Auch im Jahre 2017 war die Temperaturmessung mittels Infrarotthermometers am Ohr geeignet, Fieber größer/gleich 38 Grad als SIRS-Kriterium verbindlich festzustellen; die rektale Temperaturmessung hat im klinischen Alltag bei Erwachsenen nur noch äußerst eingeschränkte Bedeutung.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Juni 2023 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.374,11 Euro nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16. September 2019 zu zahlen.
Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung in Höhe von noch 6.374,11 Euro. Streitig ist die Berechtigung zur Kodierung der Nebendiagnose R65.0! (Systemisches inflammatorisches Response-Syndrom [SIRS] infektiöser Genese) bei nur aurikulärer (am Ohr vorgenommener) Fiebermessung. Die Klägerin hält DRG H12A für abrechenbar, die Beklagte DRG H12B.
Die Klägerin ist Trägerin des Brandenburger Plankrankenhauses H KB S.
Der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte, geborene B Lwurde zunächst vom 12. bis 18. September 2017 in dem Krankenhaus der Klägerin, Klinik für Allgemeine Innere Medizin, Gastroenterologie und Diabetologie, aufgrund einer Erkrankung der Bauchspeicheldrüse stationär behandelt. Hierfür stellte die Klägerin der Beklagten 2.964,16 Euro in Rechnung, die von der Beklagten beglichen wurde.
Kurz darauf, vom 21. September 2017 bis zum 10. Oktober 2017, wurde der Versicherte erneut in derselben Klinik stationär behandelt. Seine Aufnahme erfolgte mit Oberbauchschmerzen, anamnestisch Fieber und Allgemeinzustandsverschlechterung bei Zustand nach endoskopisch-retrograder Cholangio-Pankreatikographie (ERCP) im Rahmen eines Voraufenthaltes bei chronischer Pankreatitis und Wechsel einer Pankreasgang-Endoprothese (Pankreas-Stent). Der aufnehmende Krankenhausarzt stellte ausweislich der Dokumentation der Notaufnahme unter anderem die Diagnose K86.1 (sonstige chronische Pankreatitis). Bei dem Versicherten trat im Laufe der Behandlung Fieber ≥ 38 °C auf, welches auf der Station mittels eines Infrarotthermometers gemessen und bestätigt wurde.
Mit Rechnung vom 19. Oktober 2017 rechnete die Klägerin die Kosten für die zweite Behandlung des Versicherten in Höhe von 13.171,03 Euro unter Ansetzung der DRG T60A (Sepsis mit komplizierender Konstellation oder bei Zustand nach Organtransplantation, mit äußerst schweren CC oder intensivmedizinische Komplexbehandlung > 392 / 368 / - Aufwandspunkte) gegenüber der Beklagten ab. Als Diagnosen waren angegeben A41.8 (Sonstige näher bezeichnete Sepsis) sowie K86.3 (Pseudozyste des Pankreas). Die Beklagte beglich zunächst den vollständigen Betrag.
Im Nachgang veranlasste die Beklagte die Erstellung einer sozialmedizinischen Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK), der in seiner Stellungnahme vom 2. Mai 2018 zu der Feststellung gelangte, die Kodierung der durch die Klägerin abgerechneten DRG sei nicht sachgerecht gewesen. Abrechenbar sei vielmehr die DRG H12B (Verschiedene Eingriffe am hepatobiliären System oder Eingriffe an abdominalen oder pelvinen Gefäßen, ohne äußerst schwere CC, ohne komplexen Eingriff). Es sei nicht die von der Klägerin angegebene Hauptdiagnose A41.8 (Sonstige näher bezeichnete Sepsis), sondern die Hauptdiagnose K85.21 (Alkoholinduzierte akute Pankreatitis mit Organkomplikation) in Ansatz zu bringen. Zudem sei die Nebendiagnose R65.0! (Systemisches inflammatorisches Response-Syndrom [SIRS] infektiöser Genese ohne Organkomplikationen, schwere Sepsis, Sepsis mit Organkomplikationen) zu streichen, da die Kriterien hierfür nicht belegt seien.
Hierauf verlangte die Beklagte von der Klägerin die Zusammenführung beider Fälle unter Abrechnung der DRG H12B.
Dem kam die Klägerin nicht nach und entgegnete, mit der Änderung der Hauptdiagnose A41.8 in K85.21 einverstanden zu sein, nicht jedoch mit der Streichung der Nebendiagnose R65.0!, da die SIRS-Kriterien dokumentiert und damit belegt seien. Aus der Kombination der neuen Hauptdiagnose K85.21 mit der Nebendiagnose R65.0! resultiere die DRG H12A (verschiedene Eingriffe am hepatobiliären System oder Eingriffe an abdominalen oder pelvinen Gefäßen mit äußerst schweren CC oder komplexem Eingriff).
Am 16. September 2019 verrechnete die Beklagte beide gezahlten Vergütungen in Höhe von 2.964,16 Euro bzw. 13.171,03 Euro vollständig mit weiteren, zwischen den Beteiligten nicht streitigen Forderungen. Ebenfalls am 16. September 2019 überwies die Beklagte an die Klägerin für beide zusammengeführten Behandlungsfälle eine einheitliche Vergütung in Höhe von 6.127,69 Euro nach DRG H12B.
Mit Schreiben vom 1. Juni 2021 erklärte die Klägerin, die vorgenommene Kürzung der Vergütung für rechtswidrig zu halten.
In einer weiteren Stellungnahme vom 17. November 2021 führte der MDK aus, mit Blick auf die Hauptdiagnose K85.21 sei eine infektiöse Akuterkrankung Aufnahmeanlass gewesen. Diese könne ausweislich der Deutschen Kodierrichtlinien jedoch nicht mit R65.0! als Sekundärcode verbunden werden. Allein könne R65.0! zudem nicht stehen. Eine Sepsis liege nicht nachweislich vor, da die erhöhte Körpertemperatur nicht durch eine rektale, intravasale oder intravesikale Messung festgestellt worden sei und daher die für den Nachweis einer Sepsis erforderlichen vier Kriterien nicht erfüllt seien. Bei – wie hier im Falle des Versicherten – negativen Blutkulturen sei nach den Maßgaben des BfArM das Vorliegen aller vier definierten SIRS-Kriterien erforderlich, um R65.0! als Nebendiagnose kodieren zu dürfen.
Mit Rechnung vom 14. Dezember 2021 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten für die Behandlung vom 21. September 2017 bis zum 10. Oktober 2017 nunmehr die Zahlung eines Betrages in Höhe von 12.571,80 Euro unter Ansatz der DRG H12A geltend (Entlassungsdiagnose: K85.21).
Zur Begründung ihrer am 15. Dezember 2021 erhobenen und auf die Zahlung von 12.571,80 Euro gerichteten Klage hat die Klägerin angeführt, bei dem Versicherten habe offenkundig eine Sepsis vorgelegen. Diese habe lediglich nicht den Hauptaufnahmeanlass dargestellt, sodass die Diagnose A41.8 nicht ersatzlos zu streichen, sondern als Nebendiagnose in der Kodierung zu erhalten sei. Darüber hinaus seien die erforderlichen Kriterien für die Ansetzung der Nebendiagnose R65.0! erfüllt, sodass auch diese zu kodieren sei. Es sei ausreichend, dass bei dem Versicherten eine aurikuläre Temperaturmessung (am Ohr über den äußeren Gehörgang am Trommelfell) erfolgt sei, wie sich insbesondere auch aus der S3-Leitlinie „Sepsis - Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge“ aus dem Jahre 2018 ergebe, da auch dort ausdrücklich eine Messung mittels Infrarotthermometer in Ohr und Mund für ausreichend erachtet worden sei. Hierdurch sei letztlich nur der seit 2016 geltende medizinische Meinungsstand klargestellt worden. Dies belege auch die Stellungnahme der Deutschen Sepsis-Gesellschaft vom 24. Juli 2017, wonach allein der Umstand, dass in der Leitlinie der Deutschen Sepsis-Gesellschaft die aurikuläre Temperaturmessung nicht explizit benannt worden sei, nicht bedeute, dass diese zur Temperaturmessung und damit zur Diagnosestellung der Sepsis nicht zulässig sei. Im Übrigen produziere eine Temperaturmessung am Ohr sicher keine höheren Werte als etwa eine rektale Temperaturmessung, denn im Inneren sei der Körper wärmer als außen.
Die Beklagte hat dem entgegengehalten, die Diagnose R65.0! könne nicht als Nebendiagnose kodiert werden, da als Hauptdiagnose K85.21 einschlägig sei. R65.0! als Nebendiagnose bedürfe einer entsprechenden Hauptdiagnose, die bei einer Sepsis kodiert werde. Eine Sepsis habe indes nicht vorgelegen, da nicht alle hierfür notwendigen Kriterien erfüllt seien, denn es fehle an dem Nachweis von Fieber, bestätigt durch eine rektale, intavasale oder intravesikale Messung. Die durch die Klägerin vorgenommene aurikuläre Temperaturmessung mit einem Infrarottheramometer sei nicht ausreichend gewesen. In der im Jahre 2018 geänderten S3-Leitlinie der Deutschen Sepsis-Gesellschaft finde sich zwar der Hinweis, dass grundsätzlich auch eine aurikuläre Temperaturmessung ausreichend sei, jedoch nur mit dem entsprechenden Vermerk, dass die vorrangigen Messmethoden nicht zur Verfügung stünden. Eine aurikuläre Messung habe zudem ausdrücklich mittels kalibriertem Infrarotthermometer zu erfolgen, da periphere Thermometer im Vergleich zur Messung mittels zentralen Thermometern keine klinisch akzeptable Genauigkeit hätten. Die Klägerin habe nicht dargelegt, ob die vorrangigen Messmethoden zur Verfügung gestanden hätten und ob die Messung mittels Infrarotthermometer stattgefunden habe. Darüber hinaus finde sich in den aktuellen Kriterien des BfArM nicht der Hinweis, dass auch eine aurikuläre Messung ausreichend sei. In den aktuellen Kriterien der ICD-10-GM sei die aurikuläre Messung ebenfalls nicht erwähnt.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Innere Medizin und Gastroenterologie Dr. med. RK, das dieser am 5. März 2023 vorgelegt hat. Darin heißt es, die SIRS-Kriterien hätten alle vorgelegen, mithin seien auch die Kriterien der Kodierung der Nebendiagnosen A41.8 und R65.0! erfüllt, sodass die DRG H12A abzurechnen sei. Insbesondere sei vorliegend die aurikuläre Temperaturmessung ausreichend gewesen und habe den im Zeitpunkt der Behandlung geltenden Vorgaben entsprochen. Hierfür sei maßgeblich: Anzusetzen sei an der vor dem streitigen Krankenhausaufenthalt veröffentlichten Stellungnahme des Prof. Dr. B, Leitlinienbeauftragter der Deutschen Sepsis-Gesellschaft, vom 24. Juli 2017, wonach die aurikuläre Temperaturmessung zur Diagnosestellung der Sepsis zulässig sei; es handele sich um die auf Normalstationen häufigste Methode der Temperaturmessung; die tatsächliche Körpertemperatur werde bei dieser Methode eher unterschätzt; es gebe keinen Grund, eine erhöhte aurikulär gemessene Temperatur anzuzweifeln; in der für 2018 geplanten Revision der Leitlinien werde die aurikuläre Messung als Methode ausdrücklich anerkannt werden. Weiter sei zu betonen, dass die rektale Temperaturmessung im klinischen Alltag an Erwachsenen nicht mehr vorgenommen werde. Die anderen in Betracht kommenden Verfahren – intravasale (innerhalb eines Blut- oder Lymphgefäßes oder „in ein Gefäß hinein“) oder intravesikale (innerhalb der Harnblase) Messung – seien invasiv mittels zentralvenösem Katheter oder Dauerkatheter durchzuführen und mit möglichen Komplikationen behaftet. Allein zum Messen der Körperkerntemperatur seien diese invasiven Methoden in einer Risiko-Nutzen-Abwägung nicht indiziert. Damit verbleibe die im klinischen Alltag etablierte aurikuläre Messung. Allein zur Temperaturmessung sei die Durchführung eines invasiven Verfahrens nicht ratsam. Wegen der Einzelheiten des Gutachtens wird auf Bl. 101 bis 114 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Mit Urteil vom 27. Juni 2023, der Klägerin zugestellt am 7. August 2023, hat das Sozialgericht Frankfurt (Oder) die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der geltend gemachte Anspruch auf Vergütung der Behandlung des Versicherten B L bestehe nicht. Abrechenbar sei hier nur die DRG H12B, denn „äußerst schwere CC“ (CC = Complication or Comorbidity = Nebendiagnosen) hätten nicht vorgelegen. Hauptdiagnose sei unstreitig K85.21 (Alkoholinduzierte akute Pankreatitis mit Organkomplikation). Die Ausführungen des Sachverständigen zur Kodierbarkeit der Nebendiagnosen A41.8 (sonstige näher bezeichnete Sepsis) bzw. R65.0! (Systemisches inflammatorisches Response-Syndrom [SIRS] infektiöser Genese) seien jedoch nicht überzeugend. Nach den Deutschen Kodierrichtlinien könne die Nebendiagnose R65.0! stets nur in Kombination mit einer weiteren Diagnose – hier der fraglichen Sepsis – kodiert werden. Erst mit der im Jahre 2018 veröffentlichten und überarbeiteten S3-Leitlinie sei die aurikuläre Fiebermessung mittels Infrarotthermometer für die Bestimmung von Fieber ausreichend („Hyper- oder Hypothermie gehören zu den Kardinalsymptomen für das Vorliegen einer Infektion. Wir empfehlen für den Nachweis einer Hyper- oder Hypothermie die Verwendung von kalibrierten Methoden, entweder über zentrale Messungen der Körperkerntemperatur [rektal, zentralvenös, Harnblase, Ösophagus] oder, falls nicht verfügbar, mittels Infrarotthermometer in Ohr oder Mund.“). Das habe jedoch noch nicht im Jahre 2017 gegolten. Denn 2017 sei die aurikuläre Temperaturmessung noch nicht von den Fachgesellschaften gebilligt worden. Die Stellungnahme von Prof. Dr. B stehe dem nicht entgegen, denn das Dimdi fordere zur Temperaturmessung ausdrücklich eine rektale, intravasale oder intravesikale Messung. Dabei müsse es aus Gründen der Rechtssicherheit bleiben.
Mit der am 1. September 2023 eingelegten Berufung, zunächst gerichtet auf die Zahlung von 12.571,80 Euro, verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Alle vier SIRS-Kriterien seien erfüllt. Das Kriterium „Fieber größer oder gleich 38°C“ habe bei dem Versicherten vorgelegen. Die Annahme des Sozialgerichts, dass im Jahre 2017 eine aurikuläre Fiebermessung unzulässig gewesen sei, sei unrichtig. Entscheidend für die Statthaftigkeit einer Messmethode sei der im Behandlungszeitpunkt bestehende Expertenkonsens bzw. der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnis. Maßstab sei nicht zwingend die einschlägige Leitlinie oder Konsensempfehlung der medizinischen Fachgesellschaft. Bereits im Jahre 2016 sei die aurikuläre Messung als geeignete Messmethode für die Körpertemperatur hinsichtlich der Feststellung der SIRS-Kriterien anerkannt gewesen. In seiner Stellungnahme vom, 24. Juli 2017 führe der Leitlinienbeauftragte der Deutschen Sepsis-Gesellschaft, Prof. Dr. F B, an, allein der Umstand, dass in der Leitlinie die aurikuläre Messmethode nicht explizit aufgeführt sei, bedeute nicht, dass diese zur Temperaturmessung und damit zur Diagnose der Sepsis ungeeignet sei. Auch der vom Sozialgericht herangezogene Sachverständige Dr. Khabe bestätigt, dass die aurikuläre Messung im Zeitpunkt der Behandlung dem allgemeinen medizinischen Konsens entsprochen habe und darüber hinaus im klinischen Alltag die einzige medizinisch sinnvolle Messmethode darstelle. Das Sozialgericht habe nicht seine eigene Auffassung zu der entscheidungserheblichen Sachfrage an die Stelle der Auffassung des medizinischen Sachverständigen setzen dürfen.
Im Laufe des Berufungsverfahrens hat die Klägerin der Zusammenführung beider Behandlungsfälle zugestimmt, die beiden Einzelrechnungen über 2.964,16 Euro bzw. 12.571,80 Euro storniert und der Beklagten für den zusammengeführten Behandlungsfall am 24. Juli 2023 auf der Basis von DRG H12A 12.501,80 Euro in Rechnung gestellt. Angesichts der von der Beklagten geleisteten Zahlung in Höhe von 6.127,69 Euro hat die Klägerin ihr mit der Berufung verfolgtes Begehren auf 6.374,11 Euro reduziert und die Berufung im Übrigen zurückgenommen (Schriftsatz vom 4. Juni 2025).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Juni 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 6.374,11 Euro nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16. September 2019 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Zu Recht habe das Sozialgericht auf die einschlägige S3-Leitlinie Bezug genommen, die für die Feststellung der Körpertemperatur nur eine rektale, intravasale oder intravesikale Messung zulasse. Auch die erst 2018 in Kraft getretene Leitlinie belege eine strukturelle Unterlegenheit der von der Klägerin angewendeten aurikulären Messmethode. Es bestehe Expertenkonsens über die Vorzugswürdigkeit der rektalen, intravasalen oder intravesikalen Messmethode.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte, des Verwaltungsvorgangs der Beklagten sowie der Patientenakte Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung auf die im Berufungsverfahren noch geltend gemachte Forderung in Höhe von 6.374,11 Euro, denn die streitige Behandlung des Versicherten ist nach DRG H12A (verschiedene Eingriffe am hepatobiliären System oder Eingriffe an abdominalen oder pelvinen Gefäßen mit äußerst schweren CC oder komplexem Eingriff) zu kodieren, da als äußerst schwere Nebendiagnose ein systemisches inflammatorisches Response-Syndrom (SIRS) infektiöser Genese (R65.0!) vorlag.
Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung sind zwischen den Beteiligten unstreitig und wurden von dem Sozialgericht zutreffend wiedergegeben, so dass der Senat insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf Bl. 6 bis 8 Mitte der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug nehmen kann.
Ebenso wenig besteht Streit darüber, dass die Nebendiagnose „systemisches inflammatorisches Response-Syndrom (SIRS) infektiöser Genese“ (R65.0!) grundsätzlich geeignet ist, eine „äußerst schwere CC“ im Sinne der DRG H12A darzustellen.
Der Senat ist der Überzeugung, und dies allein ist streitentscheidend, dass bei dem Versicherten ein systemisches inflammatorisches Response-Syndrom belastbar diagnostiziert war, was zur Ansteuerung der DRG H12A führt.
Hier sind die Rahmenbedingungen wiederum unbestritten: Bei – wie im Falle des Versicherten – negativer Blutkultur liegt ein systemisches inflammatorisches Response-Syndrom infektiöser Genese vor, wenn alle vier maßgeblichen Kriterien erfüllt sind, nämlich (1.) Körpertemperatur ≥ 38 °C oder unter 36 °C, (2.) Herzfrequenz ≥ 90/min (Tachykardie), (3.) Tachypnoe: Atemfrequenz ≥ 20/min oder Hyperventilation mit pCO2 ≤ 32 mmHg sowie (4.) Leukozytose oder Leukopenie oder Linksverschiebung.
Hiervon sind die Kriterien 2. bis 4. unstreitig erfüllt. Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten ist aber auch das erste Merkmal „Körpertemperatur ≥ 38 °C“ hinreichend sicher belegt. Hierfür ist entscheidend:
Die Messung einer Körpertemperatur von ≥ 38 °C an mehreren Tagen des streitigen Krankenhausaufenthalts ist in der Patientenakte nachvollziehbar dokumentiert. Dass die Temperaturmessungen jeweils mittels eines Infrarotfieberthermometers am Ohr des Versicherten erfolgten, ist insoweit unschädlich. Die Klägerin muss sich nämlich nicht daran festhalten lassen, dass die Definition eines systemischen inflammatorischen Response-Syndroms, wie sie ab 1. Januar 2007 von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Deutschen Sepsis-Gesellschaft (DSG) vorgenommen wurde, insoweit eine „rektale, intravasale oder intravesikale Messung“ vorsah (veröffentlicht bei https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kodiersysteme/Kodierfragen/SIRS-Definition-DIVI-DSG.html?nn=675142).
Der Wortlaut der seinerzeitigen, aus dem Jahr 2007 stammenden S2-Leitlinie entfaltet nämlich für den Senat keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung. Entscheidend ist vielmehr der tatsächliche Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis im vorliegend maßgeblichen Jahr 2017, der zur Überzeugung des Senats zur Feststellung einer Körpertemperatur ≥ 38 °C auch eine aurikuläre Fiebermessung mittels Infrarotthermometers zuließ.
Für diese Einschätzung stützt der Senat sich auf die als sachverständig zu bewertende Stellungnahme von Prof. Dr. B, Generalsekretär und Leitlinienbeauftragter der Deutschen Sepsis-Gesellschaft, vom 24. Juli 2017. Darin heißt es:
„Der Umstand, dass in der Leitlinie der Deutschen Sepsis-Gesellschaft e.V. die aurikuläre Temperaturmessung nicht explizit genannt ist, bedeutet nicht, dass diese zur Temperaturmessung und damit zur Diagnosestellung der Sepsis nicht zulässig ist. Dem Leitlinien-Komitee der DSG ist sehr wohl bewusst, dass die aurikuläre Temperaturmessung auf Normalstationen die am häufigsten angewandte Methode ist. Falls hier Einschränkungen diskutiert werden müssen, dann lediglich in der Hinsicht, dass das Risiko einer Unterschätzung der tatsächlichen Temperatur vorliegt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, eine erhöhte aurikulär gemessene Temperatur anzuzweifeln bzw. eine auf dieser Messung beruhende Sepsis-Diagnose nicht anzuerkennen.“
Der Senat misst dieser Einschätzung des fachwissenschaftlich zuständigen Mitautors der einschlägigen Leitlinie ein maßgebliches Gewicht bei.
Diese Auffassung des Leitlinienbeauftragten hat dementsprechend kurz nach dem hier streitigen Zeitraum, wie vom Sozialgericht zutreffend dargestellt, ihren Niederschlag in der seit Ende 2018 überarbeiteten S3-Leitlinie der Deutschen Sepsis-Gesellschaft gefunden, wo nunmehr als Expertenkonsensus angeführt wird (https://www.sepsis-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2024/02/SSC2021_DSG2018_Kap.-1-9_Vergleichsdokument_18_12_23.pdf):
„Hyper- oder Hypothermie gehören zu den Kardinalsymptomen für das Vorliegen einer Infektion. Wir empfehlen für den Nachweis einer Hyper- oder Hypothermie die Verwendung von kalibrierten Methoden, entweder über zentrale Messungen der Körperkerntemperatur (rektal, zentralvenös, Harnblase, Ösophagus) oder, falls nicht verfügbar, mittels Infrarotthermometer in Ohr oder Mund.“
Es liegt auf der Hand, dass der im Jahre 2018 als solcher bezeichnete „Expertenkonsensus“ sich auch schon im Jahre 2017 in der klinischen Praxis angedeutet und verfestigt haben muss. Die Einschränkung „falls nicht verfügbar“ versteht der Senat so, dass die Messung mittels Infrarotthermometer in Ohr oder Mund in Betracht gezogen werden darf, wenn die mit einem intimen Eingriff in die körperliche Integrität verbundene rektale Messung nicht ratsam erscheint.
Daher folgt der Senat auch dem vom Sozialgericht bestellten medizinischen Sachverständigen Dr. med. René K in seinem Gutachten vom 5. März 2023. Er hat plausibel dargelegt, warum bei der stationären Behandlung des Versicherten im Jahre 2017 die aurikuläre Temperaturmessung ausreichend und sachgerecht gewesen sei. Der Sachverständige hat nachvollziehbar betont, dass die rektale Temperaturmessung im klinischen Alltag an Erwachsenen nicht mehr vorgenommen werde. Die anderen in Betracht kommenden Verfahren – intravasale (innerhalb eines Blut- oder Lymphgefäßes oder „in ein Gefäß hinein“) oder intravesikale (innerhalb der Harnblase) Messung – seien invasiv mittels zentralvenösem Katheter oder Dauerkatheter durchzuführen und mit möglichen Komplikationen behaftet. Allein zum Messen der Körperkerntemperatur seien diese invasiven Methoden in einer Risiko-Nutzen-Abwägung nicht indiziert. Damit verbleibe die im klinischen Alltag etablierte aurikuläre Messung. Allein zur Temperaturmessung sei die Durchführung eines invasiven Verfahrens nicht ratsam.
All dies ist in jeder Hinsicht überzeugend. Fachwissenschaftliche Literatur belegt auch nach eigenen Recherchen des Senats eine zwischenzeitliche Abkehr von der rektalen Temperaturmessung im klinischen Alltag (z.B. S3-Leitlinie „Vermeidung von perioperativer Hypothermie“, S. 15 [„Die Rektalmessung galt lange auch bei Erwachsenen als Standardverfahren, doch sprechen verschiedene Argumente gegen diese Methode.“], 001-018l_S3_Vermeidung_perioperativer_Hypothermie_2019-08.pdf). Die im 20. Jahrhundert noch gängige rektale Temperaturmessung bei Erwachsenen kann im klinischen Alltag nach alledem als weitgehend obsolet bezeichnet werden und ist seit langem überwiegend ersetzt z.B. durch die deutlich hygienischere Messung mittels Infrarotthermometers am Ohr oder im Mund.
Intravasale oder intravesikale Temperaturmessung schieden bei dem Versicherten aus, da er weder über einen Zentral- noch über einen Harnblasenkatheter verfügte. Ihn nur zum Zwecke der Temperaturmessung zu katheterisieren, wäre medizinisch unvertretbar gewesen. Entscheidend tritt hinzu, dass die aurikuläre Temperaturmessung – was unmittelbar einleuchtet – eher zu niedrigeren Temperaturwerten führt als eine intrakorporale, z.B. rektale Messung. Daher kann ohne Weiteres als bewiesen angesehen werden, dass auch das SIRS-Kriterium „Körpertemperatur ≥ 38 °C“ bei dem Versicherten erfüllt war.
Der Zinsanspruch folgt aus § 18 Abs. 5 des zwischen den Krankenkassen bzw. ihren Landesverbänden und der Landeskrankenhausgesellschaft Brandenburg e.V. für das Land Brandenburg gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V geschlossenen Vertrages über Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung (ABK-Vertrag), wonach das Krankenhaus ab Fälligkeitstag ohne vorherige Mahnung Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz berechnen kann.
Die Kostenentscheidung beruht für die Sachentscheidung des Senats auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO, denn insoweit ist die Beklagte unterlegen. Da die Klägerin das Ausgangs- und das Berufungsverfahren mit einer Klageforderung von 12.571,80 Euro betrieben und ihre Forderung erst durch Schriftsatz vom 4. Juni 2025 auf 6.374,11 Euro reduziert hat, fällt ihr die Hälfte der Kosten zur Last, § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.