Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 25.10.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Streitig sind Höhe und Beginn der Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin beantragte am 20.07.2016 bei dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem OEG wegen jahrelangen sexuellen Missbrauchs im Kindesalter durch ihren leiblichen Vater C.. Sie leide deswegen unter einem Globusgefühl, Angstzuständen, Depressionen, Essstörungen und Panikattacken. Eine frühere Geltendmachung von Ansprüchen sei nicht erfolgt, da sie erst durch den Weißen Ring von dieser Möglichkeit erfahren habe.
Der Beklagte zog Schulzeugnisse der Klägerin, einen Bericht des behandelnden H., eine Auskunft der Krankenkasse sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Bielefeld (15 Js 1452/87) bei. Danach war aufgrund einer Strafanzeige vom 28.10.1978 ein Verfahren gegen den Vater der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in besonders schwerem Fall eingeleitet worden. Geschädigte war die ältere Schwester der Klägerin, die am 00.00.0000 geborene L.. C. wurde aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Minden vom 28.10.1978 vorläufig festgenommen und mit Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 29.11.1988 (A 6/88 III) wegen fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Nach den Feststellungen der Kammer hatte der Angeklagte sich der Schwester der Klägerin ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren zunächst sexuell genähert und spätestens ab ihrem 13. Lebensjahr regelmäßig den Geschlechtsverkehr mit ihr vollzogen, zuletzt Anfang 1987. Das dabei gezeugte Kind wurde von der Schwester der Klägerin unmittelbar nach seiner Geburt getötet. Die Revision des Angeklagten wurde mit Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 04.04.1998 (4 StR 121/89) als unbegründet verworfen. Die Klägerin und ihre Mutter hatten im Strafverfahren von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.
Der Beklagte holte zudem eine Aussage der mit den Ermittlungen gegen C. betrauten Kriminalhauptkommissarin U. vom 15.09.2016 ein. Diese gab an, sie habe die Klägerin damals vernommen. Diese habe auf ihre Frage, ob sie auch Opfer von Missbrauchshandlungen durch ihren Vater geworden sei, mit einem Kopfnicken - also einer vermeintlichen Bestätigung - reagiert. Eine Aussage sei nicht protokolliert worden, da die Klägerin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe.
Auf Befragen der Beklagten gab die Klägerin ergänzend an, ihr Vater habe ab ihrem 5. Lebensjahr bis zu seiner Festnahme immer, wenn es ihm möglich gewesen sei, vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt. Die Häufigkeit habe variiert, zwischen mehrmals wöchentlich und „nur“ vier Mal im Monat. Stattgefunden habe dies im Schrebergarten, im Ehebett der Eltern oder im Auto.
In einem Vermerk vom 12.01.2017 gelangte der Beklagte zu der Einschätzung, die Taten könnten aufgrund der Stellungnahme der Klägerin wie beschrieben anerkannt werden. Die Glaubhaftigkeit ergebe sich aus der Tatsache, dass der Vater (Täter) wegen sexuellen Missbrauchs an der älteren Schwester verurteilt worden sei.
Sodann veranlasste der Beklagte eine Begutachtung durch N.. Diese diagnostizierte nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 28.12.2017 eine posttraumatische Belastungsstörung mit somatischen Beschwerden und ging von einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 aus (Gutachten vom 09.01.2018).
Mit Bescheid vom 05.02.2018 erkannte der Beklagte die Gesundheitsstörung „Posttraumatische Belastungsstörung mit somatischen Beschwerden“ als Schädigungsfolge mit einem GdS von 40 an und gewährte der Klägerin Grundrente ab dem 01.07.2016. Die anerkannte Schädigungsfolge sei durch mehrfachen sexuellen Missbrauch im Kindesalter verursacht worden. Ausgehend von einer Schädigung am 01.07.1976 sei der Antrag auf Versorgung nicht innerhalb der Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG gestellt worden. Verhinderungsgründe im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG lägen nicht vor. Deshalb beginne die Versorgung mit dem Antragsmonat.
In ihrem dagegen mit Schreiben vom 26.02.2018 eingelegten Widerspruch führte die Klägerin aus, dass ein GdS von mindestens 50 festzusetzen sei. Ihre Erkrankung habe sie zudem ohne ihr Verschulden daran gehindert, die Beschädigtenversorgung zu beantragen. Die nicht erfolgte Beantragung durch die Mutter sei ihr nicht zuzurechnen. Da sie zunächst von Oktober 1987 bis zum Eintritt der Volljährigkeit am 00.00.1989 wegen der Untätigkeit der Mutter und danach wegen der Verdrängung durch die Wirkung der Erkrankung bis zur erfolgten Antragstellung ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Leistungen zu beantragen, verlängere sich die Jahresfrist nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG um den Zeitraum der Verhinderung. Die Rente sei daher rückwirkend zum Zeitpunkt der Schädigung zu bewirken.
Der Beklagte holte eine fachärztliche Stellungnahme von N. ein, die die Voraussetzungen für einen GdS von 50 verneinte. Die Klägerin sei in der Lage, ihre Alltagsdinge zu bewältigen. Es sei keine externe Hilfe notwendig. Es sei ihr möglich, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Sie sei seit 1992 verheiratet, die Ehe habe bis heute gut gehalten. Sie habe vier Kinder geboren, die gut geraten und alle berufstätig seien. Sie führe ein zufriedenes Freizeitverhalten, arbeite gern im Garten, habe Hunde, lebe sehr in der Natur. Von einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten sei mit diesen sozialen Fähigkeiten nicht auszugehen. Die Klägerin wäre zudem aus ärztlicher Sicht schon früher in der Lage gewesen, einen Antrag zu stellen (Stellungnahme vom 07.06.2018).
Der Widerspruch wurde sodann mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2018 zurückgewiesen. Nach Überprüfung der Angelegenheit bestehe keine Möglichkeit für eine andere Beurteilung. Der angefochtene Bescheid entspreche der Sach- und Rechtslage.
Hiergegen hat die Klägerin am 14.08.2018 Klage zum Sozialgericht (SG) Detmold erhoben. Die schwere posttraumatische Störung sei nicht hinreichend gewürdigt worden und rechtfertige mindestens einen GdS von 50. Darüber hinaus habe ihre Erkrankung nachvollziehbar jegliche frühere Antragstellung verhindert. Auf diese entscheidende Problematik sei N. nicht eingegangen.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 05.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2018 zu verurteilen, ihr Rente nach einem GdS von 60 ab 1996 zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat den angefochtenen Bescheid verteidigt und eine versorgungsärztliche Stellungnahme der J. vom 07.01.2019 zur Gerichtsakte gereicht, wonach aus den vorliegenden Unterlagen weder ein höherer GdS als 40 noch ein Beleg für eine Hinderung an einer früheren Antragstellung erkennbar seien.
Das SG hat nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der S.. Diese hat aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27.06.2019 als Schädigungsfolgen eine posttraumatische Belastungsstörung mit einem Einzel-GdS von 30, eine somatoforme autonome Funktionsstörung mit einem Einzel-GdS von 30 sowie eine abhängige Persönlichkeitsstörung mit einem Einzel-GdS von 20 festgestellt. Schädigungsunabhängig bestünden Fahrängste als Folge eines Verkehrsunfalls. Es ergebe sich eine deutliche Überschneidung in den Auswirkungen bzw. Einschränkungen der schädigungsbedingten psychischen Störungen, sodass ein Gesamt-GdS von 40 veranschlagt werde. Eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten liege nach der gezeigten biographischen Entwicklung als auch der Lebensführung aktuell nicht vor. Die Klägerin sei trotz der bei ihr bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen in der Lage gewesen, vor Juli 2016 einen Antrag nach dem OEG bei Kenntnis dieser Möglichkeit zu stellen. Trotz des bei ihr bestehenden psychischen Störungsbildes sei sie in der Lage gewesen, eigene Wünsche/berufliche Vorstellungen zu realisieren und auch konkret anzugehen bzw. umzusetzen. Zudem habe sie eine aktive Alltagsgestaltung im Zusammenhang mit dem Aufziehen der Kinder angegeben (Gutachten vom 12.09.2019).
Die Klägerin hat dazu ausgeführt, dass die posttraumatische Belastungsstörung, die somatoforme Funktionsstörung und die abhängige Persönlichkeitsstörung nicht in gleichem Maße die gleichen Lebensbereiche beträfen und nicht die gleichen Beeinträchtigungen bedingen würden, sondern das Gesamtausmaß der Behinderung erhöhen würden. Die posttraumatische Belastungsstörung wirke sich mehr im äußeren Umfeld aus, während die abhängige Persönlichkeitsstörung mehr im privaten Umfeld ihre Erlebnis- und Gestaltungsmöglichkeiten einschränke. Insgesamt sei eine Erhöhung auf mindestens 50 bzw. 60 angemessen. Die Feststellung, dass sie schon vor Juli 2016 in der Lage gewesen sein solle, einen Antrag zu stellen, sei nicht nachzuvollziehen. Es bestehe ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten in Bezug auf Täter, Täterumfeld, Tat und Auseinandersetzung damit. Auch habe sie tatsächlich keinerlei „beruflichen Wünsche“ realisiert und keine „beruflichen Vorstellungen“. Eine Ausbildung habe sie abgebrochen, danach habe sie nur hin und wieder gejobbt. Allein die Tatsache, dass sie ein Gewerbe angemeldet habe, reiche für eine andere Ansicht nicht aus. Auch bei der Kindererziehung habe ihr Ehemann sie unterstützt und im Wesentlichen gehandelt.
Auf Antrag der Klägerin hat das SG sodann nach § 109 SGG ein Gutachten des I. eingeholt. Dieser hat als Schädigungsfolgen eine anhaltende Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Agoraphobie mit Panikstörung sowie eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome diagnostiziert und den GdS mit 60 angegeben. Dieser bestehe seit 1996. Betrachte man die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine frühzeitigere Antragstellung - etwa Intelligenz, Kulturtechniken, Handlungsfähigkeit etc. - seien keine grundsätzlichen Hinderungsgründe ersichtlich. Hätte man einen Antrag nach OEG früher angeregt, wäre die Klägerin in der Lage gewesen, diesen zu stellen. Aufgrund der Persönlichkeitsänderung sei sie nicht in der Lage gewesen, den OEG-Antrag früher zu stellen (Gutachten vom 03.04.2020).
Der Beklagte ist dem Gutachten von I. unter Vorlage einer ärztlichen Stellungnahme von J. entgegengetreten und hat die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme von S. angeregt (Stellungnahme vom 30.04.2020).
Auf Antrag der Klägerin hat das SG eine ergänzende Stellungnahme von I. vom 26.06.2020 eingeholt, welcher der Beklagte erneut unter Vorlage einer Stellungnahme von J. vom 07.08.2020 entgegengetreten ist.
Das SG hat sodann von Amts wegen ein Gutachten des Z. eingeholt. Dieser hat als Schädigungsfolgen eine leichtgradige emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ, eine leichtgradige posttraumatische Belastungsstörung, eine leichtgradige Agoraphobie, eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode sowie ein leichtgradiges Fremdkörpergefühl im Hals (Globusgefühl) diagnostiziert und einen GdS von 40 angenommen. Darüber hinausgehende Teilhabebeeinträchtigungen, etwa in Form mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten, ließen sich nicht feststellen. Zwar habe die Klägerin ihren sozialen Radius weitgehend auf ihre Partnerschaft und Familie mit ihren vier Kindern begrenzt. Sie sei aber in der Lage, seit nunmehr fast 40 Jahren ihre Partnerschaft stabil aufrechtzuerhalten, eine funktionierende Beziehung zu ihren vier Kindern zu pflegen, sich um die eigene Versorgung mit Körperpflege und Ernährung zu kümmern, eigenen kreativen Interessen regelmäßig nachzugehen, sich in der Natur regelmäßig aufzuhalten und zu bewegen, zusammen mit dem Ehemann oder anderen Familienmitgliedern außerhäusige Aktivitäten zu unternehmen sowie häuslichen Pflichten verantwortlich nachzukommen. Soweit die Klägerin stärkergradige Einschränkungen in Bezug auf außerhäusige Aktivitäten geltend mache, erkläre sich dies aus einer sekundären Motivlage mit erheblichem sekundären Gewinn, wenn sie durch symbiotisch-abhängige Beziehungsgestaltung und Zurückstellung von Selbständigkeit wichtige Bezugspersonen (Ehemann, Familie) binden könne. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin den Antrag nach OEG gerade in einer Phase gestellt habe, in der es ihr psychisch schlechter ging bis hin zu Suizidgedanken, d.h. in einer Phase, in der sie krisenbedingt weniger Zugriff auf ihre psychischen Fähigkeiten hatte, ergäben sich keine Hinweise darauf, warum es ihr nicht bereits in früheren Jahren möglich gewesen sein sollte, den Antrag zu stellen. Dass sie den Antrag erst im Juli 2016 gestellt habe, erkläre sich ausschließlich daraus, dass sie erst zu diesem Zeitpunkt über die erstmalige Kontaktaufnahme mit dem Weißen Ring von dieser Möglichkeit Kenntnis erlangt habe. Medizinische oder psychische Gründe hätten diesbezüglich keine Rolle gespielt. Mit den Ausführungen von N., J. und S. stimme er in Bezug auf die Einschätzung der Teilhabefähigkeiten und damit des gewaltbedingten GdS in Höhe von 40 überein. Die von I. gestellte Diagnose einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung könne nicht gestellt werden, da bereits die Eingangskriterien nicht erfüllt seien. Die von ihm angenommenen weitreichenden Funktions- und Teilhabeeinschränkungen seien nicht plausibel, ebenso seine Ausführungen zur Frage etwaiger Hinderungsgründe, einen Antrag nach OEG früher zu stellen. Insgesamt sei auch seine GdS-Einschätzung von 60 nicht nachvollziehbar (Gutachten vom 30.03.2021).
Auf Antrag der Klägerin hat das SG sodann eine weitere Stellungnahme des Sachverständigen I. eingeholt. Dieser ist bei seiner Einschätzung eines GdS von 60 verblieben. Auch sei die Klägerin zu einer früheren Antragstellung nicht fähig gewesen (Stellungnahme vom 17.06.2021).
Das SG hat sodann von Amts wegen eine Stellungnahme des Sachverständigen Z. eingeholt. Dieser hat zusammenfassend ausgeführt, dass sich aus den Ausführungen der Klägerin sowie der Stellungnahme von I. keine neuen Erkenntnisse oder Hinweise auf bedeutsame Mängel in seinem Gutachten ergäben, die zu einer abweichenden Einschätzung führen würden, insbesondere auch nicht hinsichtlich der Einschätzung der Diagnosen, des Ausmaßes der Funktions- und Teilhabebeeinträchtigung und des GdS (Stellungnahme vom 07.08.2021).
Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 25.10.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Bei der Klägerin lägen nach den Feststellungen von Z. als Schädigungsfolgen eine leichtgradige emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ, eine leichtgradige posttraumatische Belastungsstörung, eine leichtgradige Agoraphobie, eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode sowie ein leichtgradiges Fremdkörpergefühl im Hals (Globusgefühl) vor. Diese Schädigungsfolgen seien in Übereinstimmung mit Z. mit einem GdS von 40 zu bewerten. Nach dessen Feststellungen bestünden bei der Klägerin ereignisbedingt stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, die nach Teil B Nr. 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten seien. Z. habe die Einschätzung im oberen Ermessensbereich getroffen, da sich Teilbereiche wie Schwierigkeiten in der Gestaltung von Interaktionen sowie in der Einschätzung eigener Fähigkeiten deutlicher eingeschränkt darstellen würden. Ein höherer GdS als 40 komme nicht in Betracht, da sich Teilhabebeeinträchtigungen, etwa in Form mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten, nicht feststellen ließen. Zwar habe die Klägerin ihren sozialen Radius weitgehend auf ihre Partnerschaft und auf Familie mit ihren vier Kindern begrenzt. Sie sei aber in der Lage, seit nunmehr fast 30 Jahren ihre Partnerschaft stabil aufrecht zu erhalten, eine funktionierende Beziehung zu ihren vier Kindern zu pflegen, sich um die eigene Versorgung mit Körperpflege und Ernährung zu kümmern, eigenen kreativen Interessen regelmäßig nachzugehen, sich in der Natur regelmäßig aufzuhalten und zu bewegen, zusammen mit dem Ehemann oder mit anderen Familienmitgliedern außerhäusliche Aktivitäten zu unternehmen sowie häuslichen Pflichten verantwortlich nachzukommen. In Bezug auf das Meideverhalten, allein außerhäusige Aktivitäten zu unternehmen, sei festzustellen, dass die Klägerin zumindest regelmäßig allein mit ihren beiden Hunden Spaziergänge unternehme und hierbei sowohl Haus und Grundstück verlasse als auch zumindest zeitweise den unmittelbaren Dorfbereich, wenn sie nämlich in die Natur und an die nahegelegene X. gehe, des Weiteren auch zum Fotografieren. Es ergäben sich keine Hinweise, warum es der Klägerin nicht möglich sein sollte, auch allein mit dem Auto, Fahrrad, zu Fuß oder öffentlichen Verkehrsmitteln andere Orte aufzusuchen, etwa zum Einkaufen, zu Unternehmungen oder auch zu einer ambulanten Psychotherapie. Wenn die Klägerin hier stärkergradige Einschränkungen geltend mache, so erkläre sich dies aus einer sekundären Motivlage mit erheblichem sekundären Gewinn, wenn sie nämlich durch symbiotisch-abhängige Beziehungsgestaltung und Zurückstellung von Selbstständigkeit wichtige Bezugsperson (Ehemann, Familie) binden könne. Dies sei dabei nicht derart ausgeprägt, dass ihr eine Korrektur dieses dysfunktionalen Verhaltens nicht möglich wäre, sondern die Klägerin sei in der Lage, dies mit zumutbarer Willensanstrengung zu überwinden. Eine „schwere Störung“ im Sinne von Teil B Nr. 3.7 VMG, die mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten wäre, liege bei der Klägerin dementsprechend nicht vor. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf die Gewährung von Rente für die Zeit vor dem 01.07.2016. Allein das fehlende Wissen um einen möglicherweise bestehenden Anspruch nach § 1 OEG stelle keinen Anwendungsfall von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG dar, weil jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt als bekannt gelten und im Sozialrecht für den Bürger vielfältige Möglichkeiten bestünden, sich über seine sozialen Rechte zu informieren. Die Klägerin sei auch unter Berücksichtigung ihrer psychischen Verfassung in der Lage gewesen, den Antrag vor Juli 2016 zu stellen. Den Feststellungen des nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen I. könne nicht gefolgt werden, da die von ihm gestellte Diagnose einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung nicht ICD-10-konform gestellt werden könne, da bereits die Eingangskriterien nicht erfüllt seien. Auch der GdS-Einschätzung von 60 könne nicht gefolgt werden, da kein nachvollziehbarer Nachweis erbracht werde, der dieses Ausmaß an Teilhabeeinschränkungen hinreichend wahrscheinlich machen würde. Insbesondere erbringe I. keine nachvollziehbare Begründung, warum die Ressourcen der Klägerin derart eingeschränkt sein sollen, wenn sie zugleich in verschiedenen Lebensbereichen Kreativität, Engagement und Pflichtbewusstsein zeige. Die Ausführungen des Sachverständigen I. zur Frage etwaiger Hinderungsgründe, einen Antrag nach dem OEG früher zu stellen, erschienen widersprüchlich und nicht plausibel.
Die Klägerin hat gegen das ihrem Bevollmächtigten am 04.11.2021 zugestellte Urteil am 30.11.2021 Berufung eingelegt. Sie trägt unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens vor, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung zu einer selbstständigen Lebensführung nicht befähigt und ohne Unterstützung ihres Ehemannes „aufgeschmissen“ sei. Insoweit müsse der Argumentation und den Ausführungen des Sachverständigen I. gefolgt werden.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichtes Detmold vom 25.10.2021 in vollem Umfang aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 05.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2018 zu verurteilen, der Klägerin eine Rente nach einem Grad der Schädigung von 60 ab dem Jahr 1996 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 12.01.2022 zu einer Entscheidung des Rechtsstreits im Beschlusswege nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.
Die Klägerin hat daraufhin erneut vorgetragen, dass sie erheblich eingeschränkt sei und angeregt, ihren Ehemann als Zeugen zu hören.
Die Berichterstatterin hat daraufhin mit Schreiben vom 01.03.2022 mitgeteilt, dass eine weitere Beweiserhebung nicht beabsichtigt sei und erneut zu einer Entscheidung des Rechtsstreits im Beschlusswege nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
II.
Der Senat konnte gemäß § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden, nachdem der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind unter dem 01.03.2022 gehört worden.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zu Recht abgewiesen, weil die Klägerin durch den angefochtenen Bescheid vom 05.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2018 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert wird. Ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach einem höheren GdS als 40 ab dem Jahr 1996 ist nicht nachgewiesen.
Wegen der Einzelheiten der Begründung nimmt der Senat zunächst nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils des SG vom 25.10.2021, denen er sich nach eigener Urteilsbildung anschließt.
Zum Berufungsvorbringen, das im Wesentlichen dem erstinstanzlichen Vorbringen entspricht und ergänzend zu den Ausführungen des SG weist der Senat auf Folgendes hin:
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Grundsätzlich bedürfen diese drei Glieder der Kausalkette des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit (vgl. etwa Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, juris Rn. 26, 33).
Für den Vollbeweis ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch noch zweifelt, d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92, juris Rn. 14).
Vorliegend ist nicht nachgewiesen, dass bei der Klägerin eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliegt, die einen GdS von 60 bedingt.
Zur Auslegung des Begriffs „mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten“ können die vom Ärztlichen Sachverständigenbeirats am Beispiel des schizophrenen Residualzustandes entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden (vgl. Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19.03.1998 und vom 08./09.11.2000; vgl. auch Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 9. Aufl. 2018, S. 160f.). Danach werden mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten wie folgt beschrieben: In den meisten Berufen sich auswirkende psychische Veränderungen, die zwar weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt; erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z.B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. Psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Behinderungsgrad von 30 bis 40 rechtfertigen, sind nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet.
Hiernach ist die Bewertung des Sachverständigen Z. mit einem GdS von 40 nicht zu beanstanden. Zwar erfüllen die bei der Klägerin durch ihre psychiatrische Erkrankung festzustellenden Teilhabebeeinträchtigungen zum Teil bereits Kriterien einer mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit. Überwiegend weisen die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen indes auf eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit.
Zwar bestehen bei der Klägerin aufgrund der schädigungsbedingten psychiatrischen Erkrankungen Funktionsbeeinträchtigungen in vielen Bereichen. Erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung sind aber nicht auszumachen. Die Klägerin führt seit 30 Jahren eine intakte Ehe, sie versorgt ihren Haushalt, kümmert sich um ihre inzwischen erwachsenen Kinder und geht ihren Hobbys nach. Nach dem von Z. erhobenen psychopathologischen Befund war die Stimmungslage leichtgradig depressiv-dysphorisch, es bestanden keine tieferen depressiven Stimmungseinbrüche, die affektive Schwingungsfähigkeit war nicht bedeutsam eingeschränkt. Die Klägerin wirkte insgesamt vermehrt angespannt bei ansonsten unauffälliger Psychomotorik.
Das nach § 109 SGG eingeholte Gutachten des Sachverständigen I., wonach ein GdS von 60 vorliegt, vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des SG vom 25.10.2021. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Befragung durch I. - anders als bei der Begutachtung durch Z. - in Anwesenheit des Ehemannes erfolgt ist. Insoweit ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass die Anwesenheit des Ehemannes das Aussageverhalten der Klägerin beeinflusst hat. Soweit I. zudem einen GdS von 60 seit 1996 annimmt, ist dies im Hinblick auf die Angaben der Klägerin zu ihrer biographischen Anamnese nicht nachvollziehbar.
Gegen eine höhere Bewertung des GdS spricht schließlich die fehlende Inanspruchnahme spezifischer Behandlungsoptionen (vgl. zur Relevanz dieses Umstands für die GdB-Bemessung Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2010 – L 8 SB 1549/10, juris Rn. 31; Urteil vom 24.10.2013 – L 6 SB 5267/11, juris Rn. 30). Bis auf eine etwa halbjährige fachspezifische Behandlung durch O. 1996/1997 erfolgte keine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. Auch (teil-) stationäre psychiatrische Behandlungen sind bislang nicht durchgeführt worden.
Eine Leistungsgewährung für einen Zeitraum vor dem 01.07.2016 kommt - worauf das SG zutreffend hingewiesen hat - ebenfalls nicht in Betracht.
Die Beschädigtenversorgung beginnt nach § 60 Abs. 1 Satz 1 SGG mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG ist die Versorgung auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BVG). Dies bedeutet, dass sich der Beginn der Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG „aufschiebt“, diese also erst mit Ablauf des Verhinderungszeitraums zu laufen beginnt (BSG, Urteil vom 11.12.2008 –
B 9/9a VG 1/07 R, juris Rn. 27).
Vorliegend ist unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass sich die Schädigung von 1976 (5. Lebensjahr) bis Oktober 1987 (Verhaftung des Vaters) ereignete. Damit endete die Ein-Jahresfrist nach Eintritt der Schädigung gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG spätestens im Oktober 1988. Damit der erst am 20.07.2016 gestellte Antrag für einen rückwirkenden Beginn der Beschädigtenversorgung noch rechtzeitig wäre, müsste die Klägerin für den Zeitraum seit Oktober 1988 gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG unverschuldet an einer Antragstellung gehindert gewesen sein. Dies ist vorliegend nicht ersichtlich.
Der am 01.01.1979 in Kraft getretenen (Art. 8 Zehntes Gesetz über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes <10. AnpG-KOV> vom 10.08.1978, BGBl I, S. 1217), um die in den Sätzen 2 und 3 getroffenen Ausnahmebestimmungen ergänzten Fassung des § 60 Abs. 1 BVG liegt folgendes Konzept zu Grunde: Im Grundsatz beginnt die Versorgung mit dem Antragsmonat, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Ausnahmsweise eröffnet Satz 2 eine Rückwirkung, wenn der Antrag binnen Jahresfrist nach der Schädigung gestellt wird; ihrer Wirkung nach verschafft die Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den Stand bei Eintritt der Schädigung. Die Jahresfrist wird wiederum erweitert um den Zeitraum, in dem eine unverschuldete Verhinderung vorlag. Der Ausnahmecharakter der erweiterten Rückwirkung des Antrags gebietet eine enge Handhabung. Die durch Art. 1 Nr. 37 10. AnpG-KOV erfolgte Ergänzung ist im Gesetzgebungsverfahren damit begründet worden, Beschädigten solle allgemein ein Jahr Zeit gegeben werden, den Anspruch auf soziale Entschädigung ohne Nachteile hinsichtlich des Leistungsbeginns erstmals geltend zu machen ("Überlegungsfrist"). Damit sollte namentlich den Belangen von Impfgeschädigten und Opfern von Gewalttaten Rechnung getragen werden (vgl. BT-Drs. 8/1735, S. 19 zu Nr. 37, § 60 BVG). Die Regelung erfasste bei ihrem Inkrafttreten nach ihrem zeitlichen Geltungsbereich auch zurückliegende Schadensfälle (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 10.12.2003 – B 9 VJ 2/02 R, juris Rn. 25, 26).
Vorliegend geht der Senat zunächst zugunsten der Klägerin davon aus, dass diese jedenfalls bis zum Eintritt ihrer Volljährigkeit am 00.00.1989 ohne ihr Verschulden an einer Antragstellung gehindert war.
Grundsätzlich muss sich ein Kind, das nicht sozialrechtlich handlungsfähig ist und deshalb keine rechtswirksamen Willenserklärungen abgeben kann, das Verschulden seines Sorgeberechtigten im Hinblick auf die verspätete Stellung eines Antrags auf Opferentschädigungsleistungen zurechnen lassen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 31.10.2014 – L 13 VG 23/13, juris Rn. 18 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt jedoch – ausnahmsweise - ein die Zurechnung von Verschulden des gesetzlichen Vertreters ausschließender schutzwürdiger Interessenkonflikt vor, wenn eine dem Gewalttäter eng verbundene Person, der die Rechtsordnung ein Zeugnisverweigerungsrecht zugesteht, durch die Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Täter auslösen würde (vgl. BSG, Urteil vom 28.04.2005 – B 9a/9 VG 1/04 R und Urteil vom 30.09.2009 – B 9 VG 3/08 R, juris, jeweils m.w.N.). Von einem solchen Interessenkonflikt der personensorgeberechtigten Mutter der Klägerin kann vorliegend zugunsten der Klägerin ausgegangen werden. So hat ihre Mutter nicht nur im Strafverfahren gegen ihren Ehemann von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gebraucht gemacht. Sie lebt auch seit seiner Entlassung aus der Haft wieder mit diesem zusammen.
Soweit die Klägerin vorträgt, auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen unverschuldet an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen zu sein, kann dem nicht gefolgt werden.
Vor dem Hintergrund, dass der Ausnahmecharakter der erweiterten Rückwirkung des Antrags gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG eine enge Handhabung gebietet, liegt ein Verschulden nur dann nicht vor, wenn der Antragsteller die nach den Umständen des Einzelfalls zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Dabei gilt grundsätzlich ein subjektiver Maßstab: Es sind insoweit der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Antragstellers zu berücksichtigen. Allein das fehlende Wissen um einen möglicherweise bestehenden Anspruch nach § 1 OEG stellt keinen Anwendungsfall von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG dar, weil jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt als bekannt gelten (Publizitätsgrundsatz) und im Sozialrecht für den Bürger vielfältige Möglichkeiten bestehen, sich über seine sozialen Rechte zu informieren wie z.B. nach den §§ 13 bis 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (BSG, Urteil vom 16.03.2016 – B 9 V 6/15 R, juris Rn. 19, 22 m.w.N.).
Die im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Z. und S. sind übereinstimmend zu der Einschätzung gelangt, dass die Klägerin trotz der bei ihr vorliegenden psychischen Beeinträchtigungen einen Antrag auf Beschädigtenversorgung bei Kenntnis dieser Möglichkeit bereits vor Juli 2016 hätte stellen können. Dass sie den Antrag erst zu diesem Zeitpunkt gestellt hat, erklärt sich nach den überzeugenden Ausführungen von Z. ausschließlich daraus, dass sie erst zu diesem Zeitpunkt von dieser Möglichkeit Kenntnis erlangt hat. Medizinische oder psychische Gründe haben diesbezüglich nach seiner Ansicht keine Rolle gespielt.
Soweit I. zu der Einschätzung neigt, die Klägerin sei aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung nicht in der Lage gewesen, den Antrag früher zu stellen, folgt der Senat dieser Einschätzung nicht. Die Ausführungen von I. sind nicht überzeugend und zum Teil widersprüchlich. So hat I. in seinem Gutachten ausgeführt: „Betrachtet man die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine frühzeitigere Antragstellung - etwa Intelligenz, Kulturtechniken, Handlungsfähigkeit etc. - so sind keine grundsätzlichen Hinderungsgründe ersichtlich. Hätte man einen Antrag nach OEG früher angeregt, wäre die Probandin in der Lage gewesen, diesen zu stellen. Betrachtet man die Persönlichkeitsressourcen der Betroffenen und ihre bisherige Lebensführung, so fehlt über weite Strecken die Bereitschaft, sich mit gegebenen Möglichkeiten auseinander zu setzen bzw. die nachhaltige Motivation die eigene Situation zu verbessern. Ich neige deswegen zu der Einschätzung, dass M. aufgrund der Persönlichkeitsänderung nicht in der Lage war, den OEG-Antrag früher zu stellen. Sie ist in Belangen wie einem OEG-Antrag auf Anregung und Unterstützung angewiesen“ An anderer Stelle wird hingegen ausgeführt, er habe keinen Zweifel, dass die Klägerin zu selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen immer wieder fähig gewesen sei, insbesondere wenn es ihr subjektiv wichtig und machbar erschien. Im Übrigen vermochte der Sachverständige I. seine Einschätzung insofern nicht mit der gebotenen Sicherheit zu vertreten, als er in der hier relevanten Frage nur „tendenziell“ eine gegenteilige Auffassung zu vertreten vermag als die Sachverständigen nach § 106 SGG.
Auch die Biographie der Klägerin zeigt nach Ansicht des Senats, dass sie trotz der Schädigungsfolgen in der Lage war, ihre Angelegenheiten - ggf. mit Unterstützung - zu regeln. So hat sie ihren Realschulabschluss gemacht und war lange Zeit berufstätig. Sie ist seit 1992 verheiratet, hat vier Kinder großgezogen, führt den Haushalt und geht ihren Hobbies nach.
Soweit die Klägerin selbst wiederholt auf ihr ausgeprägtes Vermeidungsverhalten in Bezug u.a. auf Täter und Täterumfeld hingewiesen hat, widerspricht das nach Ansicht des Senats ihren Angaben im Rahmen der Begutachtungen. Danach hat die Klägerin ihre Eltern mehrfach in Portugal besucht und hat weiterhin regelmäßigen telefonischen Kontakt zu ihrer Mutter. Auch hat sie ihren Kindern nach eigenen Angaben schon geraume Zeit vor der Antragstellung 2016 von dem sexuellen Missbrauch erzählt.
Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens hält der Senat im Hinblick auf die umfangreiche Beweiserhebung im erstinstanzlichen Verfahren nicht für erforderlich. Das vorliegende Gutachten von Z. ist überzeugend, insbesondere im Abgleich mit den Gutachten von S. und N.. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG besteht auch kein allgemeiner Anspruch auf Überprüfung eines oder mehrerer Sachverständigengutachten durch ein sogenanntes Obergutachten. Vielmehr ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachten auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines oder einige von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesen grundsätzlich anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen. Die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse gehört - wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse - zur Beweiswürdigung selbst. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum. Zu weiteren Beweiserhebungen ist das Tatsachengericht nur dann verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (vgl. BSG, Beschluss vom 27.04.2021 - B 13 R 125/20 B, juris Rn. 7 m.w.N.). Letzteres ist hier nicht der Fall, da das SG sich auf das Gutachten des Sachverständigen Z. stützen konnte, das die qualitativen Vorgaben an ein medizinisches Sachverständigengutachten erfüllt.
Soweit die Klägerin angeregt hat, ihren Ehemann als Zeugen zu hören, brauchte der Senat nicht dem nicht nachgehen.
Ungeachtet dessen, dass es sich bei dem Antrag, den „Ehemann zu hören, der die Klägerin die gesamte Zeit hinweg begleitet und deren Ausfälle kompensiert hat“, nicht um einen ordnungsgemäßen Beweisantrag handeln dürfte (dazu Leitherer in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 160 Rn. 18a m.w.N.), hat die anwaltlich vertretene Klägerin diesen nicht aufrechterhalten. Ein Beweisantrag hat im sozialgerichtlichen Verfahren eine Warnfunktion. Er soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch nicht für erfüllt hält. Diese Warnfunktion verfehlen bloße Beweisgesuche, die lediglich in der Klage- oder Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind, da es sich insoweit nur um Hinweise oder bloße Anregungen handelt. Um das Gericht ausreichend vor einer Verletzung seiner Amtsermittlungspflicht zu warnen, muss ein im Verfahren rechtskundig vertretener Beteiligter - wie die Klägerin - sein zuvor geäußertes Beweisbegehren deshalb in der mündlichen Verhandlung als prozessordnungsgemäßen Beweisantrag im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG wiederholen und protokollieren lassen (BSG, Beschluss vom 02.02.2022 – B 9 SB 4721 B, juris Rn. 8) oder bei einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG nach Erhalt der Anhörungsmitteilung ausdrücklich aufrechterhalten. Anderenfalls kann er als erledigt angesehen werden. Dies gilt nicht, wenn in Fällen, in denen ein Beteiligter nach Erhalt einer ersten Anhörungsmitteilung einen Beweisantrag gestellt hat und ihn nach nochmaliger nicht näher begründeter Anhörungsmitteilung nicht wiederholt, es sei denn besondere Umstände des Einzelfalls sprechen dagegen (vgl. Leitherer, a.a.O., § 160 Rn. 18c m.w.N.).
Vorliegend hat die Klägerin auf die erste Anhörungsmitteilung vom 12.01.2022 den o.g. Beweisantrag gestellt. Sodann ist sie mit Anhörungsmitteilung vom 01.03.2022 darauf hingewiesen worden, dass eine weitere Beweiserhebung nicht beabsichtigt sei. Zugleich wurde um Formulierung eines konkreten Antrags gebeten. Daraufhin hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 05.05.2022 - ausschließlich - den o.g. Sachantrag gestellt. Damit brauchte der Senat den zuvor gestellten Beweisantrag nicht zu berücksichtigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.