1. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 30. Mai 2023 abgeändert und das beklagte Land unter Abänderung seines Bescheides vom 5. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. November 2022 verpflichtet, bei dem Kläger im Zeitraum vom 19. Juni 2017 bis 8. März 2021 einen Gesamt-GdB von 60 und auch für den Zeitraum vom 9. März 2021 bis 25. August 2021 einen Gesamt-GdB von 80 festzustellen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und die Klage abgewiesen.
2. Das beklagte Land trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten einerseits um die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 80 nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung (SGB IX) für den Zeitraum vom 19. Juni 2017 bis 25. August 2021. Andererseits begehrt der Kläger im Berufungsverfahren, einen GdB von mindestens 90 bereits ab dem 15. Dezember 2020 festzustellen.
Bei dem 1963 geborenen Kläger wurde im Jahr 2016 nebenbefundlich zur diagnostischen Einordnung von Rückenschmerzen bei im MRT festgestellten Marklagerveränderungen unklarer Genese eine Cerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subcorticalen Infarkten und Leukenzcephalopathie (CADASIL) diskutiert und die aufgrund dieses Verdachts am 1. März 2017 durchgeführte genetische Testung des NOTCH3-Genlocus ergab eine dazu passende heterozygote Mutation. Ausweislich von Arztbriefen des Universitätsklinikums Essen (Klinik für Neurologie) vom 31. Oktober 2016, 20. Januar 2017 und 19. Juni 2017 wurde der Kläger dort sowohl vom 17. bis 19. Oktober 2016 als auch vom 9. bis 11. Januar 2017 und vom 3. bis 5. Mai 2017 stationär zur diagnostischen Abklärung einer unklaren Leukenzephalopathie mit Verdacht auf CADASIL mit linksseitigen Kopfschmerzen und intermittierender sensibler Hemisymptomatik untersucht. In der klinisch-neurologischen Untersuchung im Mai 2017 zeigte sich eine leichtgradige Hypästhesie des linken Unterarmes und der linken Hand sowie an der Außenseite des linken Beines. Neurologisch fand sich ein geringgradiges sensibles Defizit im trigeminalen Bereich links (V2-V3); keine faziale Parese. Es wurde eine schmerzmodulierende medikamentöse Therapie begonnen. Nach einer weiteren Untersuchung am 7. August 2017 im Klinikum der Universität München (Zentrum für Schlaganfall- und Demenzforschung) wurde die Diagnose CADASIL gestellt (Arztbrief vom 31. Januar 2018). Ausweislich des Arztbriefs berichtete der Kläger über dumpfdrückende Kopfschmerzattacken, teils mit Schwindelsymptomatik, die anamnestisch am ehesten einem chronischen Spannungskopfschmerz entsprächen. Die Kopfschmerzen würden mit Rückenschmerzen und einer Hypästhesie bis in die Finger links einhergehen; der Kläger nehme pro Monat ca. 10 Tabletten Ibuprofen diesbezüglich ein.
Die Internistin Dr. B., bei der sich der Kläger am 5. Januar 2021 vorstellte (Arztbrief vom 1. Februar 2021), stellte u.a. die Diagnose Kieferhöhlenvereiterung. Aus einem Arztbrief der Universitätsklinik Gießen Marburg (UKGM) vom 13. März 2021 geht insoweit hervor, dass bei dem Kläger nach einer zuvor – laut eigenen Angaben des Klägers im Dezember 2020 – erfolgten Entfernung eines Zahns mit anschließend aufsteigender Infektion, welche zunächst regelmäßige antiseptische Spülungen erforderlich machte, bei Verdacht auf eine Mund-Antrum-Verbindung (MAV) am 9. März 2021 eine Operation zum Verschluss der Kieferhöhle durchgeführt wurde. Im Arztbrief der UKGM vom 26. August 2021 wurde sodann erstmals die Diagnose Trigeminusneuralgie links gestellt. Der Kläger hatte Schmerzen in der linken Gesichtshälfte seit zwei bis drei Wochen im Nachgang der Kieferhöhlenoperation angegeben. Ausweislich von weiteren Arztbriefen des Universitätsklinikums Essen (Klinik für Neurologie) vom 30. September 2021 wurde dort ebenfalls die Diagnose Trigeminusneuropathie gestellt mit neuropathischem Schmerz V1 bis 3 links nach Kieferhöhlenoperation links 03/2021 nach Zahnextraktion 12/2020. Der Kläger hatte auch dort angegeben, dass seit der kombinierten mund-kiefer-gesichtschirurgischen und HNO-ärztlichen Operation an der Kieferhöhle ein anhaltender Schmerz in der gesamten linken Gesichtshälfte bestehe, betont im 2. Trigeminusast links. Die Schmerzen zeigten sich in der Folgezeit trotz vielfältiger Therapieversuche therapieresistent.
Mit diesen und weiteren medizinischen Unterlagen stellte der Kläger bei dem beklagten Land erstmals am 7. April 2022 einen Antrag nach dem Schwerbehindertenrecht und beantragte mit der Begründung „Steuerermäßigung“ und „Altersrente“ die Feststellung rückwirkend zum 1. Januar 2021. Er gab als Gesundheitsstörungen CADASIL, essentielle Thrombozythämie (ET), Trigeminusneuropathie (V1 bis 3 links), Bandscheibenvorfall (BSV C7 Nervenwurzel/Unkarthrose HWK 6/7), arterielle Hypertonie, MAV-Verschluss sowie linksseitiger Tinnitus nach Knalltrauma an.
Das beklagte Land stellte bei dem Kläger mit Bescheid vom 5. Mai 2022 einen GdB von 30 mit Wirkung ab dem 19. Juni 2017 fest. Als Gesundheitsstörungen wurden hierbei berücksichtigt:
„Essentielle Thrombozythämie" Einzel-GdB 30
„Hirnschädigung" Einzel-GdB 20
„Bluthochdruck" Einzel-GdB 10
„Trigeminusneuralgie links" Einzel-GdB 10
„Funktionsstörung der Wirbelsäule" Einzel-GdB 10.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, da die Erkrankungen differenzierter und hinsichtlich der Auswirkungen auf seine Verfassung mit einem deutlich höheren GdB zu bewerten seien. Nach Überprüfung der Befunde stellte das beklagte Land mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2022 bei dem Kläger sodann einen GdB von 50 mit Wirkung ab dem 26. August 2021 fest und wies den Widerspruch im Übrigen zurück. Als Gesundheitsstörungen bewertete das beklagte Land die „Trigeminusneuralgie links" nunmehr mit einem Einzel-GdB von 30; im Übrigen blieben die Einzel-GdB-Werte unverändert.
Daraufhin hat der Kläger am 20. Juni 2022 bei dem Sozialgericht Marburg (Sozialgericht) Klage erhoben. Die Schwere der einzelnen Erkrankungen und ihre Wechselwirkung zueinander seien bei der Bemessung des Gesamt-GdB weiterhin nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Das Sozialgericht hat unter anderem einen Befundbericht der Hausärztin des Klägers, Dr. C., vom 16. September 2022 nebst Krankenunterlagen sowie einen Arztbrief der Internistin Dr. B. vom 8. August 2022 und Befundberichte der Neurochirurgin Dr. D. vom 20. September 2022 (Eingang bei Sozialgericht), des Universitätsklinikums Essen (Klinik für Neurologie, Prof. Dr. E.) vom 13. September 2022 und des Klinikums der Universität München (Zentrum für Schlaganfall- und Demenzforschung, Dr. F.) vom 24. Oktober 2022 eingeholt.
Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen hat das beklagte Land den GdB bei dem Kläger mit Bescheid vom 7. November 2022 mit Wirkung ab dem 26. August 2021 auf 80 erhöht und hierbei die „Trigeminusneuralgie links" nunmehr mit einem Einzel-GdB von 60 berücksichtigt.
Mit Schreiben vom 9. November 2022 erklärte der Kläger gegenüber dem Sozialgericht, dass er die Klage unter der aufschiebenden Bedingung zurücknehme, dass mit dem Abhilfebescheid vom 7. November 2022 durch das beklagte Land keine zusätzlichen Auflagen und/oder einseitigen Willenserklärungen ihm gegenüber geltend gemacht werden könnten. Mit Schreiben vom 17. November 2022 teilte der Kläger dem Sozialgericht unter Bezugnahme auf sein Schreiben vom 9. November 2022 mit, dass er seine Rücknahme der Klage insoweit zurücknehme, als dass das Gültigkeitsdatum des GdB von 80 zum 19. Juni 2017 zurückdatiert werden müsse, und beantragte eine entsprechende Abänderung des Abhilfebescheides vom 7. November 2022.
Am 6. Februar 2023 hat der Kläger erstmals – und in der Folgezeit wiederholt – einen Neufeststellungsantrag bei dem beklagten Land gestellt, woraufhin das beklagte Land mit Bescheid vom 9. Mai 2023 bei dem Kläger einen GdB von 90 ab dem 8. August 2022 festgestellt und hierbei als neue Behinderung eine „Psychische Störung mit funktionellen Organbeschwerden (somatoforme Schmerzstörung)“ rückwirkend ab dem stationären Aufenthalt des Klägers im Universitätsklinikum Essen (Klinik für Neurologie) vom 8. bis 11. August 2022 berücksichtigt hat. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 14. Mai 2023 Widerspruch eingelegt, der mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2023 zurückgewiesen worden ist. Dagegen hat der Kläger am 3. August 2023 Klage bei dem Sozialgericht erhoben (S 22 SB 84/23) und einen Gesamt-GdB von 100 sowie die Feststellung des Merkzeichens G beantragt.
Die mit dem Ziel einer GdB-Feststellung von 80 bereits mit Wirkung ab dem 19. Juni 2017 aufrechterhaltene Klage hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2023 abgewiesen. Aus einer Gesamtschau der beigezogenen medizinischen Unterlagen ergebe sich, dass für den noch streitgegenständlichen Zeitraum kein GdB von 80 festzustellen sei. Entgegen der Auffassung des Klägers sei eine wesentliche Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes aufgrund von Schmerzen im Zusammenhang mit einer atypischen Trigeminusneuralgie links nicht bereits zu dieser Zeit, sondern erstmals mit der Untersuchung durch das UKGM am 26. August 2021 nachgewiesen. Zwar habe beispielsweise Prof. Dr. E. in seinem Befundbericht vom 30. September 2021 von einem durch den Kläger geschilderten neu aufgetretenen neuropathischen Schmerz in dessen linker Gesichtshälfte berichtet, welcher sich nach einer Zahnextraktion im Dezember 2020 und einer Kieferhöhlen-Operation im März 2021 zunächst abgeschwächt und ab Sommer zu einem Dauerschmerz verfestigt habe. Jedoch seien diese Angaben wie auch der Anamnesebericht von Frau Dr. B. von Januar 2021 über Schmerzschilderungen des Klägers hinsichtlich seiner linken Gesichtshälfte nicht eindeutig auf die später diagnostizierte Trigeminusneuralgie links zurückzuführen. Zudem sei es nicht ausgeschlossen, dass die Ende 2020 und Anfang 2021 geschilderte Schmerzsymptomatik im Zusammenhang mit den zahn-/kiefermedizinischen Behandlungen zu sehen gewesen sei. Außerdem dürfe eine Verschlechterung nicht lediglich vorübergehend, sondern müsse von mindestens sechsmonatiger Dauer sein.
Gegen den ihm am 1. Juni 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 5. Juni 2023 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Der GdB sei zu niedrig angesetzt und bereits ab dem 19. Juni 2017 mit mindestens 80 zu bemessen. Hierbei seien alle bei ihm bestehenden Erkrankungen zu berücksichtigen: CADASIL, ET, arterielle Hypertonie, myofasziales Schmerzsyndrom, Hörstörungen und Tinnitus, Hyperthyreose/Hypothyreose sowie Trigeminusneuralgie/-neuropathie. Außerdem begehrt der Kläger in seiner Berufungsbegründung vom 29. Juni 2023 die Feststellung eines GdB von mindestens 90 bereits ab dem 15. Dezember 2020.
Der Senat hat mit Beweisanordnung vom 11. September 2023 von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten bei Dr. S. in Auftrag gegeben. Den mit diversen Schreiben des Klägers – erstmals vom 20. November 2023 und schließlich vom 18. Dezember 2023 konkret – gestellten Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen Dr. S. hat der Senat mit Beschluss vom 28. Dezember 2023 abgelehnt. Dr. S. hat das Gutachten sodann unter dem 21. Februar 2024 erstattet. Danach bestehe bei dem Kläger auf neurologischem Fachgebiet eine Trigeminusneuralgie links und ein wahrscheinliches CADASIL-Syndrom sowie auf psychiatrischem Fachgebiet eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Die bei dem Kläger im Zusammenhang mit dem wahrscheinlichen CADASIL-Syndrom bestehende Hemihypästhesie links und die Koordinationsstörungen der linken oberen und unteren Extremität – welche nach Angaben des Klägers seit mindestens sechs Jahren bestünden –, vergesellschaftet mit dem Dauerschmerz im Bereich der linken Gesichtshälfte aufgrund der Trigeminusneuralgie links, welche seit Ende 2020 nach Wurzelkanalbehandlung bestehe und mittlerweile als chronifiziert einzuschätzen sei, sowie die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren führten zu einer Verminderung der Mobilität und emotionalen Belastbarkeit sowie des sozialen Zusammenlebens und Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit bei leichten körperlichen Tätigkeiten. Die Koordinationsstörung sowie Sensibilitätsstörung der linken Körperhälfte führten zu Einschränkungen in feinmotorischen Bewegungen. Die Diagnose „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ sei erstmals im Oktober 2022 in der Schmerzklinik Kiel gestellt worden. Das wahrscheinliche CADASIL-Syndrom bewertet der Sachverständige für den Zeitraum ab 19. Juni 2017 als Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung mit einem Einzel-GdB von 50 und für den Zeitraum ab der aktuellen gutachterlichen Untersuchung und den erstmals festgestellten diskreten kognitiven Beeinträchtigungen mit einem Einzel GdB von 60. Die Trigeminusneuralgie links sei als Sensibilitätsstörung im Gesichtsbereich den Gesichtsneuralgien zuzuordnen und entspreche ab Ende 2020 einer schweren Neuralgie, deren Einzel-GdB 60 betrage. Ab März 2022 sei diese Diagnose als besonders schwer einzustufen und mit einem Einzel GdB von 70 zu bewerten. Die Diagnose chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren entspreche ab Oktober 2022 einer stärker behindernden Störung mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, deren Einzel- GdB 40 betrage. Der GdB auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet betrage ab dem 19. Juni 2017 60, ab Ende 2020 70, ab März 2022 80 sowie ab Oktober 2022 90. Der Gesamt-GdB sei ab 19. Juni 2017 mit 70, ab Ende 2020 mit 80 und ab Oktober 2022 mit 90 zu bewerten.
Nach Auffassung des Klägers sei dem Gutachten zu folgen und darüber hinaus die essentielle Thrombozythämie mit einem Einzel-GdB von 40, die arterielle Hypertonie mit einem Einzel-GdB von 30, ein myofasziales Schmerzsyndrom (Funktionsstörung Wirbelsäule) mit einem Einzel-GdB von 30, die Hörstörung mit Tinnitus mit einem Einzel-GdB 20 und eine Hyperthyreose (Verlust der Schilddrüse) mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.
Zu den Einwänden des beklagten Landes gegen die GdB-Bewertung des Sachverständigen hat der Senat eine ergänzende Stellungnahme von Dr. S. eingeholt, welche dieser am 11. Oktober 2024 erstattet hat. Danach seien aus gutachterlicher Sicht die Hirnschäden auf Grundlage der medizinischen Vorbefunde und der Angaben des Klägers insgesamt retrospektiv zu gering bewertet worden. Ein Ermessensspielraum sei hier sicherlich vorhanden.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 30. Mai 2023 aufzuheben und das beklagte Land unter Abänderung des Bescheides vom 5. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. November 2022 zu verpflichten, bei ihm bereits mit Wirkung ab dem 19. Juni 2017 einen GdB von mindestens 80 sowie einen GdB von mindestens 90 bereits ab dem 15. Dezember 2020 festzustellen.
Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das beklagte Land ist der Auffassung, dass dem Gutachten von Dr. S. nicht vollumfänglich gefolgt werden könne, jedoch bestätige es die bisherigen Feststellungen – wenn auch teilweise erst zu späteren Zeitpunktpunkten. Ein GdB von 80 bereits am dem 19. Juni 2017 könne anhand der Befundunterlagen nicht objektiviert werden.
Die Beteiligten haben mit Schriftsatz vom 20. Januar 2025 (Beklagte) bzw. 22. Januar 2025 (Kläger) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere auch im Vorbringen der Beteiligten und in den medizinischen Unterlagen, wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des beklagten Landes sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Insoweit war die Erklärung des Klägers in seinem Schreiben vom 22. Januar 2025, höchstvorsorglich seinerseits auf die mündliche Verhandlung am 28. Januar 2028 (gemeint ist offenbar der Termin am 28. Januar 2025) zu verzichten, nach dem objektiv Gewollten im Gesamtkontext als ausreichende Einverständniserklärung mit einer Entscheidung nach § 124 Abs. 2 SGG auszulegen. Der Kläger als juristischer Laie unterscheidet erkennbar nicht zwischen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und anderen ähnlichen Entscheidungsformen, wie etwa der Entscheidung nach Aktenlage oder der Entscheidung mit mündlicher Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten. Bei der Auslegung war vielmehr insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger die Dauer des Verfahrens bereits mit einer Verzögerungsrüge beanstandet und mehrmals zum Ausdruck gebracht hat, eine schnelle Entscheidung zu wünschen; außerdem erfolgte die Erklärung vom 22. Januar 2025, nachdem der Kläger mit gerichtlichem Schreiben vom 8. Januar 2025 auf die Möglichkeit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung hingewiesen und mit gerichtlichem Schreiben vom 21. Januar 2025 ausdrücklich um Abgabe einer Erklärung hierzu gebeten worden war.
Die zulässige Berufung des Klägers ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Streitgegenstand sind neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Marburg vom 30. Mai 2023 der Bescheid des beklagten Landes vom 5. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. November 2022 sowie das Begehren des Klägers das beklagte Land zu verpflichten, bei ihm auch bereits in der Zeit vom 19. Juni 2017 bis zum 25. August 2021 einen Gesamt-GdB von mindestens 80 festzustellen. Zwar hat der Kläger erstinstanzlich sein Klageziel auf einen Gesamt-GdB von 80 beschränkt und begehrt erstmals im Berufungsverfahren einen Gesamt-GdB von mindestens 80. Dies gilt nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 1. Alt. SGG jedoch nicht als Klageänderung. Danach ist es nicht als Änderung einer Klage anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes der Klageantrag in der Hauptsache erweitert oder beschränkt wird. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da für den von den angegriffenen Bescheiden geregelten Zeitraum ein noch höherer GdB beantragt wird (vgl. dazu Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG Kommentar 14. Auflage, § 99 Rn. 4a). Auf diesen zulässigen Streitgegenstand ist das Begehren des Klägers im Berufungsverfahren begrenzt. Der Kläger verfolgt diesen Anspruch in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG; BSG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – B 9 SB 1/18 R – juris Rn 9).
Kein zulässiger Streitgegenstand im vorliegenden Berufungsverfahren ist hingegen der Bescheid vom 9. Mai 2023 und der Zeitraum ab dem 26. August 2021.
Soweit der Kläger im Berufungsverfahren erstmals auch einen GdB von mindestens 90 bereits für den Zeitraum vom 26. August 2021 bis 8. August 2022 beantragt, handelt es sich um eine Klageerweiterung im Berufungsverfahren. Denn im erstinstanzlichen Klageverfahren hat der Kläger mit den Schriftsätzen vom 9. und 17. November 2022 sein Klageziel dahingehend beschränkt, dass er lediglich noch die Feststellung des mit Teilabhilfebescheid vom 7. November 2022 bewilligten GdB von 80 nicht erst ab dem 26. August 2021, sondern bereits ab dem 19. Juni 2017 begehrt. Mit diesen Erklärungen ist der Bescheid vom 7. November 2022 hinsichtlich des Gesamt-GdB von 80 ab dem 26. August 2021 bestandskräftig geworden. Der auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 6. Februar 2023 hin im erstinstanzlichen Klageverfahren ergangene Bescheid vom 9. Mai 2023, mit dem der Gesamt-GdB ab dem 8. August 2022 auf 90 erhöht wurde, ist nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden, da er nicht in den dargestellten streitgegenständlichen Zeitraum eingreift und den Bescheid vom 7. November 2022 insoweit weder abändert noch ersetzt. Entsprechend hat auch das Sozialgericht zu Recht nur über den Zeitraum vom 19. Juni 2017 bis 25. August 2021 entschieden und den Bescheid vom 9. Mai 2023 unberücksichtigt gelassen. Dahingestellt bleiben kann daher, ob durch den zugrundeliegenden Neufeststellungsantrag des Klägers vom 6. Februar 2022 nicht ohnehin eine zeitliche Zäsur im Verfahren eingetreten ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 6. Juni 2023 – B 4 AS 4/22 R –, juris m.w.N.)
Bei dieser Klageerweiterung handelt es sich um eine Klageänderung. Eine solche ist auf der Grundlage von § 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 99 SGG grundsätzlich auch in der Berufungsinstanz möglich (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 2012 – B 8 SO 15/10 R – juris Rn. 12; BSG, Urteil vom 20. Mai 2014 – B 1 KR 2/14 R – juris Rn. 11; Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG 14. Aufl. 2023, § 99 Rn. 12 mwN.). Von der Frage der Zulässigkeit der Klageänderung ist die Frage der Zulässigkeit der geänderten Klage zu unterscheiden (vgl. Meyer-Ladewig/ Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 99 Rn 10 mwN). Der Senat betrachtet die vorliegende Klageänderung als unzulässig, da die Voraussetzungen des § 99 SGG nicht vorliegen. Die Klageänderung ist im Hinblick auf das parallel geführte, sogar einen noch weitergehenden Streitgegenstand (GdB 100 und Merkzeichen G) aufweisende Gerichtsverfahren S 22 SB 84/23 weder sachdienlich im Sinne des § 99 Abs. 1 2. Alt. SGG noch ist eine Einwilligung des beklagten Landes gegeben. Eine Einwilligung hat das beklagte Land weder ausdrücklich erklärt (§ 99 Abs. 1 2. Alt. SGG) noch ist eine solche durch rügelose Einlassung anzunehmen (§ 99 Abs. Abs. 2 SGG). Für eine rügelose Einlassung bedarf es zwar keiner Einlassung zur Hauptsache, d.h. eines Gegenvorbringens zur geänderten Klage. Es reicht vielmehr aus, wenn sich der Beklagte, ohne der Klageänderung zu widersprechen, zur geänderten Klage – und sei es allein bezüglich deren Zulässigkeit – sachlich äußert oder in der mündlichen Verhandlung einen uneingeschränkten Antrag auf Abweisung der Klage bzw. Zurückweisung der Berufung stellt. Ob sich der Beklagte der Rechtsfolgen seiner Erklärung beziehungsweise seines Verhaltens bewusst war, ist dabei nicht erheblich. Bei bloßem Schweigen kann eine Einwilligung allerdings nicht unterstellt werden (vgl. insg. Guttenberger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 99 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 24 f. m.w.N.). Vorliegend spricht gegen eine rügelose Einlassung des beklagten Landes mit dem Schriftsatz vom 8. August 2023, dass das beklagte Land in diesem Schriftsatz nicht nur mit keinem Wort auf den erweiterten Berufungsantrag des Klägers eingegangen ist, sondern insbesondere, dass zu diesem Zeitpunkt bereits das Klageverfahren S 22 SB 84/23 anhängig war, so dass das beklagte Land davon ausgehen durfte, dass ein Widersprechen der Klageänderung zu diesem Zeitpunkt aufgrund der ansonsten bestehenden doppelten Rechtshängigkeit gar nicht nötig war. Vor diesem Hintergrund sind auch die weiteren Schriftsätze des beklagten Landes im Verlauf des Berufungsverfahrens nicht als dessen rügelose Einlassung zu werten.
Im Übrigen wäre, wenn man entgegen der Auffassung des Senats von einer rügelosen Einlassung – etwa durch den am 17. September 2024 schriftsätzlich gestellten Berufungszurückweisungsantrag – ausginge, jedenfalls die geänderte Klage unzulässig, da der Kläger zulässigerweise allein den Bescheid vom 5. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. November 2022 angreift, der für den Zeitraum ab dem 26. August 2021 bestandskräftig geworden ist, während der Bescheid vom 9. Mai 2023 vorliegend kein zulässiger Streitgegenstand ist und auch gar nicht von dem Kläger als solcher bezeichnet worden ist.
Soweit der Kläger zumindest in einigen Schriftsätzen andeutet, über die ausdrückliche Beantragung eines höheren Gesamt-GdB hinaus auch eine konkrete Bezeichnung von Behinderungen und die Feststellung bestimmter Einzel-GdB-Werte zu begehren, wäre dies unzulässig, so dass der Senat dies nicht im Sinne eigenständiger prozessualer Begehren versteht. Denn in Bescheiden nach § 152 Abs. 1 SGB IX wird allein über die Feststellung des Gesamt-GdB entschieden. Angesichts dieser gesetzlichen Vorgabe besteht ein Anspruch nur auf die Feststellung des (zutreffenden) Gesamt-GdB, nicht aber auf die Feststellung einzelner Gesundheitsstörungen als Behinderung (vgl. etwa BSG, Urteile vom 24. Juni 1998 - B 9 SB 17/97 R und B 9 SB 18/97 R). Die Bezeichnung von Behinderungen und deren gutachterliche Bewertung mit einem Einzel-GdB im Vorfeld dieser Entscheidung dient allein der Begründung des Gesamt-GdB (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26. Januar 2010 – L 6 SB 52/09 –, Rn. 14, juris).
Die außerdem von dem Kläger zunächst im vorliegenden Berufungsverfahren geltend gemachte „Entschädigungsforderung“ in Höhe von 15.000 € wegen der versehentlich wiederholt angeforderten Berufungsbegründung hat der Kläger nicht als Verfahrensgegenstand im vorliegenden Verfahren aufrechterhalten. Der Senat hatte den Kläger bereits mit gerichtlichem Schreiben vom 29. August 2023 darauf hingewiesen, dass dies kein zulässiger Streitgegenstand im vorliegenden Berufungsverfahren ist und – soweit der Kläger hiermit möglicherweise einen Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. Art. 34 Grundgesetz (GG) meint – hierfür das Landgericht zuständig wäre. Auf höchstvorsorgliche Nachfrage des Klägers nach dem insoweit sachlich und örtlich zuständigen Gericht hat der Senat dem Kläger mit gerichtlichen Schreiben vom 12. September 2023 als zuständiges Gericht für einen Amtshaftungsanspruch das Landgericht Marburg genannt, verbunden mit dem Hinweis, dass Verfahren vor dem Landgericht nach dem Gerichtskostengesetz (GKG) gerichtskostenpflichtig sind und dort gem. § 78 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) Anwaltszwang besteht und dass davon ausgegangen werde, dass der Kläger die „Entschädigungsforderung“ nicht weiter im vorliegenden Berufungsverfahren geltend mache. Daraufhin hat der Kläger sich im weiteren Verfahrensverlauf nicht mehr zu der „Entschädigungsforderung“ geäußert, so dass von einer Abtrennung und Verweisung an das Landgericht Marburg abgesehen wurde.
Ausgehend von dem so definierten Streitgegenstand waren der Gerichtsbescheid und die streitgegenständlichen Bescheide dahingehend abzuändern, dass bei dem Kläger bereits mit dem Auftreten der Dauerschmerzen im Zusammenhang mit der Trigeminusneuralgie nach der Kieferhöhlenoperation – somit auch für den Zeitraum vom 9. März 2021 bis 25. August 2021 - ein Gesamt-GdB von 80 festzustellen ist. Vom 19. Juni 2017 bis 8. März 2021 ist ein Gesamt-GdB von 60 festzustellen. Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen und die Klage im Hinblick auf die Klageerweiterung im Berufungsverfahren abzuweisen.
Rechtsgrundlage für die Feststellung des GdB ist § 152 Abs. 1 SGB IX. Danach stellen die zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung nur zu treffen ist, wenn ein (Gesamt-)Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt (§ 152 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX). Grundsätzlich wird der GdB ab Antragstellung festgestellt. Gemäß § 152 Abs. 1 S. 2 SGB IX kann auf Antrag festgestellt werden, dass ein GdB oder gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird. Auch die beabsichtigte Inanspruchnahme von Steuervorteilen kann ein besonderes Interesse an einer Feststellung des GdB für Zeiten vor der Antragstellung begründen (BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 – B 9 SB 1/11 R –).
Gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Dies hat in drei Schritten zu erfolgen (stRspr; vgl. etwa: BSG, Urteil vom 16. Dezember 2021 – B 9 SB 6/19 R – juris Rn 37 m.w.N.): Im ersten Schritt sind die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen von der Norm abweichenden Zuständen und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festzustellen. In diesem ersten Schritt müssen die Gerichte in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Im zweiten Schritt sind diese dann den in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) – Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Der sogenannte Einzel-GdB, der den Grad der Behinderung separat für eine einzelne Erkrankung bzw. Funktionseinschränkung im Bescheid ausweist, ist nur ein Begründungselement (§ 35 SGB X) des Gesamt-GdB, der dann im dritten Schritt – in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (VMG Teil A Nr. 3 c) – in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen zu bilden ist. Dabei dürfen die einzelnen GdB-Werte nicht addiert werden. Vielmehr ist, ausgehend von der Behinderung mit dem höchsten Einzelgrad der Behinderung, im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit dadurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VMG, Teil A Ziffer 3 c). Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VMG feste Grade angegeben sind (VMG Teil A Nr. 3 b). Von Ausnahmefällen abgesehen führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Grad der Behinderung von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamt-Beeinträchtigung, die bei der Gesamt-Beurteilung berücksichtigt werden kann, selbst dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Selbst bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VMG Teil A Nr. 3 d ee). Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei dem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Die auf diese Weise vorzunehmende Bemessung des Gesamt-GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (stRspr; vgl. etwa BSG, Urteil vom 16. Dezember 2021 – B 9 SB 6/19 R – juris Rn 37f).
Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen eines Gesamt-GdB von 60 bereits ab dem 19. Juni 2017 und eines Gesamt-GdB von 80 ab dem 9. März 2021 vorliegen, und folgt dabei im Wesentlichen dem schlüssigen und überzeugenden Sachverständigengutachten des Neurologen Dr. S. Das Gutachten des Dr. S. ist auch als Beweismittel verwertbar. Den mit diversen Schreiben des Klägers – erstmals vom 20. November 2023 und schließlich vom 18. Dezember 2023 konkret – gestellten Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen Dr. S. hat der Senat mit Beschluss vom 28. Dezember 2023 abgelehnt. Nachdem der Sachverständige das Gutachten vorgelegt hat, stützt sich auch der Kläger selbst auf dieses, so dass zudem auch nicht davon auszugehen ist, dass er seine gegen den Sachverständigen erhobenen Einwände im Entscheidungszeitpunkt überhaupt noch aufrechterhalten hat.
Die für einen Zeitraum vor Antragstellung nach dem SGB IX begehrte höhere GdB-Feststellung scheitert insbesondere nicht an dem insoweit erforderlichen besonderen Interesse gemäß § 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX, da das beklagte Land bereits selbst für den streitgegenständlichen Zeitraum ab dem 19. Juni 2017 eine GdB-Feststellung in seinem Erstbescheid vom 5. Mai 2022 getroffen und damit ein berechtigtes Interesse des Klägers an der Feststellung anerkannt hat; zu einer anderen Beurteilung sieht der Senat keinen Anlass.
Die Feststellung eines höheren Gesamt-GdB im vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Die Trigeminusneuralgie ist nicht erst ab dem Datum des Arztbriefs der UKGM vom 26. August 2021 (vgl. Bescheid vom 7. November 2022) mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten, sondern bereits ab dem 9. März 2021.
Die Trigeminusneuralgie sieht der erkennende Senat als vollbeweislich gesicherte Gesundheitsstörung des Klägers an und stützt sich insoweit auf die medizinischen Unterlagen der UKGM und des Universitätsklinikums Essen sowie das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. S. vom 21. Februar 2022.
Die GdB-Bewertung bei Gesichtsneuralgien (z. B. Trigeminusneuralgie) richtet sich nach der Intensität der Schmerzen (vgl. VMG Teil B Ziff. 2.2): Der GdB bei seltenen, leichten Schmerzen ist mit 0 bis 10 zu bewerten, bei häufigeren, leichten bis mittelgradigen Schmerzen, die schon durch geringe Reize auslösbar sind, mit 20 bis 40, bei schweren Schmerzen (häufige, mehrmals im Monat auftretende starke Schmerzen bzw. Schmerzattacken) mit 50 bis 60 und bei besonders schweren Schmerzen (starker Dauerschmerz oder Schmerzattacken mehrmals wöchentlich) ist ein GdB von 70 bis 80 vorgesehen.
In den Arztbriefen der UKGM vom 26. August 2021 und des Universitätsklinikums Essen vom 30. September 2021 und 11. August 2022 ist die Entstehung der Trigeminusneuralgie zumindest zeitlich mit der Entfernung eines Zahns Ende 2020 mit anschließend aufsteigender Infektion und der am 9. März 2021 durchgeführten Operation zum Verschluss der Kieferhöhle verknüpft. Insbesondere geht aus dem Bericht des Universitätsklinikums Essen vom 30. September 2021 die Diagnose Trigeminusneuropathie mit neuropathischem Schmerz V1 bis 3 links nach Kieferhöhlenoperation links 03/2021 nach Zahnextraktion 12/2020 hervor, was den Zusammenhang unterstreicht. Die Operation am 9. März 2021 ist wiederum im Arztbrief der UKGM vom 13. März 2021 dokumentiert und der Arztbrief der Internistin Dr. B. über die Vorstellung des Klägers am 5. Januar 2021 belegt eine Kieferhöhlenvereiterung. Zwar wurde erstmals am 26. August 2021 von der UKGM die Diagnose Trigeminusneuralgie gestellt, die damit einhergehenden GdB-relevanten Schmerzen sind jedoch bereits zu einem früheren Zeitpunkt hinreichend objektiviert. Die in den Arztbriefen dokumentierten klägerischen Angaben zu den im Zusammenhang mit der Zahnentfernung und der Kieferhöhlenoperation bestehenden Schmerzen im Bereich des Nervus Trigeminus links sind grundsätzlich konstant und plausibel. Auch das Universitätsklinikum Essen sieht in seinem Befundbericht vom 13. September 2022 die Trigeminusneuralgie im Sinne eines anhaltenden neuropathischen Dauerschmerzes im Bereich des Nervus trigeminus links als durch die glaubhaften Angaben des Klägers belegt an. Allerdings variieren insoweit die zeitlichen Angaben des Klägers. Während der Kläger am 26. August 2021 gegenüber dem UKGM angab, dass (erst) seit zwei bis drei Wochen Schmerzen in der linken Gesichtshälfte bestünden, nannte er bei der Vorstellung im Universitätsklinikum Essen am 22. September 2021 (Arztbrief vom 30. September 2021) die Operation (9. März 2021) als den Zeitpunkt, seitdem ein anhaltender Schmerz in der gesamten linken Gesichtshälfte, betont im 2. Trigeminusast links, bestehe und erst bei der dortigen späteren stationären Behandlung im August 2022 (Bericht vom 11. August 2022) heißt es dann, dass bereits seit Ende 2020 Schmerzen im Bereich des Nervus Trigeminus links, ausstrahlend vom linken Oberkiefer, bestehen würden. Der Senat folgt daher dem Sachverständigen Dr. S. insoweit, als dieser den Zeitpunkt für seine höhere GdB-Bewertung der Trigeminusneuralgie an diese Zahn- und Kieferhöhlenoperationsproblematik anknüpft. Den von dem Sachverständigen mit „Ende 2020“ beschriebenen Zeitpunkt präzisiert der Senat jedoch dahingehend, dass der Zeitpunkt der Operation am 9. März 2021 anzusetzen ist. Denn erst ab diesem Zeitpunkt beschreibt der Kläger selbst den Schmerz als „anhaltenden Schmerz in der gesamten linken Gesichtshälfte“ mit einer Schmerzintensität von in der Regel NRS 7/10 (Arztbrief vom 30. September 2021), so dass ab diesem Zeitpunkt von einer Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX auszugehen ist. Außerdem wertet auch das Universitätsklinikum Essen in seinem Bericht vom 30. September 2021 den Schmerz als postoperativ, d.h. nach der Operation aufgetretenen neuropathischen Schmerz bei bereits vorbestehend beschriebener Hypästhesie in diesem Bereich, nachdem sich bei der kraniellen Kernspintomographie keine symptomatische Genese der neuropathischen Schmerzen gezeigt hatte. Der Schmerz wird in den Arztberichten als therapieresistenter Dauerschmerz beschrieben; bisherige Therapieversuche in der Schmerzambulanz u.a. mit Gabapentin, Pregabalin, Amitriptylin, Botulinumtoxin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Tapentadol und Lamotrigin waren jeweils aufgrund von Nebenwirkungen oder bzw. fehlender Wirkung erfolglos geblieben (vgl. Arztbrief Universitätsklinikum Essen vom 11. August 2022). Der von dem Sachverständigen vorgeschlagenen Einzel-GdB von 60 für die Trigeminusneuralgie, der den nach den VMG für schwere Schmerzen (häufige, mehrmals im Monat auftretende starke Schmerzen bzw. Schmerzattacken) vorgesehenen Rahmen ausschöpft, ist nicht zu beanstanden und wird auch von dem beklagten Land – wenn auch für einen etwas späteren Zeitpunkt – ebenso eingeschätzt. Zwar mögen auch im Zeitraum vor der Operation, insbesondere im Hinblick auf die nach der Zahnentfernung dokumentierte Kieferhöhlenvereiterung Schmerzen bestanden haben; diese werden jedoch von dem Kläger selbst nicht als anhaltend (dauerhaft) beschrieben und es gibt keine Belege dafür, dass es sich insoweit bereits um neuropathische Schmerzen gehandelt hat.
Das bei dem Kläger bestehende wahrscheinliche CADASIL-Syndrom ist als Hirnschädigung im streitgegenständlichen Zeitraum mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten.
Die nach der einschlägigen medizinischen Terminologie als „wahrscheinliches CADASIL-Syndrom“ zu bezeichnende Erkrankung sieht der erkennende Senat als vollbeweislich gesicherte Gesundheitsstörung des Klägers an und stützt sich insoweit auf die medizinischen Unterlagen des UKGM und des Universitätsklinikums Essen sowie das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. S. vom 21. Februar 2024.
Die CADASIL-Erkrankung ist nicht explizit in den VMG geregelt. Fehlt es für die Bemessung des GdB an ausdrücklichen Vorgaben im Teil B der VMG, kann analog auf vergleichbare Bewertungen zurückgegriffen werden (Teil B Nr. 1 Buchstabe b VMG). Bei dem CADASIL-Syndrom besteht eine Vergleichbarkeit mit der in den VMG geregelten Gruppe der Hirnschäden. Der Senat folgt insoweit dem neurologischen Sachverständigen Dr. S. und dem beklagten Land. Dr. S. hat in seinem Gutachten vom 21. Februar 2024 ausgeführt, dass es sich hierbei um eine chronisch-fortschreitende genetische Erkrankung handelt, deren klinisches Bild mit wiederholten subkortikalen Infarkten (Schlaganfällen), intrazerebralen Blutungen, Migräne, kognitiven Defiziten bis hin zu dementieller Entwicklung, Gangstörungen, Blasenentleerungsstörungen sowie mit psychiatrischen Störungen bis hin zu schweren körperlichen und/oder psychiatrischen Krankheitsbildern bis hin zu einem Koma einhergehen kann. Nach den diagnostischen Kriterien wird zwischen einem „wahrscheinlichen" und „sicheren" CADASIL-Syndrom unterschieden. Ein „wahrscheinliches" CADASIL-Syndrom liegt dann vor, wenn das Alter bei Erkrankungsbeginn unter 50 Jahren liegt und von den Symptomen schlaganfallartige Symptome mit permanenten Defiziten, Migräne, schwere affektive Störung, subkortikale Demenz mindestens zwei vorliegen sowie keine anderen ursächlichen vaskulären Risikofaktoren, eine positive Familienanamnese und ein passender MRT-Befund vorliegen. Ein „sicheres" CADASIL-Syndroms liegt dann vor, wenn ein positiver Mutationsnachweis und/oder eine positive Hautbiopsie festgestellt worden ist. Der Sachverständige Dr. S. hat vor diesem Hintergrund für den erkennenden Senat nachvollziehbar und in Übereinstimmung mit dem beklagten Land eine Vergleichbarkeit der GdB-Bewertung der CADASIL-Erkrankung mit der in den VMG geregelten Gruppe der Hirnschäden gesehen und sich an den hierzu in Teil B Ziff. 3.1. VMG beschriebenen Bewertungsmaßstäben orientiert.
Nach den VMG ist ein Hirnschaden nachgewiesen, wenn Symptome einer organischen Veränderung des Gehirns – nach Verletzung oder Krankheit nach dem Abklingen der akuten Phase – festgestellt worden sind. Wenn bei späteren Untersuchungen keine hirnorganischen Funktionsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen mehr zu erkennen sind, beträgt der GdB – dann auch unter Einschluss geringer z. B. vegetativer Beschwerden – 20; nach offenen Hirnverletzungen nicht unter 30. Bestimmend für die Beurteilung des GbB ist das Ausmaß der bleibenden Ausfallerscheinungen. Dabei sind der neurologische Befund und die Ausfallerscheinungen im psychischen Bereich unter Würdigung der prämorbiden Persönlichkeit und ggf. das Auftreten von zerebralen Anfällen zu beachten. Bei der Mannigfaltigkeit der Folgezustände von Hirnschädigungen kommt ein GdB zwischen 20 und 100 in Betracht (vgl. insg. Teil B Ziff. 3.1 VMG). Im Einzelnen richtet sich der GdB bei Hirnschäden nach dem Ausmaß der Leistungsbeeinträchtigung (Teil B Ziff. 3.1.1 VMG). Für Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung sehen die VMG einen GdB von 30-40, bei mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung von 50-60 und bei schwerer Leistungsbeeinträchtigung von 70-100 vor. Die in Teil B Ziff. 3.1.2. der VMG angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome, nämlich psychische oder zentrale vegetative Störungen, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, kognitive Leistungsstörungen, zerebral bedingte Teillähmungen sowie epileptische Anfälle sind lediglich eine ergänzende Beurteilungshilfe. Eine Gesamtwürdigung eines Hirnschadens mit verschiedenen Folgeerscheinungen muss im Schwerbehindertenrecht stets nach den in Teil B Ziff. 3.1.1. VMG genannten allgemeinen Grundsätzen erfolgen (vgl. dazu Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Kommentar, 10. Aufl. 2021, S. 149).
Vorliegend geht das CADASIL-Syndrom als gesicherte Diagnose erstmals aus dem Arztbrief der Universitätsklinik München, Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung vom 31. Januar 2018 hervor, basierend auf einer Vorstellung des Klägers am 7. August 2017. Allerdings wurde diese Diagnose schon zuvor aufgrund der im MRT festgestellten Marklagerveränderungen unklarer Genese diskutiert und bereits im Arztbrief des UKGM vom 20. September 2016 als „mögliche seltene Differentialdiagnose“ in Erwägung gezogen. Die MRT-Aufnahme der HWS vom 18. Juli 2016 hatte insoweit als Nebenbefund deutlich über das Altersmaß hinausgehende flächenförmige Marklagergliosen mit Brückenbildung im Neurokranium supratentoriell gezeigt und die am 29. August 2016 erstellte MRT-Aufnahme des Schädels multiple T2- und FLAIR-hyperintense Läsionen supra- und infratentoriell im Hirnstamm, teilweise flächig konfluierend ohne Nachweis einer Schrankenstörung. Ausweislich des Arztbriefs des Universitätsklinikums Essen vom 11. August 2022 sind die Marklagerläsionen mit einem CADASIL-Syndrom vereinbar.
Zum Krankheitsverlauf geht aus dem Befundbericht des Universitätsklinikums Essen vom 13. September 2022 hervor, dass der Kläger im Rahmen der Vorstellung am 12. Oktober 2016 ein Taubheitsgefühl der linken Hand, insbesondere am linken Kleinfinger, angegeben hatte; zeitweise hätte die Taubheit auch die gesamte linke Körperhälfte betroffen und in geringem Maße war dann auch das Gesicht beteiligt. Gelegentlich wurden auch sensible Ausfälle an der rechten Hand berichtet. In der klinisch-neurologischen Untersuchung im Rahmen eines stationären Aufenthaltes im Mai 2017 bestätigte sich eine leichtgradige Hypästhesie des linken Unterarmes und der linken Hand sowie an der Außenseite des linken Beines (Arztbrief des Universitätsklinikums Essen vom 19. Juni 2017); auch hier hatte der Kläger über permanent bestehende sensible Defizite der linken Körperhälfte geklagt. Im Verlauf hat sich neben der Hemihypästhesie links eine Koordinationsstörung der kompletten linken Körperhälfte im Rahmen des CADASIL-Syndroms eingestellt. Am ehesten durch diese Erkrankung bestehend wurde nach dem Befundbericht des Universitätsklinikums Essen vom 13. September 2022 eine Taubheit der linken Körperhälfte und möglicherweise damit im Zusammenhang ebenfalls eine neuropathische Schmerzsymptomatik im linken Gesicht bewertet. Das Universitätsklinikum Essen wertete ebenfalls die Koordinationsstörung in der linken Körperhälfte im Zusammenhang mit der CADASIL-Erkrankung. Außerdem wurde eine Koordinationsstörung der linken Körperhälfte mit einem ataktischen Finger-Nase-Versuch und Knie-Hacke-Versuch links nachgewiesen, welche am ehesten Folge der möglichen CADASIL-Erkrankung ist. Die Leukenzephalopathie im Rahmen der CADASIL-Erkrankung ist MR-tomographisch belegt.
Bei der Untersuchung im Klinikum der Universität München am 7. August 2017, auf die sich der Befundbericht vom 24. Oktober 2022 stützt, gab der Kläger dumpf drückende Kopfschmerzattacken, teils mit Schwindelsymptomatik an, die am ehesten einem chronischen Spannungskopfschmerz entsprachen. Die Kopfschmerzen gingen mit Rückenschmerzen und einer Hypästhesie der Finger links einher. Der Hirnnervenstatus des Klägers war bis auf eine leichte faziale Parese links, eine Hyperakusis links und ein vermindertes Gefühlsempfinden an der linken Hand im Bereich des 5. Fingers und der Handunterkante unauffällig. Es bestanden kein Meningismus und keine manifeste oder latente Parese. Die Feinmotorik war rechts verlangsamt (Rechtshändigkeit); es bestand eine Hypästhesie im C7-Dermatom links. Subjektiv war die Stabilität beim Stehen mit geschlossenen Augen vermindert mit empfundener Fallneigung nach links. Als Funktionsbeeinträchtigungen von Krankheitswert mit mehr als sechsmonatiger Dauer bewertete die Universitätsklinik München im Befundbericht vom 24. Oktober 2022 aufgrund der Untersuchung am 7. März 2017 die bei dem Kläger bestehenden Kopfschmerzen.
Bei der Begutachtung erhob Dr. S. als neurologischen Befund bei der Untersuchung der Hirnnerven eine ausgeprägte Hyperalgesie und Angabe einer Hypästhesie der gesamten linken Gesichtshälfte; die Nervenaustrittspunkte V 1-3 waren nicht berührbar und anamnestisch massiv druckdolent. Bei der Untersuchung der Extremitäten zeigte sich im Armvorhalteversuch ein diskretes Absinken und eine Pronation links, darüber hinaus bestand kein Anhalt für manifeste oder latente Paresen. Bei der Koordinationsuntersuchung war der Finger-Nase-Versuch (FNV) links leicht dysmetrisch. Im Rahmen der neuropsychologischen Testdiagnostik ergaben sich allenfalls Hinweise auf leichte kognitive Beeinträchtigungen. Die bei dem Kläger im Zusammenhang mit dem wahrscheinlichen CADASIL-Syndrom bestehende Hemihypästhesie links und die Koordinationsstörungen der linken oberen und unteren Extremität führen nach Einschätzung von Dr. S. zu Einschränkungen in feinmotorischen Bewegungen, einer Verminderung der Mobilität und emotionalen Belastbarkeit sowie des sozialen Zusammenlebens und Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit bei leichten körperlichen Tätigkeiten. Nach gutachterlicher Einschätzung von Dr. S. handelt es sich im Zeitraum ab 19. Juni 2017 bei der CADASIL-Erkrankung um Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung, deren Einzel-GdB er mit 50 bewertet.
Abgesehen von den bei der aktuellen gutachterlichen Untersuchung durch Dr. S. festgestellten diskreten kognitiven Beeinträchtigungen, ist im Verlauf seit dem 19. Juni 2017 keine wesentliche Veränderung der mit der CADASIL-Erkrankung einhergehenden GdB-relevanten Leistungsbeeinträchtigung objektiviert. Eine solche wird weder von den behandelnden Neurologen noch von dem Sachverständigen Dr. S. beschrieben. Auch das beklagte Land hat insoweit keine Veränderung gesehen, da es den Einzel-GdB für die Hirnschädigung durchgehend mit demselben Einzel-GdB berücksichtigt hat. Allerdings ist die von dem beklagten Land mit einem Einzel-GdB von 20 getroffene Bewertung, welche einer Hirnschädigung ohne hirnorganische Funktionsstörungen entspricht (vgl. dazu auch gutachterliche Stellungnahme Dr. H. vom 28. April 2022 sowie die folgenden gutachterlichen Stellungnahmen) zu niedrig, da hirnorganische Funktionsstörungen durch die vorliegenden neurologischen Arzt- und Befundberichte sowie das neurologische Sachverständigengutachten von Dr. S. belegt sind. Dr. S. bewertet die beschriebene Leistungsbeeinträchtigung als mittelgradig. Der erkennende Senat hat keinen Anlass an der Richtigkeit dieser medizinischen Bewertung zu zweifeln, zumal auch das beklagte Land hierzu keine substantiierten Einwände geltend gemacht hat. Geht man somit von einer mittelgradigen Leistungsbeeinträchtigung aus, ist die von Dr. S. für den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum vorgenommene Bewertung mit einem Einzel-GdB von 50 die nach Teil B Ziff. 3.1.1 VMG angemessen.
Die bei dem Kläger darüber hinaus bestehende „Essentielle Thrombozythämie" (ET) ist mit einem Einzel-GdB von 30 nicht zu niedrig bewertet.
Nach den VMG Teil A Ziff. 16.5.6 wird hinsichtlich der GdB-Bewertung bei der essentiellen Thrombozythämie nach der Art der Behandlung und deren Nebenwirkungen differenziert. Bei Behandlungsbedürftigkeit mit Thrombozytenaggregationshemmern beträgt der GdB 10 und im Falle einer zytoreduktiven Therapie ist die Teilhabebeeinträchtigung insbesondere abhängig vom Ausmaß der Nebenwirkungen der Therapie und bewegt sich zwischen 30 und 40.
Das von dem Kläger zur Behandlung der essentiellen Thrombozythämie laut dem Arztbrief des Universitätsklinikums Essen eingenommene Clopidogrel 75 mg gehört nach der gelben Liste zur Wirkstoffgruppe der Thrombozytenaggregationshemmer (vgl. https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Clopidogrel_27391). Außerdem wurde im März 2017 eine regelmäßige Aderlass-Therapie (alle sechs Wochen) eingeleitet (vgl. Arztbrief des UKGM vom 17. Mai 2018 und ärztliches Attest der Hausärztin Dr. C. vom 16. September 2022). Hierbei handelt es sich um eine zytoreduktive Therapie. Da Nebenwirkungen durch die Aderlass-Therapie nicht beschrieben werden, ist der Einzel-GdB von 30 angemessen.
Die Bewertung des bei dem Kläger bestehenden Bluthochdrucks mit einem GdB von 10 ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
Die GdB-Bewertung bei Bluthochdruck richtet sich im Wesentlichen nach dem Umfang der dadurch bedingten Leistungsbeeinträchtigung (VMG Teil B Ziff. 9.3.). Bei einer leichten Form des Bluthochdrucks ohne oder nur mit geringer Leistungsbeeinträchtigung (höchstens leichte Augenhintergrundveränderungen) besteht ein GdB von 0 bis 10. Wenn eine mittelschwere Form mit Organbeteiligung leichten bis mittleren Grades (Augenhintergrundveränderungen – Fundus hypertonicus I-II – und/oder Linkshypertrophie des Herzens und/oder Proteinurie) und ein diastolischer Blutdruck mehrfach über 100 mm Hg trotz Behandlung vorliegt, ist der GdB je nach Leistungsbeeinträchtigung mit 20 bis 40 zu bewerten. Im Falle einer schweren Form mit Beteiligung mehrerer Organe (schwere Augenhintergrundveränderungen und Beeinträchtigung der Herzfunktion, der Nierenfunktion und/oder der Hirndurchblutung) ist der GdB je nach Art und Ausmaß der Leistungsbeeinträchtigung mit 50 bis 100 anzusetzen. Bei maligner Form des Bluthochdrucks mit diastolischem Blutdruck konstant über 130 mm Hg; Fundus hypertonicus III-IV (Papillenödem, Venenstauung, Exsudate, Blutungen, schwerste arterielle Gefäßveränderungen); unter Einschluss der Organbeteiligung (Herz, Nieren, Gehirn) beträgt der GdB 100.
Eine mehr als geringgradige Leistungsbeeinträchtigung auf Dauer aufgrund des bei dem Kläger medikamentös (Rasilez 300 mg, vgl. Arztbrief des Universitätsklinikums Essen vom 19. Juni 2017) behandelten Bluthochdrucks ist nicht nachgewiesen, so dass kein höherer GdB als 10 gerechtfertigt ist. Auch laut Angaben der Hausärztin Dr. C. in ihrem ärztlichen Attest vom 16. September 2022 ist die arterielle Hypertonie ausreichend medikamentös therapiert.
Die bei dem Kläger bestehende Funktionsstörung der Wirbelsäule ist mit einem Einzel-GdB von 10 ebenfalls ausreichend berücksichtigt.
Der Grad der Behinderung bei Wirbelsäulenschäden ergibt sich nach den VMG primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Dementsprechend werden Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität mit einem GdB von 0, solche mit geringen funktionellen Auswirkungen, worunter auch selten und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome verstanden werden, mit einem GdB von 10 und mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) schließlich mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Ein GdB von 30 wird bei Wirbelsäulenschäden erst dann erreicht, wenn schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vorliegen. Liegen mittelgradig bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor, ist ein GdB von 30 bis 40 anzusetzen (Teil B Ziffer 18.9 VMG).
Aus dem Arztbrief des Universitätsklinikums Essen vom 12. Oktober 2016 geht insoweit bei dem Kläger ein breitbasiger Bandscheibenvorfall in Höhe HWK 6/7 hervor, der seinerzeit als Ursache für die von dem Kläger geklagten Nackenschmerzen mit Ausstrahlung vorwiegend in den linken Arm und in den 4. und 5. Finger mit Taubheitsgefühl und eine Schwäche der Hände gesehen wurde. Dies deckt sich mit dem Arztbrief des UKGM vom 20. September 2018, aus dem als Diagnose ein zervikaler Bandscheibenvorfall mit Kompression der Nervenwurzeln C7 hervorgeht. Orthopädische Befundberichte, welche Funktionsstörungen (insbesondere Bewegungseinschränkungen) dokumentieren, die nach den dargestellten Kriterien einen höheren Einzel-GdB als 10 im streitgegenständlichen Zeitraum begründen könnten, liegen nicht vor und in der Schweigepflichtentbindungserklärung ist auch kein behandelnder Orthopäde benannt worden, so dass sich der Senat auch nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt sehen musste. Die von dem Kläger insoweit beklagten Schmerzen sind vielmehr im Zusammenhang mit dem CADASIL-Syndrom zu sehen und im Rahmen der dortigen GdB-Bewertung zu berücksichtigen.
Ausführungen zu einer über die bereits berücksichtigten neuropathischen Schmerzen hinaus bestehenden Schmerzstörung – ungeachtet der genauen diagnostischen Einordnung – erübrigen sich an dieser Stelle, da eine solche jedenfalls im vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum noch nicht objektiviert war. Das beklagte Land hat eine „Psychische Störung mit funktionellen Organbeschwerden (somatoforme Schmerzstörung)“ ab dem 8. August 2022 mit einem Einzel-GdB von 20 GdB-erhöhend berücksichtigt, ab diesem Datum einen Gesamt-GdB von 90 festgestellt und hierbei auf einen stationären Aufenthalt des Klägers im Universitätsklinikum Essen (Klinik für Neurologie) vom 8. bis 11. August 2022 abgestellt. Für den Sachverständigen Dr. S. war hingegen die während des Aufenthaltes des Klägers in der Schmerzklinik B-Stadt im Oktober 2022 erstmals diagnostizierte „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (vgl. Entlassbericht vom 25. Oktober 2022) maßgeblich. Zu einem früheren Zeitpunkt als dem 8. August 2022 ist eine zusätzlich zu berücksichtigende Schmerzstörung jedenfalls nicht objektiviert.
Die vom Kläger geltend gemachten Hörstörungen mit Tinnitus, welche er auf ein Knalltrauma in der Bundeswehrzeit im Jahr 1982 zurückführt, sind medizinisch nicht belegt. Im ärztlichen Attest der Hausärztin Dr. C. vom 16. September 2022 finden sich hierzu keine Angaben und da der Kläger auch in der Schweigepflichtentbindungserklärung keinen behandelnden Facharzt angegeben hat, musste sich der Senat auch insoweit nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt sehen.
Wegen der guten Behandelbarkeit sehen die VMG grundsätzlich für Schilddrüsenfunktionsstörungen und ebenso für den von dem Kläger angegebenen Verlust der Schilddrüse (Hyperthyreose) keinen GdB vor (vgl. dazu Teil B Ziff. 15.6 VMG). Lediglich in Fällen selten auftretender Organkomplikationen (z. B. Exophthalmus, Trachealstenose), der nicht operativ behandelten Struma (krankhafte Vergrößerung der Schilddrüse) und nach Entfernung eines malignen Schilddrüsentumors sehen die VMG einen GdB vor. Diese besonderen, einen GdB rechtfertigenden Fallgestaltungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Laut dem ärztlichen Attest von Dr. C. vom 16. September 2022 ist der Kläger tyreoidektomiert und unter hormoneller Therapie mit L-Thyroxin 100 mg täglich unter laborchemischer Verlaufskontrolle. Hieraus ergeben sich keine GdB-relevanten Einschränkungen.
Aus den dargestellten Einzel-GdB-Werten ist unter Zugrundelegung der eingangs beschriebenen Grundsätze ein Gesamt-GdB von 60 im Zeitraum vom 19. Juni 2017 bis 8. März 2021 und ein Gesamt-GdB von 80 im Zeitraum vom 9. März 2021 bis 25. August 2021 zu bilden.
Hierbei ist im Zeitraum vom 19. Juni 2017 bis 8. März 2021 von der Hirnschädigung als der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (50) ausgehend (Teil A Nr. 3 c VMG) dieser Einzel-GdB in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen um 10 auf einen Gesamt-GdB von 60 zu erhöhen. Insoweit wirkt sich in diesem Zeitraum allein der Einzel-GdB von 30 für die essentielle Thrombozythämie erhöhend aus. Soweit der Sachverständige Dr. S. aus diesen beiden Einzel-GdB-Werten einen Gesamt-GdB von 70 gebildet hat, folgt der Senat ihm nicht. Die vorzunehmende Bemessung des Gesamt-GdB ist – wie bereits ausgeführt – grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. In der Gesamtwürdigung der bei dem Kläger bestehenden Behinderungen in diesem Zeitraum erscheint die Bewertung seiner Einschränkung der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft mit einem GdB von 60 ausreichend abgebildet, da der Einzel-GdB für die Hirnschädigung mit 50 im Hinblick auf die damit einhergehenden Leistungsbeeinträchtigungen bereits als großzügig erscheint, so dass eine Erhöhung um mehr als 10 aufgrund der essentiellen Thrombozythämie nicht gerechtfertigt ist.
Eine deutliche Zunahme der Behinderung ist jedoch durch den auf die Kieferhöhlenoperation zurückzuführenden neuropathischen Dauerschmerz im Sinne einer Trigeminusneuropathie eingetreten, so dass aufgrund des damit verbundenen Einzel-GdB von 60 ein Gesamt-GdB von 80 ab dem Operationsdatum 9. März 2021 gerechtfertigt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht nach billigem Ermessen dem Ausgang des Verfahrens. Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 SGG.