L 15 U 124/25 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 4 U 181/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 124/25 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 29.11.2024 geändert. Die dem Antragsteller für sein im Verfahren S 4 U 181/21 erstattetes arbeitstechnisches Gutachten vom 11.12.2023 zustehende Vergütung wird auf 5.830,88 Euro festgesetzt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe:

Die wegen der begehrten Herabsetzung der Vergütung um 2.713,20 Euro auf 3.938,78 Euro nach Maßgabe von § 4 Abs. 3 Satz 1 JVEG statthafte und auch im Übrigen zulässige, namentlich am 18.12.2024 formgerecht (§ 4b JVEG i.V.m. § 65d i.V.m. § 65a Abs. 3 SGG) eingelegte Beschwerde der Landeskasse, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 03.02.2025) und über die der Senat mangels besonderer Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art oder grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache durch den Vorsitzenden und Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet (§ 4 Abs. 7 Satz 1 und 2 JVEG), ist teilweise begründet. Das Sozialgericht hat die dem Antragsteller für sein im Verfahren des Sozialgerichts S 4 U 181/22 erstattetes arbeitstechnisches Sachverständigengutachten vom 11.12.2023 zustehende Vergütung mit den in Rechnung gestellten 6.651,98 Euro zu hoch festgesetzt. Dem Antragsteller steht vielmehr lediglich eine Vergütung in Höhe von 5.830,88 Euro zu. Demgegenüber ist die vom Antragsgegner begehrte Kürzung auf 3.938,78 Euro nicht gerechtfertigt.

 

1. Zwischen den Beteiligten ist lediglich die Vergütung nach Zeitaufwand gemäß §§ 8 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 9 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Anlage 1 JVEG in der gemäß § 24 Satz 1 JVEG anwendbaren Fassung vom 01.01.2021 bis zum 31.05.2025 streitig. Insoweit stehen dem Antragsteller lediglich 4.830,00 Euro und nicht die in der Rechnung vom 12.12.2023 geltend gemachten 5.520,00 Euro zu.

 

a) Die Beteiligten und auch das Sozialgericht haben übersehen, dass zugunsten des Antragstellers nicht die Honorargruppe M 3 nach Teil 2 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG, sondern die Honorargruppe 5 nach Teil 1 dieser Anlage zu Anwendung kommt. Der Stundensatz beträgt deshalb nach der bis zum 31.05.2025 geltenden Fassung der Anlage 105,- Euro und nicht 120,- Euro.

 

Die Honorargruppen M 1 bis M 3 umfassen nach ihrer Überschrift Gegenstände medizinischer und psychologischer Gutachten (Schmidt, in: Dörndorfer/Schmidt/Zimmermann, 6. Aufl. 2025, JVEG Anlage 1 (zu § 9 Abs. 1 Satz 1) Rn. 4). Nicht ausschlaggebend ist die Ausbildung des Sachverständigen, denn die Vergütungsgruppen M 1 bis M 3 sind nicht Medizinern und Psychologen vorbehalten, sondern werden im Fall der Einholung eines Gutachtens auf medizinischem oder psychologischem Gebiet angewandt. Entscheidend ist damit, ob inhaltlich ein solches Gutachten angefordert wurde und nicht, welchen beruflichen Abschluss der Sachverständige hat (Hessisches LSG, Beschl. v. 28.03.2019 – L 2 U 169/18 B -, juris Rn. 37).

 

Danach scheidet eine thematische Zuordnung zum Teil 2 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG aus. Es kommt zwar nicht darauf an, dass der Antragsteller als Diplom-Chemiker nicht über einen beruflichen Abschluss als Mediziner oder Psychologe verfügt. Entscheidend ist vielmehr, dass er nach der gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 JVEG maßgeblichen Beweisanordnung des Sozialgerichts kein Sachverständigengutachten auf medizinischem oder psychologischen Fachgebiet, sondern ein arbeitstechnisches Sachverständigengutachten im Wesentlichen dazu zu erstatten hatte, ob der Kläger bei den verschiedenen von ihm durchgeführten beruflichen Tätigkeiten Kontakt zu „relevanten aromatischen Aminen im Sinne der der BK 1301 der Anlage zur BKV“ hatte. Medizinische Fragen irgendwelcher Art hat ihm das Sozialgericht nicht gestellt.

 

Inhaltlich betraf das beim Antragsteller in Auftrag gegebene Gutachten vielmehr eindeutig die Honorargruppe 5 des Teils 1 der Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 Satz 1 JVEG (Berufskunde, Tätigkeitsanalyse und Expositionsermittlung). Die Aufgabe des Antragstellers bestand darin, die berufliche Exposition des Klägers gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen nach Art und Umfang zu ermitteln bzw. einzuschätzen. Zur Anwendung kommt damit ein Stundensatz von 105,- Euro.

 

b) Was den erforderlichen Zeitaufwand betrifft, folgt der Senat der Einschätzung des Sozialgerichts und hält den gesamten vom Antragsteller angegebenen Zeitaufwand von 46 Stunden für erforderlich.

 

aa) Ebenso wie das Sozialgericht hält der Senat auch für arbeitstechnische Sachverständigengutachten die in ständiger Rechtsprechung praktizierte Aufschlüsselung des Zeitaufwands in die Arbeitsschritte „Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten“, Untersuchung und Anamnese“, „Abfassung der Beurteilung“ und „Diktat und Korrektur“ für sachgerecht, wobei der Arbeitsschritt „Untersuchung und Anamnese“ regelmäßig entfallen und nur bei einer Befragung der Versicherten durch die Sachverständigen relevant werden dürfte. 

bb) Zwischen den Beteiligten ist hier lediglich die Erforderlichkeit des Zeitaufwandes für den Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ streitig, den der Antragsteller mit 31 Stunden und 10 Minuten (also 31,17 Stunden) angegeben hat und den der Antragsgegner nur im Umfang von 12 Stunden als erforderlich ansieht.

 

Der Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ umfasst die Beantwortung der vom Gericht gestellten Fragen und die nähere Begründung, also den Teil des Gutachtens, den das Gericht bei seiner Entscheidung verwerten kann, um ohne medizinischen Sachverstand seine Entscheidung begründen zu können. Dazu gehört die diktatreife Vorbereitung der Beurteilung ohne Wiedergabe der Anamnese, der Untersuchungsergebnisse oder Befunde, einschließlich der Begründung der vom Sachverständigen getroffenen Schlussfolgerung, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Vorgutachten, anders lautenden Befunden sowie die Auseinandersetzung mit kontroversen Meinungen. In diesem Arbeitsschritt werden die eigentliche Gedankenarbeit im Zusammenhang mit der Auswertung der erhobenen Befunde, deren Würdigung im Hinblick auf die Beweisfragen sowie die diktatreife Vorbereitung abgegolten. Der Senat hat insoweit schon mehrfach entschieden, dass der notwendige Zeitaufwand für die gesamte gedankliche Arbeit des Sachverständigen, die dieser objektiv benötigt, um die Beweisfragen schlüssig und für das Gericht nachvollziehbar zu beantworten, zu berücksichtigen ist. Zur gedanklichen Arbeit eines Sachverständigen gehört auch das Rekapitulieren und analytische Auswerten von Befunden und dem relevanten Akteninhalt. Ebenso gehört die Konzeption eines für das Gericht nachvollziehbaren analytischen Textes hierzu.

 

Darüber hinaus entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass sich, was die objektive Erforderlichkeit des vom Sachverständigen für die gedankliche Arbeit in diesem Sinne angegebenen tatsächlichen Zeitaufwands betrifft, ein schematischer Prüfungsansatz im Sinne einer bestimmten Seitenzahl pro Stunde verbietet. Maßgeblich sind vielmehr der Umfang und die Schwierigkeit der gedanklichen Arbeit des Sachverständigen im Einzelfall (vgl. zum Ganzen Beschl. des Senats v. 20.02.2015 - L 15 KR 376/14 B -, juris Rn. 29). In Ermangelung empirischer Grundlagen darüber, wie viel Zeit Sachverständige eines bestimmten medizinischen Fachgebietes für die Klärung bestimmter medizinischer Fragestellungen durchschnittlich benötigen, bleibt nur die Möglichkeit, einen sehr groben Vergleich mit anderen Abrechnungsfällen bezogen auf das konkrete medizinische Fachgebiet vorzunehmen. Auf diese Weise mag man aus den Angaben verschiedener Sachverständiger einer bestimmten medizinischen Fachrichtung einen üblichen, groben Zeitrahmen für den Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ bilden können, der eine Orientierungshilfe geben kann. Darüber hinaus ist der Tatsachenvortrag des Sachverständigen einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Hierbei erlangen auch Inhalt und Umfang der schriftlichen Ausführungen zur Beantwortung der Beweisfragen einschließlich eines vorausgehenden analytischen Textes (z.B. unter der Überschrift „Beurteilung“), der die gedankliche Arbeit des Sachverständigen deutlich und vor allem dem Gericht die Beantwortung der Beweisfragen verständlich und plausibel macht, Bedeutung. Lassen die schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen beispielsweise ausführliche und vertiefte Gedankengänge nicht erkennen, ist die Angabe eines hohen Zeitaufwandes für die gedankliche Arbeit nicht plausibel. Der Senat hat dementsprechend die Kürzung des vom Sachverständigen angegebenen Zeitaufwandes stets für zutreffend erachtet, wenn die Beantwortung der Beweisfragen einschließlich eines vorausgehenden analytischen Textes sehr kurz ausfällt, der Sachverständige jedoch einen recht umfangreichen Zeitaufwand für den Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ geltend macht. Kann jedoch ein grobes Missverhältnis zwischen Inhalt und Umfang der entsprechenden schriftlichen Ausführungen im Sachverständigengutachten einerseits und den Angaben des Sachverständigen zum tatsächlich benötigten Zeitaufwand andererseits nicht festgestellt werden, wird eine Vergütungskürzung regelmäßig rational nicht begründbar sein. Sie hat dann zu unterbleiben (vgl. zum Ganzen den Beschluss des Senats vom 27.12.2022 – L 15 SO 300/22 B –).

 

Ausgehend von diesen Grundsätzen sieht der Senat für eine Kürzung des vom Antragsteller geltend gemachten Zeitaufwandes keine Grundlage.

 

Der Sachverständige hat sehr genau die von ihm für den Arbeitsschritt „Abfassung der Beurteilung“ tatsächlich benötigte Zeit konkretisiert. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller tatsächlich weniger Zeit benötigt hat, fehlen und werden vom Antragsgegner auch nicht benannt.

 

Der vom Antragsteller gennannte tatsächliche Zeitaufwand erscheint zwar hoch, ist aber in Anbetracht der ausführlichen und vertieften Ausführungen des Antragstellers in seinem Gutachten vom 11.12.2023 noch plausibel. Der Senat betrachtet dabei die gesamten Ausführungen des Sachverständigen von Seite 16 bis 39 seines Gutachtens. Dass und warum der angegebene Zeitaufwand unter dem Gesichtspunkt fehlender Erforderlichkeit gekürzt werden sollte, weil der Antragsteller auf den Seiten 16 bis 26 Ausführungen allgemeiner Art zu aromatischen Aminen und ihren chemischen Eigenschaften gemacht hat, erschließt sich nicht. Die betreffenden Ausführungen sind für das Verständnis der Beantwortung der Beweisfragen durch den Antragsteller unerlässlich und vermitteln darüber hinaus dem Gericht ein vertieftes Verständnis über chemische Zusammenhänge im Rahmen der BK 1301. Es erscheint dem Senat darüber hinaus ohne weiteres plausibel, dass die Konzeption des gesamten Textes auf den Seiten 16 bis 39 des Gutachtens erheblichen Zeitaufwand erforderte. Insoweit fällt entscheidend ins Gewicht, dass arbeitstechnische Sachverständigengutachten in sozialgerichtlichen Verfahren eher selten eingeholt werden und nicht nach einem irgendwie gearteten standardisierten Schema erstellt werden können. Richterinnen und Richter der Sozialgerichte sind mit solchen naturwissenschaftlichen Themen wesentlich weniger vertraut als mit medizinischen Sachverständigengutachten. Der Antragsteller musste deshalb in besonderem Maße auf gute Verständlichkeit seiner Ausführungen achten, was ohne Zweifel erhebliche Zeit in Anspruch nahm.

 

Schließlich fehlen für arbeitstechnische Sachverständigengutachten auch jegliche Erfahrungswerte zur die Erforderlichkeit von Zeitaufwand.

 

cc) Zuzüglich des unstreitig erforderlichen Zeitaufwandes von 9,0 Stunden für „Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten“ und 5,67 Stunden für „Diktat und Korrektur“ (4 Stunden 20 Minuten für Diktat und 1 Stunde 20 Minuten für Korrektur und Durchsicht) ergeben sich damit 45,84 Stunden, die nach § 8 Abs. 2 Satz 2 1. HS JVEG auf 46 Stunden aufzurunden sind.

 

c) Die Vergütung nach Zeitaufwand beträgt mithin 4.830,00 Euro (46 x 105,- Euro).

 

2. Darüber hinaus kann der Antragsteller gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 JVEG die geltend gemachten Schreibgebühren (65,70 Euro) und gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 JVEG die Kosten für Porto (4,20 Euro) als Aufwendungsersatz verlangen. Gleiches gilt gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 JVEG für die Umsatzsteuer, die auch auf das Porto zu entrichten ist (vgl. den Beschluss des Senats vom 10.01.2022 - L 15 VG 51/21 B -, juris Rn. 21), und somit 930,98 Euro beträgt.

 

3. Der Vergütungsanspruch des Antragstellers beträgt damit insgesamt 5.830,88 Euro.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 4 Abs. 8 JVEG.

 

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG, § 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG).

Rechtskraft
Aus
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