L 5 KR 885/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 7 KR 612/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 885/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 08.02.24 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Versorgung mit Medizinal-Cannabis sowie die Kostenerstattung für in der Vergangenheit selbst beschaffte Cannabisprodukte als Arzneimittel zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Der 1972 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Er leidet an ADHS sowie an depressiven Episoden

Der Kläger beantragte am 06.08.2021 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Verordnung von Cannabisblüten unter Vorlage eines Rezepts des Arztes
J1 vom 04.08.2021 über „THC privat“ in Form von Bediol, Bedrobinol für 10 Tage ab Ausstellungsdatum wegen chronischer Schmerzen. Zugleich ging ein Arztfragebogen zu Cannabinoiden der Praxis J1 ein, wonach Cannabis zur Behandlung von ADHS auf Empfehlung der Neurologen und Psychiater erfolge. Behandlungsziel sei es, die Arbeitsfähigkeit des Klägers zu erhalten. Die Erkrankung sei schwerwiegend. Gleichzeitig bestünden ein Restless-legs-Syndrom sowie tachykarde Herzrhythmusstörungen. Alle Standardtherapien seien mit nur mäßigem Erfolg ausprobiert worden. Die Medikation mit Medikinet sei nach Nebenwirkungen wieder abgesetzt worden. Literatur, aus der hervorgehe, dass durch die beabsichtigte Therapie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehe, sei nicht bekannt. Dem Arztfragebogen war ein Befundbericht des S1 vom 24.07.2021 (Diagnosen: mittelgradige depressive Episode, ADHS; Anamnese: sehr unruhig, hat sich schon sehr lange mit Cannabis in Selbsttherapie gegen die Unruhe behandelt; Therapie und Verlauf: Aus der berichtetem Anamnese seien keine Kontraindikationen gegen eine Therapie mit medizinischem Cannabis zu erkennen) sowie ein Befundbericht der B1 vom 16.06.2021 (Diagnose: schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden; es bestehe ein regelmäßiger Cannabiskonsum; alle Testergebnisse zeigten einen eindeutig positiven Befund für ADHS; Beginn einer medikamentösen Behandlung mit Medikinet adult) beigefügt.

Mit Bescheid vom 10.08.2021 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Zur Begründung führte sie aus, für die Therapie der ADHS kämen die entsprechenden Fachgesellschaften in ihrer Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ zu dem Entschluss, dass die Therapie mit Cannabinoiden nicht zu empfehlen sei. Es bestünden zum aktuellen Zeitpunkt keine Hinweise darauf, dass Cannabinoide bei ADHS den Verlauf und die Ausprägung bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussen würden. Für Patienten, die eine Anamnese von Suchtmittelmissbrauch hätten, bestehe in den Fachinformationen cannabishaltiger Arzneimittel ein besonderer Warnhinweis, der vom behandelnden Arzt in seiner Therapieentscheidung zu bedenken sei.

Dagegen legte der Kläger am 06.09.2021 Widerspruch ein und kündigte eine Begründung sowie die Vorlage von Befundberichten an.

Die Beklagte unterrichtete den Kläger mit Schreiben vom 17.09.2021 darüber, dass ein Ergänzungsgutachten beim Medizinischen Dienst (MD) eingeholt werde, sobald er (der Kläger) die ärztlichen Berichte eingereicht habe. Nachdem der Kläger am 28.10.2021 beim Sozialgericht Mannheim (SG) auch einen Antrag auf einstweilige Anordnung, gerichtet auf die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für die beantragte Therapie (S 19 KR 2552/21 ER) gestellt hatte, beauftragte die Beklagte mit Schreiben vom 03.11.2021 den MD mit der Erstattung eines Gutachtens und teilte dies dem Kläger mit.

Im Gutachten vom 24.11.2021 führte
K1 vom MD aus, aus den Unterlagen zum Behandlungsverlauf könne nicht abgeleitet werden, dass es sich bei der ADHS des Klägers um eine schwerwiegende Erkrankung handle. Eine Erstvorstellung beim Psychiater zur Diagnosestellung und Therapieeinleitung sei danach erst im Juni 2021 erfolgt. Eine Beschwerdeschilderung liege nicht vor. Aus der medizinischen Literatur ergebe sich darüber hinaus keine Evidenz, dass Cannabinoide den Verlauf und die Ausgestaltung der ADHS bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussen könnten. Demgegenüber lägen auch Negativempfehlungen vor. Als allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen könnten im Fall des Klägers auf weiter verfügbare leitliniengerechte psychopharmakologische sowie insbesondere psychotherapeutische Behandlungen verwiesen werden. Es liege zwar formal eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes vor, warum diese nicht zum Einsatz kommen könnten. Aus gutachterlicher Sicht sei die Begründung aber nicht nachvollziehbar, da keine Dokumentation von Therapie und Wirkung mit Dosisanpassung dargestellt werde, Medikamentennebenwirkungen nicht verifiziert worden seien und auch keine fachärztliche Reevaluation mit aktualisierter Symptomerhebung zur Klärung des Behandlungsbedarfs, auch im Hinblick auf Begleiterkrankungen erfolgt sei. Aus sozialmedizinischer Sicht seien bei dem Kläger die verfügbaren edukativen und soziotherapeutischen/psychotherapeutischen Optionen im Rahmen eines psychiatrischen multimodalen Gesamtkonzeptes umfassend zu nutzen. Die Etablierung einer Langzeit-Cannabistherapie bei als chronisch anzusehender Problematik, womöglich lebenslang, sei bei nicht absehbaren Folgeproblemen weder nach den in § 31 Abs. 6 SGB V genannten Voraussetzungen, noch nach den Expertenempfehlungen eine nachvollziehbare Therapieoption.
Der Kläger führte gegen das Gutachten an, dass seit Sommer 2021 eine Verhaltenstherapie zur Behandlung der ADHS wahrgenommen werde. Die Medikamente Elvanse sowie Medikinet sollten aufgrund von Herzproblemen nicht verordnet werden.

Mit Beschluss vom 09.12.2021 lehnte das SG den Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Ein Anordnungsanspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten sei nicht glaubhaft gemacht. Bei der gebotenen summarischen Prüfung könne nicht festgestellt werden, dass keine medikamentösen oder nichtmedikamentösen Therapiealternativen zur Behandlung der ADHS im Sinne von § 31 Abs. 6 Nr. 1a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) mehr zur Verfügung stünden. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Nr. 1b SGB V seien ebenfalls nicht erfüllt. Es fehle an der begründeten vertragsärztlichen Einschätzung des verordnenden Arztes 
J1. Die hiergegen zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhobene Beschwerde (L 4 KR 95/22 ER-B) wies das LSG Baden-Württemberg mit Beschluss vom 05.07.2022 zurück. Das SG habe den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt, weil ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die Beschwerde werde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen. Nach dem bisherigen Ergebnis des Verfahrens sei hinreichend zuverlässig zu prognostizieren, dass derzeit ein Anspruch des Antragstellers auf Versorgung mit den cannabishaltigen Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol nicht bestehe und deshalb die Klage in der Hauptsache voraussichtlich nicht erfolgreich sein werde. Auch das Beschwerdevorbringen führe zu keiner anderen Entscheidung. Zwar habe der Antragsteller gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 SGB V grundsätzlich Anspruch auf eine Arzneimittelversorgung, die notwendig sei, um seine Krankheit ADHS zu heilen oder zumindest die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Es sei aber verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Gesetzliche Krankenversicherung die Leistungen, wie u. a. Arzneimittel, nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stelle (unter Hinweis auf Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98 –, in juris, Rn. 57). Die Antragsgegnerin schulde deshalb nicht jede Arzneimittelversorgung, die nach eigener Einschätzung des Antragstellers oder des behandelnden Arztes positiv verlaufe (unter Hinweis auf ständige Rechtsprechung BSG, Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 11/13 R –, in juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 1 KR 24/06 R –, in juris, Rn. 12). Vielmehr müsse die betreffende Therapie auch rechtlich von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung umfasst sein. Dies sei bei der Arzneimitteltherapie mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten oder Präparaten mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon nur ausnahmsweise unter den strikten Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V der Fall. Diese Voraussetzungen seien beim Antragsteller nicht erfüllt. Es sei bereits nicht festzustellen, dass beim Antragsteller eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V bestehe. Der Antragsteller leide an einer ADHS, einer mittelgradigen depressiven Episode, einem Restless-legs-Syndrom und tachykarden Herzrhythmusstörungen, wie der Senat den Angaben der J1 im Arztfragebogen vom 04.08.2021 sowie den Befundberichten des S1 vom 24.07.2021 und der B1 vom 16.06.2021 entnehme. Die Therapie mit den cannabishaltigen Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol solle nach den Ausführungen im Arztfragebogen dabei allein der Behandlung der ADHS dienen. Für das Vorliegen chronischer Schmerzen, wie sie von den behandelnden Allgemeinmedizinern in der Arzneimittelverordnung vom 04.08.2021 als Grund für die privatärztliche Behandlung mit THC angegeben worden sei, bestehe beim Antragsteller nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen und seinem eigenen Vorbringen demgegenüber kein Anhaltspunkt. ADHS sei nicht generell oder regelhaft als schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V einzustufen (unter Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.11.2018 – L 16 KR 504/18 B ER –, in juris., Rn. 18 f.). Dem Ausnahmecharakter der Vorschrift folgend sei von einer schwerwiegenden Erkrankung nämlich nur dann auszugehen, wenn es sich – in Anlehnung an § 34 Abs. 1 Satz 2, § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V – um eine lebensbedrohliche oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handele (unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.02.2021 – L 4 KR 1701/20 –, in juris, Rn. 25 m.w.N.). Ob die (nicht lebensbedrohliche) Erkrankung ADHS zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität führe, hänge im Einzelfall vom Ausmaß und der Ausprägung der konkreten Symptome ab. Hiervon sei auch der MD in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 24.11.2021 ausgegangen. Zutreffend habe er insoweit weiter darauf hingewiesen, dass in den medizinischen Unterlagen zu den aus der ADHS resultierenden Krankheitsbeschwerden im Wesentlichen nur eigene anamnestische Angaben des Antragstellers, nicht aber ärztliche Befunde mitgeteilt worden seien. Ein relevantes Beschwerdeausmaß sei insoweit bislang nicht objektiviert. Abgesehen davon sei das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung selbst dann nicht zu erkennen, wenn der Beurteilung die Beschwerdeschilderung des Antragstellers gegenüber den behandelnden Ärzten zugrunde gelegt werde. Denn aus dem neurologischen Befundbericht von S1 ergebe sich nur, dass der Antragsteller sich als sehr unruhig empfinde, auch nachts eine innere Unruhe und ein Kribbeln in den Armen verspüre und aufgrund der Restless-legs-Symptomatik nicht durschlafen könne. Weitere (geklagte) Symptome hätten auch J1 und B1 nicht beschrieben. Die Diagnose der ADHS sei im Übrigen auch erst im Mai 2021 gestellt worden. Nach eigenem Vorbringen habe der Antragsteller, der seit Jahren unter Unruhezuständen leide, deswegen erstmals zu diesem Zeitpunkt ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Dies lasse einen erheblichen Leidensdruck nicht erkennen. Eine dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigung der Lebensqualität, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebe und deshalb als schwerwiegend zu qualifizieren wäre, sei vor diesem Hintergrund nicht feststellbar. Darüber hinaus bestünden nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen auch erhebliche Zweifel daran, dass für den Antragsteller keine andere Therapie zur Verfügung stehe bzw. eine solche nicht zur Anwendung kommen könne. Der Antragsteller führe nach eigenen Angaben seit Sommer 2021 eine Psychotherapie durch. Wie der MD im Gutachten vom 24.11.2021 nachvollziehbar dargelegt habe, stehe für die Therapie der ADHS daneben noch eine Vielzahl anderer nichtmedikamentöser sowie pharmakologischer Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, wie insbesondere Patientenschulungen, soziotherapeutische und metakognitive Therapien, Fertigkeitstraining und Coaching, diätetische Interventionen, Rehabilitationsmaßnahmen und zugelassene Arzneimittel mit den Wirkstoffen Atomoxetin, Dexamfetamin und Guanfacin. Medizinisch indiziert sei entsprechend der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten S3 - Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ vom 2. Mai 2017 (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_ 2018-06.pdf) danach beim Antragsteller die Behandlung der ADHS im Rahmen eines multimodalen psychiatrischen Gesamtkonzeptes. Allein mit der einmaligen Vorstellung beim Neurologen und Psychiater und der kurzzeitigen Einnahme von zwei Medikamenten habe der Antragsteller die (zusätzlich zur begonnenen Psychotherapie) bestehenden Behandlungsmöglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft. Der Senat sei mit dem SG auch der Auffassung, dass der Zeitraum von knapp drei Monaten zwischen der Diagnosestellung am 07.05.2021 und dem Antrag bei der Antragsgegnerin am 06.08.2021 zu kurz gewesen sei, um die verschiedenen Behandlungsalternativen (ernstlich) auszuprobieren. Zur Überzeugung des Senats könne auch angesichts des langjährigen Cannabiskonsums des Antragsstellers nach einem solch kurzen Zeitraum noch in keiner Weise abgeschätzt werden, welchen Erfolg die Behandlungsformen brächten bzw. ob sie verträglich seien oder nicht. Es sei auch nicht nachgewiesen, dass die aufgezeigten Behandlungsalternativen beim Antragsteller allesamt ausschieden oder der Antragsteller die Standardtherapien nicht vertrage. Zwar trage der Antragsteller vor, nach der Einnahme der Arzneimittel Medikinet und Elvanse adult seien unerwünschte Begleiterscheinungen aufgetreten. Eine fachärztliche Reevaluation und Therapieanpassung oder -umstellung sei aber bislang nach Aktenlage nicht erfolgt. Der Antragsteller habe sich nach Einleitung der medikamentösen Therapie mit Medikinet durch B1 offenbar nicht mehr fachärztlich psychiatrisch untersuchen lassen. Zudem habe er nach seinen eigenen Angaben das Arzneimittel Elvanse adult nur an einem einzigen Tag eingenommen. Das SG habe bereits zutreffend ausgeführt, weshalb die Regelung des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V beim Antragsteller nicht zur Anwendung komme. Dem schließe sich der Senat an. Eine begründete Einschätzung im Sinne der Vorschrift liege nur vor, wenn der Vertragsarzt aufgrund individueller Umstände den Eintritt konkret zu erwartender Nebenwirkungen aufzeige, die aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar anzusehen seien (unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.02.2021 – a.a.O., Rn. 31). Weder die Ausführungen der J1 im Arztfragebogen vom 04.08.2021 noch die Angaben in der unter dem gleichen Datum ausgestellten Arzneimittelverordnung enthielten eine solche begründete Einschätzung. Soweit die behandelnden Vertragsärzte die Verordnung der Cannabinoide darin im Wesentlichen auf eine Empfehlung des Neurologen und Psychiaters stützten, sei diese Begründung nicht nachvollziehbar. Denn weder im beigefügten Befundbericht des S1 vom 24.07.2021 noch im Bericht der B1 vom 16.06.2021 werde eine Cannabistherapie empfohlen. Schließlich sei auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass durch die Therapie mit den cannabishaltigen Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf der ADHS oder schwerwiegende Symptome bestehe. Die bereits zitierte AWMF-Behandlungsleitlinie vom 02.05.2017 empfehle (unter Punkt 1.4.5.8.) im Rahmen eines Expertenkonsenses, Cannabis zur Behandlung der ADHS nicht einzusetzen. Soweit der Antragsteller demgegenüber auf eine neuere wissenschaftliche Studie zum Einsatz von Cannabinoiden bei ADHS verwiesen habe, habe die vom MD im Rahmen des Gutachtens vom 24.11.2021 durchgeführte Metaanalyse gezeigt, dass dieser Publikation auch weiterhin Studienergebnisse und wissenschaftliche Veröffentlichungen mit „negativen Empfehlungen“ gegenüberstünden und die Evidenz für eine Reduktion der ADHS-Kernsymptomatik durch Einsatz von Cannabinoiden insgesamt bei weitgehend unklarem Nebenwirkungsprofil schwach sei. Im Übrigen bestehe auch eine Kontraindikation für eine Cannabistherapie, wenn beim Antragsteller, der nach eigenen Angaben seit vielen Jahren regelmäßig Cannabis konsumiere, ein behandlungsbedürftiger Cannabismissbrauch vorliege (unter Hinweis auf LSG Bayern, Beschluss vom 07.11.2019 – a.a.O., Rn. 37; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.02.2021 – L 11 KR 3869/20 ER-B –, in juris, Rn. 34). Zumindest bedürfe es in diesem Fall einer begründeten und nachvollziehbaren therapeutischen Entscheidung, weshalb ggf. dennoch (und ohne, dass zuvor eine Entwöhnungsbehandlung stattgefunden habe) eine Behandlung mit Cannabispräparaten sinnvoll erscheine. Auch wenn S1 das Bestehen einer Abhängigkeitserkrankung in seinem Befundbericht vom 24.07.2021 verneint habe, ergebe sich ein entsprechender Verdacht gleichwohl im Hinblick auf die Diagnose eines schädlichen Gebrauchs von Cannabinoiden, welche B1 anlässlich der Untersuchung des Antragstellers am 07.05.2021 gestellt habe. Die Abklärung einer solchen Kontraindikation müsse dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Senat sehe nach allem einen auf § 31 Abs. 6 SGB V gestützten Anordnungsanspruch des Antragstellers als unwahrscheinlich an und damit erst recht nicht als glaubhaft gemacht. Auf eine Eilbedürftigkeit oder Interessenabwägung komme es unter diesen Umständen nicht an. Für eine Folgenabwägung sei auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) vorliegend kein Raum. Denn der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheide bereits deshalb aus, weil ein Recht, das im einstweiligen Rechtschutz geschützt werden müsse, nicht vorhanden sei (unter Hinweis auf LSG Bayern, Beschluss vom 07.11.2019 – a.a.O., Rn. 29; Cantzler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand: Dezember 2021, § 86b SGG Rn. 68). Es sei nicht Zweck des einstweiligen Rechtschutzes, vorläufig Rechtspositionen einzuräumen, die der Überprüfung im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach nicht standhalten würden (unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.03.2022 – L 4 R 239/22 ER-B – n.v.; Binder, a.a.O., Rn. 35).

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2022 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass sie sich die zutreffenden Ausführungen im Beschluss des SG zu eigen mache. Daraus ergebe sich, dass der Leistungsantrag des Klägers nicht begründet sei.

Am 28.03.2022 hat der Kläger gegen den ihm am 02.03.2022 zugestellten Widerspruchsbescheid Klage zum SG erhoben und zur Begründung vorgetragen, er habe wegen seiner ADHS eine schwere Kindheit und Jugend mit Schulwechsel, Abbruch des Studiums und weiteren schwerwiegenden Problemen gehabt. Bereits seit 30 Jahren verwende er Cannabis zur Eigenbehandlung. Ohne Cannabis habe er eine ständige innere Unruhe gehabt, es sei ihm fast unmöglich gewesen, längere Zeit still zu sitzen. Er sei sehr leicht reizbar, ungeduldig, impulsiv und ständig müde aufgrund der Schlafstörungen gewesen. Nachdem ADHS diagnostiziert worden sei, habe eine Behandlung mit dem Medikament Medikinet Adult begonnen. Zusätzlich habe er aufgrund der ADHS und der Depressionen eine ambulante Psychotherapie begonnen, welche bis heute fortgesetzt werde. Medikinet, das er sechs Wochen eingenommen habe, habe zu Kreislaufbeschwerden, schwarz vor den Augen werden, starken Kopfschmerzen, unruhigen Beinen, Prickeln an den Armen und trockenem Mund geführt. Von Elvanse Adult habe er folgende Nebenwirkungen bekommen: Schwitzen, Stechen in der Brust, Kreislaufprobleme, sehr unruhige Beine, Empfindung von „zugeschnürtem Brustkorb". Er habe das Medikament nur einen Tag genommen, da es ihm Angst gemacht habe. Daraufhin habe er seinen Hausarzt konsultiert. Der Kläger hat handschriftliche Notizen seiner Psychiaterin
B1 und einen von ihr gefertigten Bericht vom 28.06.2021 vorgelegt. In diesem Bericht hat die Psychiaterin eine mittelgradige depressive Störung und ADHS diagnostiziert. Im Übrigen hat der Kläger beanstandet, dass dem MD nicht mitgeteilt worden sei, dass er sich bereits in psychotherapeutischer Behandlung und in einer Verhaltenstherapie befinde. Auch eine von ihm eingereichte Studie habe keine Berücksichtigung im MD-Gutachten gefunden. Der MD habe völlig unabhängig von seiner (des Klägers) Person die Nebenwirkungen aufgelistet und daraufhin eine Abwägung vorgenommen. Zudem habe die Beklagte ihm nicht alle Daten zur Verfügung gestellt und nicht alle Daten an das Gericht weitergeleitet.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie halte die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Zur Begründung ihres klageabweisenden Antrags hat sie auf die Begründung des Widerspruchsbescheids verwiesen. Ergänzend hat die Beklagte ausgeführt, dem Kläger seien sämtliche Daten unverzüglich mitgeteilt und zur Verfügung gestellt worden. Ihm sei Akteneinsicht gewährt worden, allerdings habe er kurzfristig Akten einsehen wollen, die in diesem Zeitpunkt nicht zur Verfügung gestanden hätten. Die Beurteilungsgrundlage des MD habe dieser in seinem Gutachten angegeben. Das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung sei nicht verletzt worden.

In der am 08.02.2024 durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Kläger quittierte Cannabis-Rezepte im Original vom 04.08.2021 bis 19.01.2024 vorgelegt über insgesamt 5.275,91 € (Blatt 103/121 der SG-Akte).

Mit Urteil vom 08.02.2024 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Bescheid der Beklagten vom 10.08.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbeides vom 23.03.2022 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger habe weder einen Anspruch auf die vertragsärztliche Verordnung von Cannabisblüten noch auf Kostenerstattung für diese. Das klägerische Begehren habe sich bei sachdienlicher Auslegung auf die Erteilung einer Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabisblüten gerichtet. Statthafte Klageart sei insoweit die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Den daneben geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch habe der Kläger zulässigerweise mit der Leistungsklage verfolgt. Infolge der bis zum Datum der mündlichen Verhandlung unbekannten angefallenen Kosten habe der Kläger den Kostenerstattungsanspruch dem Grunde nach geltend machen können. Ein wirksames Anerkenntnis der Beklagten vom 19.01.2023 habe nicht vorgelegen, da das Anerkenntnis offensichtlich eine andere Person betroffen habe und diesbezüglich offensichtlich irrtümlich unter dem falschen Aktenzeichen an das Gericht geschickt worden sei. Der Widerruf sei innerhalb einer Stunde beim SG eingegangen, das Gericht habe zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis vom Anerkenntnis genommen, sodass es noch nicht zugegangen gewesen sei. Als Rechtsgrundlage für die begehrte Versorgung mit Cannabisblüten komme allein § 31 Abs. 6 SGB V in Betracht. Dessen Voraussetzungen hätten nicht vorgelegen. Beim Kläger liege eine ADHS vor. Eine Lebensbedrohlichkeit dieser Erkrankung dergestalt, dass die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs nach allgemeiner Erkenntnis oder nach der Beurteilung im konkreten Einzelfall innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums drohen würde, habe nicht vorgelegen. Für das Vorliegen chronischer Schmerzen, wie sie von den behandelnden Allgemeinmedizinern in der Arzneimittelverordnung vom 04.08.2021 als Grund für die privatärztliche Behandlung mit THC angegeben worden sei, habe beim Kläger nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen und seinem eigenen Vortrag demgegenüber kein Anhaltspunkt bestanden. Davon, dass beim Kläger die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt gewesen sei und sich hieraus die schwerwiegende Erkrankung ableiten lasse, sei die Kammer ebenfalls nicht überzeugt. Zur Schwere der Auswirkungen der ADHS hätten sich weder aus den Angaben des 
J1 noch aus dem Bericht der B1, die erstmals die Diagnose ADHS festgestellt habe, Ausführungen ergeben. Aus dem neurologischen Befund habe sich lediglich ergeben, dass der Kläger sich als sehr unruhig empfinde, auch nachts eine innere Unruhe und ein Kribbeln in den Armen verspüre und aufgrund der Restless-legs-Symtomatik nicht durchschlafen könne. Weitere (geklagte) Symptome hätten auch J1 und B1 nicht beschrieben. Die Diagnose sei im Übrigen auch erst im Mai 2021 gestellt worden. Nach eigenem Vorbringen habe der Kläger, der seit Jahren unter Unruhezustände leide, deswegen erstmals zu diesem Zeitpunkt ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Dies lasse nicht auf einen erheblichen Leidensdruck schließen. Der Kläger habe ausführlich in der mündlichen Verhandlung seine Schwierigkeiten dargestellt, darunter eine erschwerte Schulzeit mit verschiedenen Schulwechseln. Eine Ausbildung zum Betriebswirt und Heilerziehungspfleger habe der Kläger anschließend aber durchlaufen. Er sei selbstständig tätig gewesen, weil ihm eine angestellte Tätigkeit im Umgang mit Vorgesetzten und ggf. Kollegen schwergefallen sei. Eine besondere Förderung oder Unterstützung sei weder in der Vergangenheit noch heute nötig gewesen, um eine soziale und berufliche Integration zu ermöglichen. Die Voraussetzungen für einen GdB von 50 seien daher nicht erfüllt. Zudem hätten allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung gestanden. Die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zu deren Nichtanwendung sei nicht nachvollziehbar begründet. Für die Behandlung von ADHS gebe es unstreitig alternative Methoden, die dem medizinischen Standard entsprächen. An der erforderlichen begründeten Einschätzung des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b SGB V habe es vorliegend gefehlt. Der Kläger sei zwar seit 25 Jahren bei J1 in Behandlung, die Diagnose der ADHS sei jedoch erst im Jahr 2021 durch B1 erfolgt. Die Nebenwirkungen von Medikinet und Elvanse habe J1 nicht selbst dokumentiert, und auch B1 habe keine Nebenwirkungen dokumentiert. Herzerkrankungen, die der Verordnung dieser Medikamente entgegenstehen würden, seien nicht ärztlich belegt. Der Kläger habe diese aufgrund der Angaben im Beipackzettel und der bei ihm eingetretenen Nebenwirkungen abgesetzt. Insgesamt habe es bei J1 an der konkreten Darstellung des Krankheitszustandes der ADHS, zur Häufigkeit und Schwere der vorgebrachten Nebenwirkungen von Elvanse und Medikinet, der Darlegung, wann welches Medikament in welcher Dosierung und für welchen Zeitraum mit welchem Erfolg eingesetzt worden sei, welche Nebenwirkungen dabei aufgetreten seien und warum diese unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers bei ihm nicht anwendbar seien, gefehlt. Der Kläger nehme nach eigenen Angaben seit 30 Jahren Cannabis und habe eine Abhängigkeit verneint. Ob hierbei bereits eine Suchtmittelabhängigkeit bestehe und wie sich dies auf die Verordnung von Cannabis auswirke, ergebe sich aus den Angaben des J1 keineswegs. Ein Anspruch auf die Genehmigung der Verordnung bestehe daher nicht. Aus dem gleichen Grund erweise sich der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V als unbegründet, da die Beklagte die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt habe. Eine unaufschiebbare Leistung im Sinne des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V habe nicht zur Überzeugung der Kammer vorgelegen. Es hätten keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Cannabis-Verordnungen so dringlich gewesen seien, dass nicht mehr habe zugewartet werden können. Ein Kostenerstattungsanspruch sei auch nicht aus § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V gefolgt, da die Krankenkasse nach Antragseingang innerhalb von drei Wochen entschieden habe.

Gegen das ihm am 19.02.2024 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.03.2024 Berufung zum LSG Baden-Württemberg erhoben. Er macht geltend, dass der Bericht des MD mangelhaft sei, da dem MD entscheidende Informationen, insbesondere die von ihm (dem Kläger) eingereichte Studie, vorenthalten worden seien. Diese habe er bereits im vorangegangenen Eilverfahren vorgelegt. Er habe mehrfach gefordert, dass ein neues Gutachten des MD erstellt werden solle. Seine Psychotherapie habe er beendet, da sich Cannabis als wirksame Hilfe erwiesen habe. Er habe die handschriftliche Patientenakte der
B1 eingereicht. Aus dieser gehe hervor, dass die Psychiaterin Nebenwirkungen dokumentiert habe und deswegen das Medikament Medikinet habe abgesetzt werden müssen. Die Dokumentation sei zwar nur schwer zu lesen, dies sei aber nicht seine Schuld. Die Urteilsbegründung sei damit hinfällig. Er habe das Medikament Elvanse nicht selbständig abgesetzt, sondern auf Empfehlung seines Hausarztes. Ihm sei letztlich nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden. Seine Situation sei nicht ausreichend am Einzelfall geprüft worden. Wegen der teilweisen Legalisierung von Cannabis habe sich die Betrachtungsweise grundlegend geändert. Seit seinem Antrag im Jahr 2021 habe es zwei grundlegende Änderungen gegeben zu dieser Thematik. Zum einen habe das Bundessozialgericht (BSG) 2022 präzisiert, wie eine Einschätzungsprärogative eines Arztes genau verfasst sein müsse, um einen Versorgungsanspruch zu begründen. Zweitens habe die Bundesregierung 2023 eine Teillegalisierung von Cannabis umgesetzt. Er widerspreche der Rechtsauffassung des Senats. Es könne nicht sein, dass die 2021 erfolgte ursprüngliche Antragsstellung zwei Jahre später rückwirkend für ungültig erklärt werde. Er habe bei Antragsstellung und im Verfahren alle mögliche und zumutbare Sorgfalt aufgewendet. Von ihm könne nicht verlangt werden, dass er das Betäubungsmittel Medikinet konsumieren müsse, damit die Einschätzungsprärogative erfüllt werde. Er habe die Nebenwirkungen bereits von B1 dokumentieren lassen. Cannabis werde nun nicht mehr als Betäubungsmittel klassifiziert. Daher sei Cannabis nun die verhältnismäßig „mildere Alternative“ zu Medikinet. Er (der Kläger) dürfe also erst Medikinet erhalten, wenn er Cannabis nicht vertragen würde. Bei seiner Antragsstellung habe er alle damaligen Vorgaben korrekt mitgeteilt. Die Voraussetzungen der Einschätzungsprärogative des BSG seien im Jahr 2021 erfüllt gewesen. Folglich müsse der Antrag rückwirkend von der Beklagten genehmigt werden. Ferner müsse seine im Jahr 2023 diagnostizierte starke Osteoporose berücksichtigt werden, da Medikinet die Knochenbruchgefahr erhöhe, da es als Aufputschmittel wirke. Ergänzend hat der Kläger aktuelle medizinische Unterlagen (vom 21.11.2024 und 02.01.2025) und seinen Antrag auf Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft (vom 03.12.2024) eingereicht.

Der Kläger beantragt -sachdienlich gefasst-,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 08.02.2024 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 10.08.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2022 zu verpflichten, die Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisblüten zu erteilen sowie die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.275,91 € zu bezahlen.
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

      die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und ihre Bescheide für zutreffend.

Im Erörterungstermin am 12.06.2024 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtige, nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zu entscheiden. Die Beklagte hat sich nicht gegen dieses Vorhaben ausgesprochen. Der Kläger hat gegen diese Vorgehensweise angeführt, dass er ein faires Verfahren verlange. Er bestehe auf rechtlichem Gehör. Er sei wegen des komplexen Sachverhalts nicht mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Dem Kläger wurde daraufhin von Seiten des Gerichts mit Schreiben vom 05.12.2024 mitgeteilt, dass weiterhin beabsichtigt sei, die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen. Eine Entscheidung werde spätestens im Februar 2025 ergehen. Hierauf hat sich der Kläger erneut dahingehend geäußert, dass er mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden sei. Der Senat hat den Rechtsstreit im weiteren Verlauf zur mündlichen Verhandlung terminiert.

Mit Schreiben vom 27.02.2025 hat der Senat den Kläger darauf hingewiesen, dass die Vorlage weiterer Nachweise bis zum Tag der Entscheidung des Senats erforderlich sei, da auch für die Zeit nach der erstinstanzlichen Entscheidung Kostenerstattung beantragt werde. Weitere Nachweise hat der Kläger nicht vorgelegt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe


1. Der Senat konnte über die Berufung in der mündlichen Verhandlung vom 26.03.2025, zu der der Kläger ordnungsgemäß geladen worden ist, trotz Abwesenheit des Klägers entscheiden, da auf diese Möglichkeit in der Ladung hingewiesen worden ist (§§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 Satz 2 SGG). Seinem mit Verhandlungs- und Reiseunfähigkeit begründeten Verlegungsantrag vom 24.03.2025, der dem Senat erst am 25.03.2025 vorgelegt wurde, war nicht stattzugeben, weil keine erheblichen Gründe hierfür vorlagen. Verhandlungsunfähigkeit bedeutet, dass eine Person nicht in der Lage ist, ihre Interessen innerhalb und außerhalb der mündlichen Verhandlung vernünftig wahrzunehmen und wenn sie keine Prozesserklärungen abgeben oder entgegennehmen kann. Darüber hinaus liegt Verhandlungsunfähigkeit nach der geltenden Rechtsprechung auch vor, wenn die Fortführung des Verfahrens mit einer konkreten Lebens- oder schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung verbunden ist (vgl. Bundesverfassungsgericht. Beschluss vom 19.06.1979 – 2 BvR 1060/78 –, in juris). Reiseunfähigkeit liegt vor, wenn nach Art und Umfang einer Erkrankung die Fahrt zum Verhandlungsort nicht zumutbar ist. Aus dem Attest muss sich ergeben, warum die Person nicht in der Lage ist, ihre Interessen im Prozess wahrzunehmen, welche schwere Gesundheitsfolge bei einer Wahrnehmung des Termins droht oder warum der Person der Weg zum Gericht nicht zumutbar sein soll (Deutsches Ärzteblatt 24.01.2020 A 154f). Wird eine Terminverlegung erst einen Tag vor der anberaumten mündlichen Verhandlung beantragt und mit einer Erkrankung begründet, so muss der Verhinderungsgrund so dargelegt und untermauert sein, dass das Gericht ohne weitere Nachforschungen selbst beurteilen kann, ob Verhandlungs- bzw. Reisefähigkeit besteht. Dies erfordert, dass das Gericht aus der Bescheinigung Art, Schwere und voraussichtliche Dauer der Erkrankung entnehmen und so die Frage der Verhandlungsunfähigkeit selbst beurteilen kann (BSG, Beschluss vom 10.09.2024 – B 5 R 24/24 B – und BSG, Beschluss vom 13.10.2010 – B 6 KA 2/10 B –, beide in juris). Diesen Anforderungen wird mit den vom Kläger vorgelegten Attesten vom 02.01.2025, 20.02.2025 und 24.03.2025 nicht Genüge getan. Den von J1 angegebenen ICD-10 Diagnosen ist nicht zu entnehmen, wie schwer diese Erkrankungen beim Kläger sind und ob deshalb Verhandlungsunfähigkeit besteht. Die weiteren Unterlagen datieren aus Januar und Februar 2025 und vermögen schon aus diesem Grund den aktuellen Stand der klägerischen Erkrankung nicht zu belegen. Das Vorliegen von Verhandlungsunfähigkeit ist damit und auch mit der Ergänzung von J1 auf dem Attest vom 24.03.2025 nicht glaubhaft gemacht.

2. Die nach den §§ 143, 144, 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig.

3. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 10.08.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2022. Hierbei ist das klägerische Begehren auf die Erteilung einer Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisblüten gerichtet. Hierfür ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) zulässige Klageart. Den zudem geltend gemachten (§ 56 SGG) Kostenerstattungsanspruch verfolgt der Kläger in zulässiger Weise mit der Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG).

4. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 10.08.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Erteilung einer Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabis. Auch hat der Kläger keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für bereits angeschaffte Cannabisarzneimittel.

Das SG hat unter Anwendung der einschlägigen Rechtsgrundlage zutreffend dargestellt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabis und auf Kostenerstattung für die Cannabisblüten hat. Der Senat sieht von einer weitergehenden Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf Kostenerstattung im Hinblick auf den mit der ärztlichen Verordnung vom 04.08.2021 geltend gemachten Betrag in Höhe von 248,48 € auch daran scheitert, dass der Kläger insoweit den Beschaffungsweg nicht eingehalten hat, nachdem er den Antrag auf Übernahme der Kosten erst am 06.08.2021 gestellt und die Beklagte erst mit Bescheid vom 10.08.2021 entschieden hat. Im Übrigen stellt die einmalige Verwendung der unzutreffenden Abkürzung von GdB (Grad der Behinderung) im Urteil, einen offensichtlichen Schreibfehler dar, da das SG zuvor immer die korrekte Abkürzung GdS (Grad der Schädigungsfolgen) verwendet hat. Inhaltlich ändert die inkorrekte Bezeichnung die zutreffende Prüfung des SG nicht, da der GdS und der GdB nach den gleichen Grundsätzen bemessen werden (Vorbemerkung Nr. 2a Versorgungsmedizin-Verordnung <Vers-MedV>). 

5. Aus der Berufungsbegründung ergeben sich keine neuen Gesichtspunkte.

a) Soweit der Kläger im Berufungsverfahren für den Zeitraum nach der mündlichen Verhandlung vor dem SG
Anspruch auf Erstattung der ihm für die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten geltend macht, scheitert dieser bereits daran, dass er trotz Aufforderung mit Senatsschreiben vom 27.02.2025 keine weiteren Nachweise für die Verordnung und Beschaffung von Medizinal-Cannabis vorgelegt hat.

b) Soweit der Kläger vorträgt ihm sei kein rechtliches Gehör gewährt worden, verkennt er, dass in beiden Tatsacheninstanzen eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist und er hierbei Gelegenheit zur Äußerung hatte. Seinen schriftlichen und mündlichen Vortrag hat auch sowohl das SG als auch der erkennende Senat zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen einbezogen. Dies ergibt sich aus den Urteilen der Gerichte.

c) Ferner verkennt er, dass ihm die Cannabisrezepte ausweislich der Verordnung vom 04.08.2021 wegen eines chronischen Schmerzsyndroms ausgestellt worden sind und gerade nicht wegen seiner ADHS. Selbst wenn man abweichend von den Angaben auf dem Rezept davon ausginge, dass ihm das Cannabis aufgrund seiner ADHS ausgestellt worden ist, ändert dies nicht die Notwendigkeit der Vorlage der Einschätzungsprärogative des Vertragsarztes (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, deren Beibringung allein dem Kläger obliegt (BSG, Urteil vom 20.03.2024 – B 1 KR 24/22 R, BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R –, beide in juris), liegt hier nicht vor.

Der Kläger hat weder im Verwaltungsverfahren noch im erstinstanzlichen Verfahren die dafür erforderlichen Unterlagen vorgelegt. Ferner hat der Kläger auch im Berufungsverfahren bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Einschätzungsprärogative seines behandelnden Vertragsarztes nicht nachgereicht. Auch die Angabe einer Osteoporose, sein vorgelegtes aktuelles Attest und der Antrag auf Zuerkennung des Schwerbehinderteneigenschaft führen zu keinem anderen Ergebnis. Diese stellen keine begründete Einschätzung des Arztes dar.

Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass eine den Anforderungen nachgereichte entsprechende begründete Einschätzung auch erst ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Genehmigung für die Zukunft begründen kann (BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R –, in juris).

d) Der Senat ist auch nicht verpflichtet, dem Antrag des Klägers entsprechend ein neues Gutachten einzuholen.
Zwar bestimmt sich nach den vorliegenden Stellungnahmen des behandelnden Vertragsarztes zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz, ob eine den Anforderungen entsprechende begründete Einschätzung des Vertragsarztes vorliegt. Allerdings hat der Versicherte die begründete Einschätzung als Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs beizubringen (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R –, in juris). Dem Kläger ist es nicht verwehrt, auch noch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt vorzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.2022 – B 1 KR 28/21 R –, in juris). Diese begründete Einschätzung hat der Kläger wie bereits oben dargelegt indessen bis heute nicht beigebracht.

e) Soweit der Kläger auf eine neuere wissenschaftliche Studie zum Einsatz von Cannabinoiden bei ADHS verwiesen hat, hat die vom MD im Rahmen des Gutachtens vom 24.11.2021 durchgeführte Metaanalyse gezeigt, dass dieser Publikation auch weiterhin Studienergebnisse und wissenschaftliche Veröffentlichungen mit „negativen Empfehlungen" gegenüberstehen und die Evidenz für eine Reduktion der ADHS-Kernsymptomatik durch Einsatz von Cannabinoiden insgesamt bei weitgehend unklarem Nebenwirkungsprofil schwach ist. Im Übrigen besteht auch eine Kontraindikation für eine Cannabistherapie, wenn beim Kläger, der nach eigenen Angaben seit über 30 Jahren regelmäßig Cannabis konsumiert, ein behandlungsbedürftiger Cannabismissbrauch vorliegt (so auch LSG Bayern, Beschluss vom 07.11.2019 – L 4 KR 397/19 B ER –, Rn. 37; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.02.2021 – L 11 KR 3869/20 ER-B –, in juris, Rn. 34).

f)
Die Voraussetzungen einer begründeten Einschätzung sind auch nicht durch das zum 01.04.2024 in Kraft getretene Cannabisgesetz (CanG) vom 27.03.2024 (BGBl. I, Nr. 109, S. 1 ff) überholt. Mit Inkraftreten des CanG sind Cannabis und Dronabinol – anders als Nabilon – keine Betäubungsmittel mehr. Die entsprechenden Positionen wurden aus der Anlage III des BtMG gestrichen (Art. 3 Nr. 8 CanG, BGBl. I Nr. 109, S. 42). Dadurch unterfallen die gestrichenen Mittel weder § 13 Abs. 3 Satz 1 BtMG noch der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass die strengen Anforderungen an die begründete Einschätzung des Vertragsarztes abgesenkt oder modifiziert werden müssten. Der Einführung des CanG liegt eine neue Risikobewertung durch den Gesetzgeber zugrunde (vgl. BT-Drs. 20/8704, 68, 74, 93, 108). Allerdings hat der Gesetzgeber den Tatbestand des § 31 Abs. 6 SGB V nicht geändert, so dass seine Risikobewertung im Hinblick auf die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter mit Cannabis unverändert geblieben ist (vgl. hierzu: Müller-Götzmann, in: BeckOGK, SGB V, Stand: 15.11.2024, § 31 Rn. 144ff). Der Gesetzgeber hält ausdrücklich fest, dass die Regelungen im SGB V, die den Versicherten unter den dort genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln geben, unverändert blieben (BT-Drs. 20/8704, 2f, 74; BT-Drs. 367/23, S. 2, 79). Für dieses Ergebnis spricht auch, dass das BSG im Rahmen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V unter anderem Bezug nimmt auf die Anforderungen des Betäubungsmittelrechts und der Gesetzgeber sich bei der Bewertung von Cannabis zu medizinischen Zwecken weiterhin an den Regelungen des BtMG orientiert (vgl. BT-Drs. 20/8704, 151). Selbst wenn man die betäubungsmittelrechtliche Argumentation des BSG für überholt hielte, sind die strengen Anforderungen des BSG auf die weiteren Begründungselemente zu stützen, namentlich die fehlende Evidenz zur Wirksamkeit der Therapie und die Gründe des Patientenschutzes (Müller-Götzmann, a.a.O., Rn. 147; so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.11.2024 – L 11 KR 393/22 –, in juris Rn. 59).

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

7. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).


 

Rechtskraft
Aus
Saved