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abgeleitet worden sind, bleibt unklar, wobei im Gutachten auch die Rede von einem "unbekannten Vermittlungsumfang" ist, was zunächst Fragen nach dem Prüfungsmaßstab aufwerfen könnte; erst im Rahmen der Rehabilitationsprognose wurde ein Leistungsbild auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt benannt, für welche Dauer jedoch Einschränkungen resultieren würden, ist daraus nicht ersichtlich, denn es heißt lediglich, dass ein Ende der Arbeitsunfähigkeit derzeit nicht in Sicht sei, ohne dass etwa darauf abgestellt wurde, ob dies für einen Zeitraum von noch einigen Tagen, Wochen oder Monaten gelten soll. Auch wenn es nicht erforderlich und regelmäßig auch gar nicht möglich sein wird, die exakte Dauer einer Erkrankung zu bestimmen, so fehlt vorliegend zumindest ein etwaiger Anhaltspunkt dafür, dass die Beklagte anhand des Gutachtens eine Abgrenzung zu einer Akuterkrankung prognostisch vornehmen kann, etwa dahingehend, ob der Zustand der erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit noch voraussichtlich sechs Monate andauern wird (vgl. dazu Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 39; Rieke in Krauskopf, SGB V, 124. EL Januar 2025, § 51 Rn. 5). Konkretisieren lässt sich dies auch nicht mit der Angabe, dass mit den intensiven Therapien unter ambulanten Bedingungen - hier bleibt die Häufigkeit und der Umfang der Therapieeinheiten offen, so dass der Begriff "intensiv" nicht nachvollzogen werden kann - in der Vergangenheit keine ausreichende Besserung ergeben habe. Ob eine Steigerung der ambulanten Behandlungsfrequenz insofern die Arbeitsunfähigkeit in näherer Zukunft auch ermöglichen könnte, bleibt so offen. Bezüglich der Frage einer Rehabilitationsfähigkeit finden sich keine konkreteren Angaben, die im Hinblick auf den Verweis von R im Bericht vom 29.04.2022, dass stationäre bzw. teilstationäre Maßnahmen wegen einer Maskenpflicht von der Klägerin abgelehnt würden, nachvollziehbar wären. Soweit der MD allein darauf verweist, dass die Erwerbsfähigkeit als erheblich gefährdet anzusehen sei und die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung des § 51 Abs. 1 SGB V erfüllt seien, ergibt sich hieraus auch nicht, welchen konkreten Prüfungsmaßstab der MD angenommen hat (vgl. dazu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 02.03.2021 - L 11 KR 1388/20 - BeckRS 2021, 7794 Rn. 30, BAYERN.RECHT).

Soweit die Beklagte darauf verweist, dass in Anbetracht der Umstände, dass der Behandler der Klägerin der Beklagten keine Unterlagen zur Weiterleitung und Beurteilung übermittelt und lediglich die Dialoganfrage, die Verlaufsangaben vom 29.04.2022 bis 21.08.2022 sowie der Bericht für den MD vom 29.04.2022 vorgelegen hätte, das Gutachten des MD ausreichend sei, verfängt dies nicht. Sofern keine ausreichenden Unterlagen zur Beurteilung der maßgeblichen medizinischen Fragen vorgelegen haben sollten, wäre eine persönliche Untersuchung der Klägerin in Betracht zu ziehen gewesen.

Ein ausführlicher medizinischer Zustandsbericht mit Begründung (vgl. dazu auch Widekamp in Remmert/​Gokel, GKV-Kommentar SGB V, 68. Lieferung, 3/​2025, § 51 Rn. 4) als Grundlage für die weitgehende Entscheidung der Beklagten zur Aufforderung Leistungen der medizinischen Rehabilitation zu beantragen, liegt danach nicht vor.

bb) Der Bescheid vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 ist auch deshalb rechtswidrig, weil das Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt worden ist.

i. Der Beklagten ist in § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V ein Ermessen ("kann") eingeräumt worden. Den Entscheidungsspielraum haben die Gerichte zu achten und können nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur prüfen, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, mithin ob sie die ihr durch das Verwaltungsverfahrensrecht (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I) auferlegte Verhaltenspflicht beachtet hat, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat (vgl. Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 41 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 22.02.1995 - 4 RA 44/94 - juris Rn. 33). Es ist daher zu prüfen, ob die Krankenkasse ihrer Pflicht zur Ermessensbetätigung nachgekommen ist (falls nein: Ermessensnichtgebrauch), ob sie mit dem Ergebnis ihrer Ermessensbetätigung, d.h. mit ihrer Ermessensentscheidung, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, d.h. eine nach dem Gesetz nicht zugelassene Rechtsfolge gesetzt (Ermessensüberschreitung), und ob sie von dem Ermessen (und hier liegt der Entscheidungsfreiraum der Verwaltung) in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Abwägungsdefizit, Ermessensmissbrauch; vgl. Urteil des Senats aaO). Voll gerichtlich überprüfbar ist dabei aber, ob die Krankenkasse überhaupt Ermessen ausgeübt hat, wozu sie - ohne Ermessensspielraum - verfahrensrechtlich verpflichtet ist.

Es ist dem Bescheid vom 05.09.2022 selbst nicht zu entnehmen, dass dort tatsächlich Ermessen ausgeübt worden wäre (auch fehlt es insofern an einer hinreichenden Begründung iSv § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X), so dass ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt. Zwar verweist die Beklagte darauf, dass man unter Abwägung aller Umstände zu dem Ergebnis gekommen sei, dass möglichst bald ein Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen sei, dies beinhaltet aber allein eine pauschale, textbausteinartige Ausführung. Eine tatsächliche Ermessensbetätigung konnte schon deshalb nicht stattfinden, weil die Klägerin vor Erlass des Verwaltungsaktes nicht angehört worden ist. Bei einer - wie der vorliegenden - die Klägerin belastenden Verwaltungsentscheidung ist für die Ermessensausübung der im Rahmen einer Anhörung (§ 24 SGB X) erfolgte Vortrag von wesentlicher Bedeutung (vgl. Groth in jurisPK-SGB I, 4. Aufl., Stand: 15.06.2024, § 39 Rn. 34). Die Beklagte verweist auch im Widerspruchsbescheid vom 14.12.2022 ausführlich und umfangreich auf verschiedene Gesichtspunkte, ua im Zusammenhang mit möglichen negativen Auswirkungen einer Antragstellung auf Leistungen einer medizinischen Rehabilitation, die für eine Ermessensentscheidung von Bedeutung sein können. Weder wurde die Klägerin darauf hingewiesen, dass der Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes beabsichtigt sei noch ist ersichtlich, dass versucht worden wäre, entsprechende Umstände, die - so der zutreffende Hinweis dann im Widerspruchsbescheid - für eine Ermessensausübung von Bedeutung wären, zu ermitteln. Nachdem insofern weder Umstände ermittelt und dokumentiert wurden, noch die Klägerin hierzu befragt wurde, sind abzuwägende Umstände von denen die Beklagte im Bescheid vom 05.09.2022 spricht, nicht in Betracht gezogen worden.

Richtigerweise hat die Beklagte die notwendige Anhörung - nachdem die Klägerin ausdrücklich in ihrem Widerspruch vom 30.09.2022 darauf hingewiesen hatte - mit Schreiben vom 09.10.2022 unter Fristsetzung bis 31.10.2022 nachgeholt (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X). Eine Abwägung der grundsätzlich im Rahmen einer Aufforderung nach § 51 SGB V beachtenswerten Umstände kann im Widerspruchsbescheid vom 14.12.2022 gesehen werden, so dass die Beklagte damit ihr Ermessen - nachdem die Klägerin auch keine weiteren relevanten Umstände im Rahmen des nachgeholten Anhörungsverfahrens mitgeteilt hatte - zuletzt pflichtgemäß ausgeübt hat (zur möglichen Nachholung der Ermessensausübung bis zum Widerspruchsbescheid: BayLSG, Urteil vom 15.01.2019 - L 5 KR 244/18 - juris, Rn. 52; Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris, Rn. 42).

ii. Allerdings kommt es vorliegend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Aufforderung nach § 51 SGB V nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides an, sondern auf den Zeitpunkt, an dem die Frist zur Antragstellung abgelaufen ist, mithin den 17.11.2022.

Grundsätzlich gilt bei einer - wie der vorliegenden - reinen Anfechtungsklage als Faustformel, dass es auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides ankommt, der letztlich auch dem angefochtenen Bescheid seine maßgebliche Form verleiht (§ 95 SGG). Dahingehend ist auch der Verweis der Beklagten im Schriftsatz vom 26.02.2025 zu verstehen, wonach das Ermessen spätestens im Widerspruchsbescheid auszuüben sei. Allerdings ist der maßgebliche Zeitpunkt der Beurteilung, ob der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt und sie deshalb im Wege der Anfechtungsklage verlangen kann, dass das Gericht den Verwaltungsakt aufhebt, keine Frage des Prozessrechts, sondern dieser bestimmt sich nach dem materiellen Recht (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2018 - B 4 AS 43/17 R - juris, Rn. 16; Urteil vom 23.06.2016 - B 14 AS 4/15 R - juris, Rn. 11). Vorliegend hatte die Beklagte der Klägerin für die Antragstellung eine Frist bis zum 17.11.2022, ausgehend von der in § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Zehn-Wochen-Frist, gesetzt. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Aufforderung nach § 51 Abs. 1 SGB V muss es daher auf den Zeitpunkt des Fristablaufes ankommen, zu dem der Bescheid vom 05.09.2022 mangels pflichtgemäßer Ermessensausübung rechtswidrig gewesen ist. Derjenige, der von der Krankenkasse aufgefordert wird, Leistungen einer medizinischen Rehabilitation zu beantragen, soll prüfen können, ob er der Aufforderung zur Stellung dieses Antrages nachkommen muss oder ob er aus seiner subjektiven Sicht gute Gründe hat, der Aufforderung nicht nachzukommen und das Risiko eingeht, den Anspruch auf Auszahlung von Krankengeld zu verlieren, so dass eine bereits zeitlich überholte Fristsetzung nicht nachträglich gerechtfertigt werden kann (vgl. dazu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2024 - L 5 KR 1044/21 - juris, Rn. 30; Urteil vom 02.03.2021 - L 11 KR 1388/20 - juris, Rn. 35; Urteil vom 02.02.2021 - L 11 KR 578/20 - juris, Rn. 21; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.01.2013 - L 11 KR 592/12 B ER - juris, Rn. 27). Eine neue Zehn-Wochen-Frist hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 14.12.2022 nicht in Gang gesetzt. Sie verweist allein auf die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bis zur Bestandskraft des Widerspruchsbescheides, bis zu der auch das Krankengeld fortzuzahlen sei.

Soweit die Beklagte zur Möglichkeit der Nachholung der Ermessensentscheidung im Widerspruchsbescheid auf die Entscheidungen des BayLSG, Urteil vom 15.01.2019 - L 5 KR 244/18 - juris - und das Urteil des Senats vom 30.05.2017 - L 20 KR 545/16 - juris - verweist, ist - wie oben bereits ausgeführt - unbestritten, dass die Nachholung der Ermessensausübung noch möglich ist. Die Problematik der Nachholung nach Ablauf der im Aufforderungsbescheid gesetzten Frist ist jedoch in beiden Entscheidungen nicht explizit angesprochen worden. In der Entscheidung des 5. Senats kam es aber hierauf auch nicht an, nachdem dort auch im Widerspruchsbescheid das Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt worden war. In der Entscheidung des Senats vom 30.05.2017 war im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides die 10-Wochen-Frist noch nicht abgelaufen.

4. Nach alledem erweist sich der Bescheid vom 05.09.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2022 als rechtswidrig. Er verletzt die Klägerin in ihren Rechten, so dass er - auf die Berufung der Klägerin - zusammen mit dem Gerichtsbescheid des SG aufzuheben war.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

6. Gründe dafür, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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