S 4 R 698/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 698/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 230/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 153/24 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid


Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. 

Der 1966 geborene Kläger hat nach eigenen Angaben eine nicht abgeschlossene Ausbildung als KfZ-Mechaniker (1984 bis 1986) und eine abgeschlossene Ausbildung als Teilezurichter (1996 bis 1997). Im Anschluss war er u.a. als Bügler, Maschinenschlosser, in der Lenkradherstellung, als Stapler-/Lkw-Fahrer sowie in der Reinigung versicherungspflichtig beschäftigt. Von 2004 bis 2014 war er nach eigenen Angaben als selbständiger Getränkeschankanlagen-Reiniger (Firma W.) tätig. Ausweislich der bei der Beklagten für den Kläger verbuchten Daten (von der Beklagten übersandter Versicherungsverlauf vom 17. Mai 2021) hat er daneben von April 2005 bis April 2009 geringfügig nicht versicherungspflichtig gearbeitet. Vom 1. August bis 30. November 2013 und dann wieder vom 1. Januar 2016 bis 31. August 2016 sind darüber hinaus Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen gutgeschrieben. Im Zeitraum von Mai 2009 bis Juli 2011 und vom 1. Dezember 2013 bis 31. Dezember 2015 sind keine versicherungsrechtlichen Zeiten für den Kläger verbucht. Seit dem 31. August 2016 sind im Versicherungsverlauf ebenfalls keinerlei rentenrechtliche Zeiten mehr für ihn verzeichnet worden. Krankenversichert ist der Kläger nach eigenen Angaben bei seiner Ehefrau über die Familienversicherung.

Ein erster Rentenantrag des Klägers vom 28. Mai 2015 blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 5. Juni 2015 und Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2015). Das damals vom Familiengericht Aschaffenburg in Auftrag gegebene und von der Beklagten beigezogene Gutachten auf arbeits- und sozialmedizinischem Fachgebiet vom 10. Oktober 2014 hatte ein vollschichtiges Leistungsvermögen ergeben. 

Der Kläger beantragte am 16. August 2016 erneut Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte zog medizinische Unterlagen bei, darunter ein Befundbericht und eine Bescheinigung für das Versorgungsamt des Nervenarztes Dr. H. vom 3. und 19. Dezember 2016, wonach der Kläger unter einer erregbaren Persönlichkeit und Verdacht auf schizoaffektive Psychose leide, ab Februar 2016 bei ihm vorstellig geworden sei und ihm im Oktober 2016 eine Einweisung in die Psychiatrie ausgestellt worden sei. 

Die Beklagte ließ den Kläger von der Fachärztin für Allgemeinmedizin, ärztlichen Psychotherapeutin und Sozialmedizinerin von ihrer ärztlichen Untersuchungsstelle D. untersuchen und begutachten. Diese kam in ihrem Gutachten vom 17. Februar 2017 zu dem Ergebnis, der Kläger sei in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich leichte bis mitteschwere Arbeiten mit einigen Einschränkungen hinsichtlich der Arbeitsmodalitäten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten.  

Mit Bescheid vom 22. Februar 2017 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, dass die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien, weil der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne. Dagegen erhob der Kläger am 13. März 2017 Widerspruch und legte ein ärztliches Attest seines Hausarztes Dr. G. vom 14. Juni 2017 vor, der zahlreichen Diagnosen – darunter auch eine paranoide Schizophrenie, erregbare Persönlichkeitsstörung und eine chronisch rezidivierende depressive Störung, aktuelle mittelgradig, Schlaf-, Angst- und Schmerzstörungen – sowie seine Einschätzung mitteilte, der Kläger könne in Zukunft nicht mehr länger als drei Stunden arbeiten. 

Die Beklagte ließ den Kläger untersuchen und begutachten auf nervenärztlichem Fachgebiet bei Dr. M. Dieser kam in seinem Gutachten vom 26. September 2017 zu dem Ergebnis, der Kläger leide auf nervenärztlichem Fachgebiet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Impulskontrollstörung und schizoiden Zügen. Der Kläger sei in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich leichte, zeitweise mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten u.a. ohne Nachschicht und ohne besonderen Zeitdruck. 

Die Beklagte wies den Widerspruch anschließend durch Widerspruchsbescheid vom 29. November 2017 zurück. Dagegen hat der Kläger am 22. Dezember 2017 Klage erhoben und verfolgt sein Begehren weiter. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beiziehen von Befundberichten/Auskünften der behandelnden Ärzte, darunter auch des Nervenarztes Dr. H. vom 6. Juni und 4. November 2019. Dieser berichtet über Halluzinationen des Klägers im September 2016. Die empfohlene Aufnahme in die Psychiatrie sei verweigert worden. Danach sei es im Januar 2018 zu einer Verschlechterung der psychotischen Symptome gekommen. Nach seiner Einschätzung bestehe Erwerbsunfähigkeit. 

Das Gericht hat daraufhin weiter Beweis erhoben durch Einholen eines Sachverständigengutachtens auf nervenärztlichem Fachgebiet mit zweimaliger Untersuchung am 3. März 2020 (mit Ehefrau) und am 12. November 2020 (ohne Ehefrau) bei Prof. Dr. S. Der Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 20. April 2020 zunächst zu einem Leistungsvermögen von zumindest sechs Stunden täglich an fünf Tagen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung und ohne besonderen Zeitdruck. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 5. Februar 2021 kommt er zu einem Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich seit dem Zeitpunkt der ersten Untersuchung am 3. März 2020. Zuvor sei es höher gewesen, wie die Vorgutachten der Frau D. und des Dr. M. ergeben hätten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 22. Februar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Sie übersendet einen aktuellen Versicherungsverlauf des Klägers vom 17. Mai 2021 und teilt mit, danach seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nur bei einem Leistungsfall der Erwerbsminderung bis zum 31. August 2016 erfüllt. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Beklagtenakten verwiesen, der Gegenstand der Entscheidungsgründe gewesen ist. 


Entscheidungsgründe

Das Gericht entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da der vorliegende Rechtsstreit keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 13. September 2021 (zugestellt 14. und 15. September 2017) zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden. Die Klägerseite hat sich damit mit Schriftsatz vom 22. September 2021 ausdrücklich einverstanden erklärt. 

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid vom 22. Februar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2017 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung. 
 
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. 

Die Erwerbsminderung muss auf nicht absehbare Zeit bestehen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn sie sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt. Das folgt aus § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen Erwerbsminderung nicht vor Beginn des siebten Monats nach Eintritt der Erwerbsminderung geleistet werden. Dauert die Erwerbsminderung voraussichtlich kürzer, greifen andere Sicherungsmechanismen, insbesondere die Zahlung von Krankengeld, ein.

Außer den medizinischen Voraussetzungen, also der Erwerbsminderung, müssen zwingend auch die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI erfüllt sein. 

Die Kammer verweist insoweit auf den eindeutigen Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, wonach Versicherte nur dann Anspruch auf Rente wegen (teilweise oder voller) Erwerbsminderung haben, wenn sie 

in den letzten fünf Jahren (60 Monate bzw. 61 Monate, wenn der Monat des Eintritts der Erwerbsminderung mitzählt) 

vor Eintritt der Erwerbsminderung 

drei Jahre (also 36 Monate) Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (sog. „3/5-Regelung“). 

Nach Lücken im Versicherungsverlauf ohne rentenrechtliche Zeiten (z.B. bei selbständiger Tätigkeit oder nicht versicherungspflichtiger geringfügiger Beschäftigung) von insgesamt 24 Monaten endet daher regelmäßig der Versicherungsschutz wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Gesetzgeber will damit sicherstellen, dass die Versichertengemeinschaft für das Risiko der Erwerbsminderung nur aufkommen muss, wenn der Versicherte oder die Versicherte im Zeitpunkt der Erwerbsminderung einen engen Bezug zur Solidargemeinschaft der rentenversicherungspflichtig tätigen Arbeitnehmer hatte. Nur solche Versicherte sollen Schutz genießen, die zuletzt vor der Erwerbsminderung in einem gewissen Umfang Pflichtbeiträge in die Rentenversicherung eingezahlt haben bzw. für die Pflichtbeiträge z.B. wegen Arbeitslosigkeit oder Krankheit bei der Rentenversicherung verbucht worden sind. Daher gelten Pflichtbeiträge bei Bezug von Arbeitslosen- oder Krankengeld gem. § 53 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI als Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit im Sinne der 3/5-Regelung.   

Die Verfassungsmäßigkeit dieser zum 1. Januar 1984 eingeführten zusätzlichen Voraussetzung hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt (BverfG vom 8. April 1987, 1 BvR 564/84, SozR 2200, 3 1246, 142, Juris). Abzustellen ist auf den Zeitpunkt, an dem die Erwerbsminderung eingetreten ist.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI sind nur erfüllt, wenn der Kläger nachweislich ab spätestens dem 31. August 2016 dauerhaft voll oder teilweise erwerbsgemindert gewesen ist. 

Der Fünfjahreszeitraum erstreckt sich auf die Zeit vor Eintritt der Erwerbsminderung, also bei einem angenommenen Leistungsfall am 31. August 2016 auf die Zeit vom 31. August 2011 bis 30. August 2016 (61 Monate). Ausweislich des von der Beklagten zuletzt übersandten Versicherungsverlaufs vom 17. Mai 2021 hat der Kläger in diesem Zeitraum 36 Pflichtbeiträge, nämlich 5 im Jahr 2011 und 12 im Jahr 2012, 11 im Jahr 2013 sowie 8 im Jahr 2016 (=36 Monate mit Pflichtbeitragszeiten). 

Liegt der Leistungsfall der Erwerbsminderung am 1. September 2016 oder später sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt. Der Fünfjahreszeitraum erstreckt sich bei einem angenommenen Leistungsfall im 1. September 2016 auf die Zeit vom 1. September 2011 bis 31. August 2016. Der Pflichtbeitrag für August 2011 zählt dann nicht mehr mit, der Kläger hat nur noch 35 Monate mit Pflichtbeitragszeiten im Fünfjahreszeitraum vor Eintritt der Erwerbsminderung. 

Bei der Beurteilung des gesundheitlichen Leistungsvermögens des Klägers bis zum letzten möglichen Eintritt der Erwerbsminderung mit Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente am 31. August 2016 stützt sich die Kammer im Wesentlichen auf das vom Gericht eingeholte Sachverständigengutachten auf nervenärztlichem Fachgebiet bei Prof. Dr. S., aber auch auf die Gutachten der Frau D. vom 7. Februar 2017 und des Dr. M. vom 26. September 2017. Letztere kann die Kammer im Wege des Urkundsbeweises verwerten. 

Prof. Dr. S. kommt in seinem Sachverständigengutachten vom 20. April 2020 zunächst zu einem Leistungsvermögen von zumindest sechs Stunden täglich an fünf Tagen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung und ohne besonderen Zeitdruck. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 5. Februar 2021 kommt er unter neuer Gewichtung des Krankheitsbildes und unter Hinweis auf die Erschöpfung der Kompensationskräfte des Klägers nun zu einem Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich seit dem Zeitpunkt der ersten Untersuchung am 3. März 2020. Der Sachverständige korrigiert also seine Leistungsbeurteilung rückwirkend für die Zeit ab März 2020 (erste Untersuchung des Klägers). Die Änderung seiner Leistungsbeurteilung für die Zeit ab März 2020 begründet der gerichtliche Sachverständige mit den negativen Erfahrungen des Klägers, die er aufgrund seiner Impulskontrollstörung und kombinierten Persönlichkeitsstörung (auf der Basis von latent schizophrenie-ähnlichen Symptomen) gemacht habe, und der dadurch bedingten Erschöpfung der Kompensationskräfte. Dies habe nun doch Auswirkungen auf das quantitative Leistungsvermögen. Zu der Frage, seit wann das Leistungsvermögen sich in dem von ihm festgestellten Umfang reduziert habe, verweist er auf die Vorgutachten der Frau D. und des Dr. M. und teilt mit, zuvor sei es höher gewesen.

Die Kammer folgt der Leistungsbeurteilung des gerichtlichen Sachverständigen hinsichtlich des Leistungsvermögens des Klägers bis einschließlich August 2016. Es ist nicht nachgewiesen, dass bei dem Kläger vor September 2016 eine rentenrechtlich relevante Reduzierung des Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden täglich eingetreten ist. 

Die Leistungsbeurteilung des gerichtlichen Sachverständigen für die Zeit vor März 2020 wird aus Sicht der Kammer insbesondere bestätigt durch die Einschätzung des Gutachters Dr. M. Dieser kam in seinem Gutachten vom 26. September 2017 aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 25. September 2017 zu dem Ergebnis, der Kläger leide auf nervenärztlichem Fachgebiet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Impulskontrollstörung und schizoiden Zügen. Der Kläger sei in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich leichte, zeitweise mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, bezüglich der geistig-psychischen Belastbarkeit ohne besondere Anforderungen an die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit, ohne Verantwortung für Personen und Maschinen, ohne Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge, ohne vermehrten Publikumsverkehr sowie ohne Nachschicht und besonderen Zeitdruck. Dr. M. hat den Kläger eingehend untersucht und ist unter Berücksichtigung der Beschwerden und des Vorbringens des Klägers sowie der Aktenlage gut nachvollziehbar zu seiner Leistungseinschätzung gekommen. Prof. Dr. S. äußert keine Zweifel an dieser Beurteilung.

Die Leistungsbeurteilung des gerichtlichen Sachverständigen sowie des nervenärztlichen Gutachters Dr. M. wird im Übrigen auch bestätigt durch die Feststellungen der Frau D. in ihrem Gutachten vom 17. Februar 2017. Diese hatte den Kläger am 30. Januar 2017 ausführlich untersucht und begutachtet und war zu dem Ergebnis gekommen, er sei in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich leichte bis mitteschwere Arbeiten mit einigen Einschränkungen hinsichtlich der Arbeitsmodalitäten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Ihre Leistungsbeurteilung hält die Kammer für durchaus überzeugend, denn die Gutachterin ist nicht nur Fachärztin für Allgemeinmedizin, sondern auch ärztliche Psychotherapeutin und Sozialmedizinerin. Sie hat den Kläger eingehend befragt und hat neben den körperlichen Gebrechen auch die Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet (Verdacht auf kombinierte Persönlichkeitsstörung, eingeschränkte Impulskontrolle mit emotional instabilen Zügen, teils schizoiden Zügen) bei ihrer Gesamtbewertung berücksichtigt.  Prof. Dr. S. äußert auch insoweit keine Zweifel.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Befundberichten und Auskünften der behandelnden Ärzte, insbesondere des Nervenarztes Dr. H. vom 6. Juni und 4. November 2019. Dr. H. berichtet zwar über Halluzinationen des Klägers im September 2016, die ihn zur Ausstellung einer Überweisung zur stationären Behandlung in der Psychiatrie veranlasst hatten. Diese hatte der Kläger aber im Anschluss verweigert. Ob dies für eine Besserung der Symptome oder eine Ausprägung der Krankheit spricht, kann hier offenbleiben. Jedenfalls berichtet der Nervenarzt erst wieder über eine Verschlechterung der psychotischen Symptome im Januar 2018. Selbst wenn man der Auffassung des Nervenarztes Dr. H. in seinem Befundbericht vom 6. Mai 2019 (letzte Behandlung des Klägers laut Auskunft vom 4. November 2019 im April 2018) folgen wollte, wonach Erwerbsunfähigkeit bestand, so sind die ersten ernsthaften Halluzinationen jedenfalls erst für September 2016 belegt, eine Verschlechterung wiederum erst für das Jahr 2018 angegeben. Beides liegt nach dem Zeitpunkt, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt gewesen wären. Es gibt keine Nachweise für ein dauerhaft (mehr als 6 Monate) reduziertes Leistungsvermögen ab dem 31. August 2016. Insbesondere haben sowohl Dr. D., als auch Dr. M. den Kläger nach September 2016 gesehen und begutachtet und konnten die Leistungseinschätzung des Dr. H. damals nicht bestätigen.

Hinsichtlich der Leistungsbeurteilung des Klägers wegen seiner körperlichen Erkrankungen hat die Kammer keine Bedenken auch insoweit auf die Begutachtung bei Frau D. zu verweisen. Für die diesbezügliche Richtigkeit der Leistungseinschätzung in ihrem Gutachten vom 7. Februar 2017 spricht, dass der Kläger bei der psychiatrischen Untersuchung im September 2017 wegen der von Dr. M. festgestellten Schwielenbildung an beiden Händen angegeben hatte, dies komme vom Holzhacken zu Hause (er hat laut Angaben gegenüber Dr. M. ein kleines schuldenfreies Haus mit Garten). Er hatte außerdem angegeben, dass er teils kleine Nebentätigkeiten z.B. im Garten mache, wenn er angerufen werde. Im Haus mache er die Reparaturen, auch die des kleinen Autos. Dies spricht gegen massive körperliche Gebrechen, die eine (zumindest) leichte körperliche vollschichtige Arbeitstätigkeit ausgeschlossen hätten.

Da der Kläger mit dem bis einschließlich August 2016 festgestellten Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Tätigkeit von sechs Stunden oder mehr an fünf Tagen die Woche ausüben hätte können, ist er zu dieser Zeit nicht erwerbsgemindert gewesen. 

Da der allgemeine Arbeitsmarkt grundsätzlich eine Vielzahl von Arbeitsmöglichkeiten mit nur leichten körperlichen und geistigen Anforderungen bereithält, ist die Benennung einer konkreten Tätigkeit grundsätzlich nicht notwendig. Ausnahmsweise gilt dies nicht, wenn im Einzelfall eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes droht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist daher z.B. im Falle einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung eine konkrete zumutbare Verweisungstätigkeit zu benennen (BSG, Großer Senat, Beschluss vom 19. Dezember 1996, GS 2/95 und BSG, Urteil vom 11. Dezember 2019, B 13 R 7/18 R, beide in Juris). Beispiele, welche Einschränkungen jedenfalls nicht zu einer konkreten Benennung Veranlassung geben, hat der Große Senat des BSG aufgelistet: Ausschluss von Tätigkeiten, die überwiegendes Stehen oder ständiges Sitzen erfordern, in Nässe oder Kälte oder mit häufigem Bücken zu leisten sind, besondere Fingerfertigkeiten erfordern oder mit besonderen Unfallgefahren verbunden sind; Ausschluss von Arbeiten im Akkord, im Schichtdienst, an laufenden Maschinen; Ausschluss von Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen (BSG 1996 ebd). 

Anhaltspunkte dafür, dass aufgrund der von den Ärzten geforderten Einschränkungen (D.: kein hoher Zeitdruck, keine häufig wechselnden Arbeitszeiten, kein Publikumsverkehr, keine Verantwortung für Personen, keine Lärmbelastung, kein Heben, Tragen und Bewegen von schweren körperlichen Lasten schwerer als 10 kg ohne Hilfsmittel, keine überwiegende Zwangshaltung der Wirbelsäule, keine Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, kein Zurücklegen langer Wegstrecken auf unebenem Boden, keine überwiegend knieende Arbeitshaltung, keine Tätigkeiten mit Absturzrisiko oder erhöhter Unfallgefahr, keine Arbeiten mit Nachtschicht oder mit besonderem Zeitdruck; Dr. M.: keine besonderen Anforderungen an das Anpassungs- und Umstellungsvermögen, keine Verantwortung für Personen und Maschinen, keine Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge und kein vermehrter Publikumsverkehr) ab August 2016 eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes drohte, sieht die Kammer nicht. Die Einschränkungen entsprechen letztlich den Arbeitsmodalitäten und Anforderungen, die geistig und körperlich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stellen. 

Der Kläger hat mit dem im August 2016 bestehenden Leistungsvermögen keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente erworben. Aus der von Prof. Dr. S. für die Zeit seit März 2020 festgestellten rentenrelevanten Reduzierung des Leistungsvermögens kann dagegen kein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente resultieren, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der vom Kläger mit Schriftsatz vom 15. Juli 2021 noch vorgelegte Bescheid des Versorgungsamtes vom 7. Juli 2021 über die Feststellung der Schwerbehinderung ab 7. Mai 2021 und ebenso die zuletzt mit Schriftsatz vom 23. September 2021 vorgelegten Arztbriefe der Kardiologie des Klinikums Hanau vom 21. Juli und 2. September 2021 sind für die Frage der Erwerbsminderungsrente aus dem gleichen Grunde ebenfalls nicht mehr relevant, selbst falls hieraus auf eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers seit Mai oder Juli 2021 geschlossen werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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