S 15 AY 1361/25 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Heilbronn (BWB)
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 15 AY 1361/25 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1.) Ein Empfänger von Grundleistungen nach dem AsylbLG hat nach § 6 Abs 1 S 1 AsylbLG einen Anspruch auf Übernahme von Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung im Rahmen der sogenannten obligatorischen Anschlussversicherung. 2.) Die Übernahme der Versicherungsbeiträge ist zur Sicherung des Lebensunterhalts unerlässlich.

 

Gericht:

Sozialgericht Heilbronn

 

Datum:

23.06.2025

 

Aktenzeichen:

S 15 AY 1361/25 ER

 

Entscheidungsart:

Beschluss

 

 

 

 

 

 

Normenkette:

§ 6 Abs 1 AsylbLG; 188 Abs 4 SGB V; § 20 Abs 3 SGB XI

 

 

Titelzeile:

Anspruch eines Empfängers von Grundleistungen nach dem AsylbLG auf Übernahme von Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung im Rahmen der sogenannten obligatorischen Anschlussversicherung

 

Leitsatz:

1.) Ein Empfänger von Grundleistungen nach dem AsylbLG hat nach § 6 Abs 1 S 1 AsylbLG einen Anspruch auf Übernahme von Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung im Rahmen der sogenannten obligatorischen Anschlussversicherung.

2.) Die Übernahme der Versicherungsbeiträge ist zur Sicherung des Lebensunterhalts unerlässlich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tenor:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig ab 02.06.2025 Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 252,17 € gemäß Bescheid der AOK Baden-Württemberg vom 25.03.2025 für den Antragsteller zu übernehmen.

 

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

 

 

 

Gründe

 

I.

 

Der Antragsteller begehrt die Übernahme von Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung im Rahmen der sog. obligatorischen Anschlussversicherung.

 

Der 1995 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und Inhaber einer bis 21.08.2025 befristeten Aufenthaltsgestattung. Er bezieht mit seiner 2000 geborenen Ehefrau und seinen beiden 2022 und 2024 geborenen Kindern vom Antragsgegner Grundleistungen nach den §§ 3 ff. Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller zuletzt mit Bescheid vom 17.03.2025 einen persönlichen Bedarf i.H.v. 220 € und einen notwendigen persönlichen Bedarf i.H.v. 177 €.

 

Der Antragsteller übte vom 01.10.2024 bis 21.02.2025 ein befristetes sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis als Helfer in der Lagerwirtschaft aus, in dessen Rahmen er bei der AOK Baden-Württemberg gesetzlich kranken- und sozial pflegeversichert war. Mit Beitragsbescheid vom 25.03.2025 machte die AOK Baden-Württemberg gegenüber dem Antragsteller ab 22.02.2025 monatliche Beiträge zur Krankenversicherung i.H.v. 207,23 € und zur Pflegeversicherung i.H.v. 44,94 € (Gesamtbeitrag pro Monat: 252,17 €) für eine freiwillige Mitgliedschaft des Antragstellers im Rahmen der obligatorischen Anschlussversicherung geltend. Mit E-Mail vom 09.04.2025 beantragte eine Flüchtlingssozialarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes für den Antragsteller die Übernahme der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge durch den Antragsgegner. Eine Entscheidung über die Beitragsübernahme seitens des Antragsgegners ist bislang nicht erfolgt.

 

Am 02.06.2025 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Heilbronn (SG) gestellt, zu dessen Begründung er vorträgt, es bestehe dringender Eilbedarf, da eine Einstellung der Zahlungen zur Krankenversicherung eine Beendigung der Mitgliedschaft oder eine Ruhendstellung mit erheblichen Risiken für die gesundheitliche Versorgung zur Folge haben könne. Darüber hinaus drohten Schulden gegenüber der Krankenkasse sowie Mahn- und Vollstreckungskosten. Dies begründe eine unzumutbare und existenzbedrohende Lage.

 

Der Antragsteller beantragt sinngemäß gefasst,

 

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 252,17 € gemäß Bescheid der AOK Baden-Württemberg vom 25.03.2025 für den Antragsteller zu übernehmen.

 

Der Antragsgegner beantragt,

 

den Antrag abzulehnen.

 

Er vertritt die Auffassung, der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz sei unzulässig, da der Antragsgegner bislang noch keinen Ablehnungsbescheid erlassen habe. Zudem seien gemäß Erlass des Ministeriums der Justiz und für Migration Baden-Württemberg vom 26.08.2024 die Beiträge zur obligatorischen Anschlussversicherung nicht nach § 6 AsylbLG übernahmefähig. Die Übernahme der Versicherungsbeiträge sei weder zur Sicherung des Lebensunterhalts noch zur Sicherung der Gesundheit im Sinne von § 6 AsylbLG unerlässlich. Vielmehr würden alle zur Sicherung der Existenz und der Gesundheit erforderlichen Leistungen nach §§ 4 und 6 AsylbLG erbracht.

 

Die AOK Baden-Württemberg hat auf Nachfrage des Gerichts unter dem 12.06.2025 mitgeteilt, es könne nicht von einer Erhebung der Beiträge nach § 6 Abs. 1 Beitragserhebungsgrundsätze abgesehen werden. Es seien zum Stand 12.06.2025 Beitragsforderungen i.H.v. 640,50 € offen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die vom Antragsgegner vorgelegte Verwaltungsakte sowie auf die Prozessakte verwiesen.

 

 

 

 

 

II.

 

Der Antrag ist zulässig und begründet.

 

Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Der Antragsteller begehrt die Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, nämlich die Übernahme von Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung im Rahmen der sogenannten obligatorischen Anschlussversicherung. Dieses Ziel kann er in der Hauptsache nur durch eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erreichen. Damit ist eine Regelungsanordnung statthaft. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist der Antrag nicht schon deswegen unzulässig, weil noch kein Ablehnungsbescheid ergangen ist. Der Antragsteller hat ein Rechtsschutzbedürfnis, insbesondere hat er sich mit seinem Begehren bereits am 09.04.2025 an den Antragsgegner gewandt.

 

Der Antrag ist auch begründet.

 

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zum Einen das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Dieser bezieht sich auf den materiellen Anspruch, für den der vorläufige Rechtsschutz begehrt wird und ist gegeben, wenn bei der im Verfahren nach § 86b Abs. 2 SGG gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 27 ff.). Weitere Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Dieser liegt vor, wenn die erstrebte vorläufige Regelung besonders dringlich ist, wenn es also dem Antragsteller nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten (Keller a.a.O. Rn. 27a.). Die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

 

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch, als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

 

Ein Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG können Asylbewerbern sonstige Leistungen insbesondere auch dann gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Diese sonstigen Leistungen sind nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistung zu gewähren. § 6 AsylbLG ist eine Öffnungsklausel, um im Einzelfall das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum sicherzustellen, dem andernfalls nicht ausreichend Rechnung getragen werden könnte, da das Gesetz überwiegend pauschalierte Leistungen vorsieht. Die Vorschrift ermöglicht eine von den §§ 3, 3a, 4 AsylbLG abweichende Leistungsgewährung bei besonderen (atypischen) Bedarfslagen, um den unterschiedlichen Lebenssachverhalten und der nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gebotenen Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Einzelfall gerecht zu werden. Da das soziokulturelle Existenzminimum abzudecken ist, handelt es sich bei den in Abs. 1 Satz 1 genannten Bedarfszwecken nicht um eine abschließende Regelung (Frerichs, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Auflage, Stand 23.12.2024, § 6 AsylbLG, Rn. 21).

 

Vorliegend ist die Übernahme der Beiträge zur obligatorischen Anschlussversicherung durch den Antragsgegner zwar nicht zur Sicherung der Gesundheit, jedoch zur Sicherung des Lebensunterhalts des Antragstellers unerlässlich. Mit dem Begriff „unerlässlich“ beschränkt das Gesetz Leistungen auf solche, die zur Sicherung des Lebensunterhaltes unverzichtbar sind. Das ist der Fall, wenn unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles und unter Einbeziehung grundrechtlicher Belange das Existenzminimum unterschritten würde oder die konkrete Gefahr seiner Unterschreitung bestünde (BeckOK MigR/Decker, 20. Ed. 1.1.2025, AsylbLG § 6 Rn. 9, beck-online). Dies ist hier der Fall. Der Antragsteller ist nach § 188 Abs. 4 SGB V bzw. § 20 Abs. 3 SGB XI verpflichtet, gemäß Bescheid der AOK Baden-Württemberg vom 25.03.2025 Beiträge zur gesetzlichen Kranken- bzw. sozialen Pflegeversicherung i.H.v. monatlich insgesamt 252,17 € zu bezahlen. Der Antragsteller hat keine Möglichkeit, dieser Verpflichtung zur Zahlung der Beiträge zu entgehen. Zwar hat der Gesetzgeber im Rahmen des AsylbLG keine Krankenversicherungspflicht vorgesehen, sondern den insoweit bestehenden Bedarf an Gesundheitsleistungen über §§ 4 und 6 AsylbLG gewährt (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes betreffend die Gestaltung des Regelsatz betreffend § 3 (Gesundheitspflege), BT-Drs 18/2592, Seite 24). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 10.03.2022 - B 1 KR 30/20 R -; juris) sind diese Leistungen aber nicht mit einer Absicherung im Krankheitsfall nach § 188 Abs. 4 Satz 2 SGB V gleichzustellen, weswegen die obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB V nach dem Ende einer versicherungspflichtigen Beschäftigung eintritt. Die AOK ist laut Auskunft vom 12.06.2025 auch nicht bereit, im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation des Antragstellers von der Erhebung der Beiträge abzusehen. Würde der Antragsteller die Beiträge in Höhe von monatlich 252,17 € entrichten, so würden ihm angesichts des aktuell vom Antragsgegner gewährten persönlichen Bedarfs i.H.v. 220 € und des notwendigen persönlichen Bedarfs i.H.v. 177 € lediglich 144,83 € pro Monat zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbleiben. Dieser Geldbetrag reicht offensichtlich nicht, den Lebensunterhalt des Antragstellers zu decken, da bereits die Kosten für Lebensmittel über diesem Betrag liegen dürften. Damit ist die Übernahme der streitgegenständlichen Beiträge durch den Antragsgegner zur Sicherung des Lebensunterhalts des Antragstellers nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG unerlässlich und der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Beiträge als sonstige Leistung zu gewähren. Hiervon geht im Übrigen auch der Gesetzgeber aus, denn in o.g. Gesetzesentwurf (BT-Drs 18/2592, Seite 24) führt er aus: "Für die Leistungsberechtigten nach § 3, die gleichwohl gesetzlich krankenversichert sind, erfolgt eine ergänzende Bedarfsdeckung über den § 6." (siehe dazu ausführlich SG Karlsruhe, Beschluss vom 31.03.2025 - S 12 AY 706/25 ER -; juris Rn. 74 und 75).

 

Damit hat der Antragsgegner die Beiträge des Antragstellers gemäß Bescheid der AOK Baden-Württemberg vom 25.03.2025 zu übernehmen. Angesichts der oben dargestellten Umstände und der Gesetzesbegründung ist das Ermessen des Antragsgegners auf Null reduziert. Die Leistungen sind vorliegend in Geld zu erbringen, da Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nicht im Wege der Sachleistung erbracht werden können, mithin besondere Umstände i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG vorliegen.

 

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit glaubhaft gemacht. Wenn der Antragsteller die Beiträge rechtstreu bezahlt, kann er mit dem ihm monatlich verbleibenden Betrag i.H.v. 144,83 € offensichtlich seinen Lebensbedarf nicht mehr decken. Zwar führt nicht jede Unterdeckung eines Bedarfs zu einer Existenzbedrohung. Daher ist innerhalb der existenzsichernden Leistungen eine Binnendifferenzierung zwischen den Leistungen für das physische Existenzminimum und den Leistungen zur Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben vorzunehmen und ein Anordnungsgrund regelmäßig erst gegeben, wenn um einen Betrag von mehr als 25 Prozent des jeweils maßgebenden Regelsatzes gestritten wird (SG Berlin, Beschluss vom 18.12.2017 - S 145 SO 1717/17 ER- , juris Rn. 12). Diese Grenze ist in Anbetracht der monatlichen Höhe der streitgegenständlichen Beiträge von 252,17 € in Relation zu den für den Antragsteller 2025 gültigen monatlichen Regelbedarfssätze (220 € notwendiger Bedarf und 177 € notwendiger persönlicher Bedarf; Regelbedarfsstufe 2) fraglos überschritten und ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit wegen einer offensichtlichen Unterdeckung des Existenzminimums glaubhaft gemacht.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

 

 

 

 

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