1) Für die Anerkennung von Entschädigungsansprüchen nach dem Soldatenversorgungsgesetz wegen der Folgen wehrdienstlich veranlasster Impfungen sind die Regeln für die Anerkennung von Impfschäden nach dem Infektionsschutzgesetz entsprechend anzuwenden.
2) Eine chronische Hauterkrankung (Urtikaria) kann die entschädigungspflichtige Folge einer mRNA-Impfung gegen SARS-CoV-2 sein.
3) Der vom Gesetz geforderte Nachweis einer sog. Primärschädigung (Gesundheitserstschaden) kann in der Erstmanifestation der Erkrankung, die auch den Dauerschaden bildet, innerhalb eines medizinisch plausiblen Zeitintervalls nach der Impfung liegen; insofern können Primärschädigung und Schädigungsfolge zusammenfallen.
4) Als Primärschädigung kommen nicht ausschließlich solche Krankheitserscheinungen in Betracht, für die das Paul-Ehrlich-Institut ein sog. Risikosignal ermittelt hat.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.01.2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.04.2024 verurteilt, für die Zeit vom 02.06.2022 bis zum 15.06.2023 eine chronische rezidivierende Urtikaria mit Angioödem als Folge einer WDB anzuerkennen und der Klägerin ausgehend davon Entschädigungsleistungen nach dem SVG einschließlich eines Ausgleichs nach einem GdS von 30 für die Zeit vom 01.06.2022 bis zum 30.06.2023 zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
T a t b e s t a n d :
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung der Haut (Urtikaria) als Folge einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG).
Die im Jahre 1998 geborene Klägerin ist seit dem 01.07.2018 Soldatin auf Zeit der Bundeswehr. Am 10.05.2022 erhielt die Klägerin die zweite Booster-Impfung mit dem Impfstoff COMIRNATY von Biontech/Pfizer (siehe Blatt 10 der medizinischen Akte der Beklagten, Teil A); es handelte sich um eine dienstlich angeordnete und zu diesem Zeitpunkt duldungspflichtige Impfung (siehe Blatt 46 WDB-Akte).
Am 02.06.2022 stellte sich die Klägerin wegen eines plötzlich aufgetretenen Hautausschlags am ganzen Körper in der Notaufnahme der Kreisklinik B1-Stadt vor; mehrere stationäre und ambulante Behandlungen folgten (siehe Blatt 13 ff der medizinischen Akte, Teil B). Anlässlich einer stationären Behandlung im Bundeswehr-Zentralkrankenhaus Koblenz in der Zeit vom 26.07.2022 bis zum 28.07.2022 wurde die Diagnose "chronische rezidivierende Urtikaria mit Angioödem" gestellt (siehe Blatt 37 der medizinischen Akte, Teil B). Hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufs wird ergänzend auf die Aufzeichnungen der Klägerin (Blatt 6 ff Gerichtsakte) Bezug genommen. Seit der zweiten Junihälfte 2023 ist die Klägerin beschwerdefrei (siehe Blatt 8 Gerichtsakte).
Mit WDB-Blatt vom 08.09.2022 zeigte die Klägerin der Beklagten die von ihr angenommene Impfschädigung an. Gestützt auf eine versorgungsmedizinische gutachtliche Stellungnahme vom 06.11.2023 (siehe Blatt 51 ff WDB-Akte) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.01.2024 die Anerkennung von WDB-Folgen und die Gewährung von Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der angeschuldigten Impfung und dem Auftreten der Urtikaria sei nicht wahrscheinlich. Da der Hautausschlag erst 23 Tage nach der Impfung aufgetreten sei, fehle es bereits an dem erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und der allergischen Reaktion. Zudem gebe es bislang auch kein Risikosignal für eine chronische Urtikaria nach einer COVID-19-Impfung. Im Übrigen sei in zeitlicher Nähe zum erstmaligen Auftreten der Urtikaria auch eine SARS-CoV-2-Infektion dokumentiert. Den Widerspruch der Klägerin gegen diese Entscheidung wies die Beklagte mit Bescheid vom 22.04.2024 zurück. Mit der am 21.05.2024 beim Sozialgericht München (SG) eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts diverse medizinische Unterlagen beigezogen und die Fachärztin für Dermatologie und Allergologie R., M-Stadt, zur Sachverständigen ernannt. Sie ist in ihrem Gutachten vom 27.02.2025 zu der Einschätzung gelangt, die bei der Klägerin am 02.06.2022, also etwa drei Wochen nach der Booster-Impfung mit dem Impfstoff COMIRNATY erstmals aufgetretene chronische spontane Urtikaria (CSU) sei mit hoher Wahrscheinlichkeit Folge dieser Impfung. Eine solche Erkrankung entstehe polyfaktoriell; sie könne auf der Basis einer individuellen Disposition durch verschiedene Triggerfaktoren, darunter Infekte oder Impfungen, ausgelöst werden. Ohne die Impfung wäre es im Falle der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu Beschwerden gekommen. Die medizinische Fachliteratur, einschließlich einer multizentrischen Studie und Pharmakovigilanzdaten, zeige, dass insbesondere nach einer mRNA-Booster-Impfung gegen COVID-19 ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer CSU bestehe. Ein eigentlicher Primärschaden sei allerdings nicht hervorgetreten; die Klägerin habe die COVID-Impfungen selbst gut vertragen. Hinsichtlich der Feststellungen und Bewertungen der Sachverständigen im Einzelnen wird auf Blatt 64 ff der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.01.2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.04.2024 zu verurteilen, eine chronische rezidivierende Urtikaria mit Angioödem als Folge einer WDB anzuerkennen und der Klägerin ausgehend davon Entschädigungsleistungen nach dem SVG zu gewähren, einschließlich einer Verletztenrente nach einem GdS von mindestens 30 für die Zeit vom 01.06.2022 bis zum 30.06.2023.
Die Beklagte beantragt,
den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung zu vertagen (Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen R., dazu, welche Primärschädigung bei der Klägerin eingetreten ist und zu welchem Zeitpunkt sowie zur Höhe des GdS), hilfsweise die Klage abzuweisen.
Sie hat eine versorgungsmedizinische Stellungnahme vom 22.04.2025 vorgelegt; deren Inhalt ist Blatt 94 ff der Gerichtsakte zu entnehmen.
Dem Gericht lagen die Behördenakten der Beklagten bei seiner Entscheidung vor.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung der bei ihr aufgetretenen Hauterkrankung als Folge einer Impfschädigung. Der Anspruch ist allerdings zeitlich begrenzt, da ab Mitte Juni 2023 keine Schädigungsfolgen mehr feststellbar sind. Somit besteht ein Rentenanspruch der Klägerin lediglich für die Zeit bis zum 30.06.2023. Auch hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Feststellung von WDB-Folgen über den 15.06.2023 hinaus.
Nach § 85 Abs. 1 SVG (in der bis zum 31.12.2024 geltenden Fassung) erhalten Soldaten wegen der Folgen einer WDB während ihrer Dienstzeit einen Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage nach § 30 Abs. 1 und § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in der bis zum 31.12.2023 geltenden Fassung (vgl. § 108 Abs. 1 SVG). Eine WDB ist gemäß § 81 Abs. 1 SVG eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Versorgungsrechtlich relevante gesundheitliche Folgen einer solchen WDB sind gem. § 81 Abs. 6 SVG bleibende Gesundheitsstörungen, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Primärschädigung zurückzuführen sind.
Die Anerkennung von Schädigungsfolgen setzt eine dreigliedrige Kausalkette voraus: Ein mit dem Wehrdienst zusammenhängender schädigender Vorgang (1. Glied) muss zu einer primären Schädigung (= WDB) (2. Glied) geführt haben, welche wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen (= Folgen einer WDB) (3. Glied) bedingt. Die drei Glieder der Kausalkette müssen grundsätzlich im Vollbeweis, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein. Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder aus, wenn dieser jeweils mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der Sozialen Entschädigung oder der Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.
Eine potenzielle Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt. Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort "hinreichend" nur der Verdeutlichung dient. Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs. Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine vom Schutzbereich des SVG umfasste Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn nicht die anderen, nicht dem Schutzbereich des SVG unterfallenden (konkurrierenden) Ursachen - soweit sie, ebenso wie die Impfschädigung, im Vollbeweis nachgewiesen sind - gegenüber der Impfschädigung eine überragende Bedeutung haben, also die vom Schutzbereich des SVG umfasste Ursache nicht völlig in den Hintergrund drängen.
Nach diesen Grundsätzen kann hier der von der Klägerin angeschuldigte Impfvorgang rechtlich als "Wehrdienstverrichtung" im Sinne des § 81 Abs. 1 Alt. 1 SVG qualifiziert werden; er kommt somit prinzipiell als schädigendes Ereignis in Betracht (siehe Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 13.02.2025, L 6 VS 735/24, Rn. 72, in: juris); dies wird von der Beklagten vorliegend auch nicht in Abrede gestellt. Insoweit ist eine Entsprechung zum Impfschadensrecht geboten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Infektionsschutzgesetz (IfSG) - entsprechend der bereits genannten dreigliedrigen Kausalkette - müssen die schädigende Einwirkung (Schutzimpfung), der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (primären) Schädigung, also eine Impfkomplikation, und eine dauerhafte gesundheitliche Schädigung (Impfschaden) im Vollbeweis nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich sein. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge gilt der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit (a. a. O., Rn. 73). Die bloße Aufnahme (potenziell) schädigender Substanzen in den Körper reicht - für sich genommen - für die Annahme einer Primärschädigung grundsätzlich nicht aus, vielmehr ist es notwendig, dass diese Einwirkung über zunächst rein innerkörperliche Reaktionen (im Sinne normabweichender physiologischer oder biologischer Prozesse) oder Strukturveränderungen hinaus zu (irgend) einer Funktionsstörung führt. Die ungewöhnliche Impfreaktion muss alsbald nach einer Impfung mit Sicherheit aufgetreten sein; es muss sich um eine gesundheitliche Schädigung bestimmter Art handeln. Falls eine solche Primärschädigung nicht erwiesen ist, erübrigt es sich, einen ursächlichen Zusammenhang mit dem letzten Glied der Ursachenkette zu prüfen (a. a. O., Rn. 85).
Auch der Unfallbegriff des § 81 Abs. 1 Alt. 2 SVG ist hier erfüllt. Dieser schließt grundsätzlich Impfungen ein, auch wenn ihre Inanspruchnahme ein vom Willen der Geschädigten getragener und gesteuerter Vorgang ist. Dabei besteht die erforderliche Primärschädigung nicht bereits in der Verletzung im Bereich einer Injektionsstelle, in der bloßen Zufuhr des Impfstoffs oder in einer üblichen Impfreaktion, sondern liegt erst in einer Schädigung des Organismus, die über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgeht (vgl. zum Recht der gesetzlichen Unfallversicherung: BSG, Urteil vom 27.06.2024, B 2 U 3/22 R, Rn. 10 ff, in: juris).
Der Anspruch der Klägerin scheitert im vorliegenden Fall entgegen der Ansicht der Beklagten nicht am fehlenden Nachweis einer Primärschädigung. Vielmehr ist diese hier nachgewiesen, in Form der Erstmanifestation der bei der Klägerin aufgetretenen Hauterkrankung am 02.06.2022, etwas mehr als drei Wochen nach der angeschuldigten Impfung.
Die Primärschädigung ist, wie oben bereits dargelegt, eine Gesundheitsstörung, die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft durch eine bestimmte Impfung hervorgerufen werden kann und - innerhalb eines entsprechenden zeitlichen Rahmens - als erste auftritt. Sie muss als solche nachweisbar sei, hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs mit der Impfung genügt, wie bereits dargelegt, die Wahrscheinlichkeit, das heißt, nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung muss (deutlich) mehr für als gegen einen Zusammenhang sprechen (siehe auch Teil C, Nr. 2.3, 3 der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung).
Dem Nachweis einer Primärschädigung steht im vorliegenden Fall zunächst nicht entgegen, dass die gerichtlich bestellte ärztliche Sachverständige in ihrem Gutachten vom 27.02.2025 das Auftreten eines - von dem von ihr beschriebenen Dauerschaden klar zu unterscheidenden - Gesundheitserstschadens verneint hat. Denn das eingeholte Sachverständigengutachten ist für das Gericht nur relevant in Bezug auf die darin vermittelte medizinische Sachkunde und nicht im Hinblick auf die von der Gutachterin gezogenen sonstigen Folgerungen, soweit diese nicht-medizinischer Art sind. Das Gericht muss insbesondere nicht die von der Sachverständigen vorgenommene rechtliche Bewertung eines medizinischen Sachverhalts übernehmen. Bei der Feststellung des Vorliegens einer sog. Primärschädigung handelt es sich um einen Vorgang an der Schnittstelle zwischen Medizin und Recht. Hierzu hat die Sachverständige dem Gericht die erforderlichen medizinisch-naturwissenschaftlichen Tatsachen und Schlussfolgerungen geliefert; die daraus abzuleitende rechtliche Einordnung ist jedoch die Sache des Gerichts.
Das Gericht teilt auch nicht die Auffassung der Beklagten, wonach es sich bei der nachzuweisenden Primärschädigung immer um ein von dem gesundheitlichen Dauerschaden klar abzugrenzendes Geschehen handeln muss. Vielmehr dient das gesetzliche Erfordernis des Nachweises einer Primärschädigung in erster Linie dazu, einen zeitlichen Bezug zu dem potenziell schädigenden Ereignis herstellen zu können, aufgrund dessen - nach dem jeweiligen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand - auch ein ursächlicher Zusammenhang plausibel gemacht und ggf. mit der vom Gesetz geforderten Wahrscheinlichkeit hergestellt werden kann. Infolge von Impfungen gegen COVID-19 kann es nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand vor allem zu Entzündungen, Gefäßverschlüssen und/oder überschießenden bzw. Auto-Immunreaktionen kommen. Diese treten nicht selten - wie auch hier - in Form der Erstmanifestation des sich daraus entwickelnden dauerhaften Gesundheitsschadens zutage, ohne dass es zuvor zu einer davon eindeutig zu unterscheidenden akuten Impfreaktion kommt. Sie treten in der Regel zeitlich versetzt zur Impfung auf, weil das Immunsystem eine gewisse Zeit braucht, um auf die Impfung zu reagieren. Führt die durch die Impfung hervorgerufene Immunreaktion zu einer Schädigung innerhalb des Körpers, oder trägt sie zu einer solchen bei, so zeigt sich diese Schädigung nicht selten erst durch das Auftreten der ersten Symptome der dadurch hervorgerufenen Erkrankung, zum Beispiel eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS), in einem nach den Erkenntnissen der Medizin plausiblen zeitlichen Zusammenhang zu der angeschuldigten Impfung (siehe z. B. SG M-Stadt, Urteil vom 12.03.2025, S 48 VJ 48/23, in: juris).
Somit kann aber in diesen Fällen die Anerkennung und Entschädigung eines Impfschadens nicht unter Verweis auf den fehlenden Nachweis einer Primärschädigung abgelehnt werden. Dies gilt erst recht in Anbetracht der Tatsache, dass nur der Umstand der Schädigung, nicht aber die genaue medizinische Diagnose der erlittenen Primärschädigung des Vollbeweises bedarf (siehe BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, Rn. 19). Im Übrigen ist in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass der Primärschaden (Gesundheitserstschaden) und die Schädigungsfolge zusammenfallen können, nämlich insbesondere dann, wenn die Primärschädigung zugleich auch die Schädigungsfolge, also den (vorläufigen) gesundheitlichen Endzustand (sollte er nicht durch weitere Behandlung zu bessern sein), darstellt. Das gilt z. B. auch dann, wenn infolge der Schädigung unmittelbar der Tod eintritt (siehe Knickrehm in: LPK-SGB XIV, 2. Aufl. 2024, § 1 SGB XIV, Rn. 13; vgl. auch BSG, a. a. O.; in eine andere Richtung tendierend, aber wohl in Form eines obiter dictum: Bayerisches LSG, Urteil vom 31.01.2025, L 15 VJ 5/16, S. 30, 31).
Im Falle der Klägerin ist eine solche Primärschädigung zeitnah zur angeschuldigten Impfung aufgetreten, in Form der Erstmanifestation der chronischen Hauterkrankung (Urtikaria). Auslöser einer Urtikaria sind meist immunologische Prozesse, die zu einer Freisetzung von Histamin - eines Botenstoffs, der an der Entzündungsreaktion, der Immunantwort und der Regulation des Blutdrucks beteiligt ist - aus den Mastzellen führen. Dies führt zu einer erhöhten Permeabilität (Durchlässigkeit) der Blutgefäße der Haut und Ödembildung in der Lederhaut (Dermis). Dadurch bilden sich die für die Urtikaria typischen Quaddeln (siehe auch: www.gelbe-liste.de/krankheiten/urtikaria). Dieser Vorgang hat sich wahrscheinlich infolge der Impfung im Körper der Klägerin abgespielt, sodass die Erstmanifestation der Urtikaria als (Folge einer) Impfschädigung betrachtet werden muss. Die Kammer stützt sich insoweit auf die schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen und Bewertungen der gerichtlich bestellten ärztlichen Sachverständigen R. aus ihrem Gutachten vom 27.02.2025.
Danach war die bei der Klägerin aufgetretene chronische Urtikaria nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand mit hoher Wahrscheinlichkeit Folge der dienstlich veranlassten Impfung vom 10.05.2022. Zahlreiche aktuelle Studien, darunter eine multizentrische Studie mit hoher Evidenz, haben gezeigt, dass es ein deutlich erhöhtes statistisches Risiko für das Auftreten von Hypersensitivitätserkrankungen nach COVID-19-Impfungen gibt. Die Sachverständige hat auch - im Einklang mit den aktuellen Erkenntnissen der Wissenschaft - die mögliche Pathogenese einer chronischen Urtikaria aufgrund der Einflüsse einer mRNA-Impfung gegen SARS-CoV-2 beschrieben; insoweit wird auf Seite 15 des Gutachtens Bezug genommen. Die Erkrankung der Klägerin ist innerhalb der zu erwartenden Latenzzeit (von vier Tagen bis zu drei Monaten; bei einem mittleren Zeitintervall von 11 Tagen) aufgetreten. Andere potenzielle Ursachen für die Krankheitsentstehung sind nicht zu erkennen; insbesondere ist ein Zusammenhang mit dem der Klägerin zuvor verabreichten Arzneimittel Botulinumtoxin medizinisch nicht plausibel. Zu einer SARS-CoV-2-Infektion der Klägerin kam es erst deutlich nach dem erstmaligen Auftreten der Urtikaria, sodass ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich ist. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum einen Atemwegsinfekt durchgemacht hat. Die Kammer teilt nach alledem die Einschätzung der Sachverständigen, dass im vorliegenden Fall ein ursächlicher Zusammenhang der chronischen Urtikaria mit der Impfung wahrscheinlicher ist als die daneben auch bestehende Möglichkeit, dass sich die Urtikaria zufällig in einem engen zeitlichen Bezug zur Impfung aufgrund unbekannter anderer Ursachenfaktoren entwickelt hat.
Dagegen kann seitens der Beklagten nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass die Impfung die Urtikaria nur "getriggert" und nicht (in rechtlich wesentlicher Weise) verursacht habe, weil die Urtikaria (aufgrund der bei der Klägerin bestehenden Schadensanlage) "auch zu jedem anderen Zeitpunkt und ausgelöst durch jeden anderen Trigger hätte in Erscheinung treten können" (siehe versorgungsärztliche Stellungnahme vom 22.04.2025, Seite 7).
Richtig ist, dass für die Entstehung einer solchen Hypersensitivitätserkrankung eine individuelle Prädisposition, z. B. in Form genetischer Faktoren oder bestehender Autoimmunerkrankungen, eine wesentliche Rolle spielt (siehe Gutachten vom 27.02.2025, Seite 15). Eine chronische Urtikaria entsteht also auf dem Boden einer (häufig genetischen) Prädisposition, bei der es sich, rechtlich gesehen, um eine sog. Schadensanlage handelt. Es bedarf jedoch des Hinzutretens eines weiteren Umstandes, des sog. Triggers, um den Ausbruch der Erkrankung auszulösen. Bei einem solchen "Trigger" handelt es sich aber somit, nach den Regeln des Sozialen Entschädigungsrechts, um einen Ursachenfaktor im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, weil ohne sein Hinzutreten die bestimmte Erkrankung jedenfalls zu diesem konkreten Zeitpunkt nicht eingetreten wäre. Die Bezeichnung mit einem suggestiven Begriff wie "Trigger" (oder "Auslöser") vermag daran nichts zu ändern (siehe dazu bereits: BSG, Urteil vom 16.10.1974, 10 Rv 531/73, zur sog. "ruhenden Anlage").
In diesem Zusammenhang ist zum einen zu beachten, dass nach dem Schutzzweck der Sozialen Entschädigung, ebenso wie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, jede(r) Geschädigte grundsätzlich in dem Zustand geschützt ist, in dem sie/er sich zum Zeitpunkt der Schädigung befunden hat, mag dieser auch mit einem (gegenüber dem Durchschnitt) erhöhten Risiko für den Eintritt einer Erkrankung verbunden sein (siehe dazu bereits BSG, Urteil vom 27.10.1987, 2 RU 35/87; vgl. auch: SG D-Stadt, Urteil vom 07.08.2024, S 48 VJ 8/22, Rn. 23, in: juris). Zum anderen ist eine (in ihren tatsächlichen Grundlagen nachgewiesene) Krankheitsursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, wenn, wie hier, abgesehen von einer mutmaßlichen genetischen Prädisposition als Schadensanlage keine konkurrierenden Ursachen festgestellt werden können, in der Regel auch als rechtlich wesentliche Ursache zu betrachten. Etwas anderes gilt nach den allgemeinen Kausalitätsgrundsätzen des Sozialrechts nur dann, wenn hinreichend sicher nachgewiesen werden kann, dass die zum Zeitpunkt der Schädigung bestehende Schadensanlage so stark ausgeprägt oder so leicht ansprechbar war, dass sich auch ohne die konkrete Schädigung durch die Impfung wahrscheinlich etwa zur gleichen Zeit ein nach Art und Ausmaß im Wesentlichen identisches Krankheitsbild entwickelt hätte (nicht: sich hätte entwickeln können). Dies anzunehmen, erscheint im vorliegenden Fall, ausgehend von den Feststellungen und Bewertungen der gerichtlich bestellten ärztlichen Sachverständigen, spekulativ. Im Gegenteil betont R. in ihrem Gutachten ausdrücklich, dass die Impfung mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Urtikaria zu diesem konkreten Zeitpunkt verantwortlich war. Auch der besonders schwerwiegende und hartnäckige Verlauf der Erkrankung spricht aus der Sicht des Gerichts gegen eine Austauschbarkeit des hier wirksam gewordenen "Triggers".
Schließlich steht einer Anerkennung der Urtikaria als Folge einer Impfschädigung nicht entgegen, dass das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) insoweit bislang noch kein "Risikosignal" hat feststellen können.
Die Beklagte hat hierzu in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 21.05.2025 die Auffassung vertreten, dass grundsätzlich nur solche gesundheitlichen Schädigungen als Primärschädigung infolge einer Impfung gegen COVID-19 anerkannt werden könnten, für die das PEI ein "Risikosignal" ermittelt hat. Es handelt sich dabei insbesondere um Herzmuskelentzündungen (Myokarditis), bestimmte Thrombosen (in Kombination mit einer Thrombozytopenie), das GBS und anaphylaktische Reaktionen. Dieser Ansicht kann sich die Kammer nicht anschließen.
Nach der Definition des PEI sind Sicherheits- bzw. Risikosignale neue Informationen, die die Sicherheit eines zugelassenen Arzneimittelprodukts betreffen, zum Beispiel bisher unbekannte unerwünschte Ereignisse nach der Gabe eines Arzneimittels oder neue Aspekte bereits bekannter Ereignisse, die weitere Untersuchungen erfordern. Diese Signale werden aus verschiedenen Quellen generiert, vor allem aus der Analyse von spontanen Verdachtsfallmeldungen von Nebenwirkungen, aber auch aus klinischen Prüfungen oder aus der wissenschaftlichen Literatur (siehe dazu www.pei.de/DE/service/glossar/Functions/glossar.html?cms_lv3=483256&cms_lv2=168184). Die Feststellung eines Risikosignals ist also ein möglicher Hinweis auf die potenziell schädigende Wirkung eines Arzneimittels (bzw. hier: einer Impfung) in einem statistisch signifikanten Umfang. Umgekehrt bedeutet aber das Fehlen eines Risikosignals (bzw. der Umstand, dass das PEI bislang kein solches hat feststellen können) nicht, dass in jedem Einzelfall eine Schädigung durch eine Impfung ausscheidet, weil die betreffende Erkrankung nicht - mit der vom Gesetz geforderten Wahrscheinlichkeit - durch die Impfung in rechtlich wesentlicher Weise (mit) verursacht worden sein kann.
Dies gilt ganz besonders für seltene Erkrankungen, die mit einer solchen Methode bereits aufgrund der geringen Fallzahl nicht erfasst werden können. Es ist aber aus der Sicht des Gerichts generell davon auszugehen, dass die Vorgehensweise des PEI, die in beträchtlichem Umfang auf der (statistischen) Auswertung nicht standardisierter ("spontaner") ärztlicher Verdachtsmeldungen beruht (vgl. dazu www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/arzneimittelsicherheit.html) - und somit keine umfassende und systematische wissenschaftliche Erforschung potenzieller Impfschäden darstellt - keinen abgeschlossenen Katalog möglicher Impfkomplikationen bieten kann und die Behörden und Gerichte somit nicht von weitergehenden Ermittlungen zur Kausalität im Einzelfall entbindet (vgl. dazu auch: SG M-Stadt, Urteil vom 30.01.2025, S 15 VJ 24/24, in: juris). Dies nimmt im Übrigen das PEI, soweit für die Kammer ersichtlich, auch nicht für sich in Anspruch.
Im vorliegenden Fall hat sich die gerichtlich beauftragte Sachverständige für ihre Einschätzung zur Kausalität auf zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisquellen gestützt, die im Gutachten einzeln aufgeführt sind und zusätzlich - im Einklang mit dem aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft - Ausführungen zur wahrscheinlichen Pathogenese der Erkrankung gemacht. Die Kammer schließt sich dem nach eigener Prüfung an.
Die Klägerin hat nach alledem für den im Tenor genannten Zeitraum (dem Grunde nach) Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem SVG, einschließlich eines Ausgleichs nach einem GdS von 30. Zwar ist die Erkrankung abgeheilt, sie hat jedoch für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten bestanden (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG) und kann somit Grundlage für einen Anspruch auf Entschädigung sein.
Der GdS betrug nach den Vorgaben in Nr. 17.1 und 17.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze 30, weil die Erkrankung einen schweren und hartnäckigen Verlauf mit Ausschlag und Schwellungen (Ödemen) am ganzen Körper, einschließlich des Gesichts, genommen hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG); das Klageverfahren ist gerichtskostenfrei (§ 183 SGG).