L 8 AY 13/25 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 20 AY 2/25 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 8 AY 13/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. § 11 Abs 2 AsylbLG enthält in den Fällen des Zuwiderhandelns gegen eine ausländerrechtliche räumliche Beschränkung bzw bei einem Verstoß gegen eine Wohnsitzauflage eine Leistungspflicht der Behörde des tatsächlichen Aufenthaltsorts.
2. Die Leistungspflicht nach § 11 Abs 2 AsylbLG umfasst sämtliche Leistungen der faktischen Bedarfsdeckung, die jedoch in der Regel beschränkt sind auf die Übernahme der notwendigen Reise- sowie dringend erforderlichen Verpflegungskosten, damit der Ausländer den durch die asyl- bzw ausländerrechtliche Beschränkung bestimmten Aufenthaltsort erreichen kann. In atypischen Fällen sind weitergehende Leistungen bis zum Niveau der regulären Leistungen (§§ 3 bzw 2 AsylbLG) zu erbringen (hier bejaht aus gesundheitlichen Gründen).

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 25. März 2025, soweit damit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt worden ist, aufgehoben.

Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vom 4. Januar 2025 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung des Beigeladenen über den Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach § 11 Abs. 2 AsylbLG, längstens jedoch bis zum 30. November 2025, vorläufig Leistungen nach §§ 3, 3a, 4, 6 AsylbLG zu gewähren. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt.

Der Antragsgegner und der Beigeladene haben die außergerichtlichen Kosten des Antragsstellers für beide Instanzen je zur Hälfte zu erstatten.

Gründe

I.

Im Streit ist die vorläufige Gewährung von laufenden Leistungen nach dem AsylbLG, insbesondere von Krankenhilfe.

Der 1989 im Libanon geborene Antragsteller leidet - wohl seit seiner Kindheit - an einer paranoiden Schizophrenie. Er reiste am 17.9.2022 in das Bundesgebiet ein und stellte am 16.2.2023 einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab und stellte keine Abschiebungsverbote fest (Bescheid vom 4.7.2023, bestandskräftig seit 18.7.2023). Zum 13.7.2023 wurde der Antragsteller dem Antragsgegner zugewiesen und verpflichtet, im Kreisgebiet des Antragsgegners seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen (Bescheid der Landesaufnahmebehörde - LAB - Niedersachsen vom 6.7.2023). Seit Abschluss des Asylverfahrens wurde er geduldet (mit verfügter Wohnsitzauflage für die Stadt Peine). Vom Antragsgegner bezog er zunächst Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Nach Aufforderung zur Mitwirkung bei der Identitätsklärung und Pass- bzw. Passersatzpapierbeschaffung kürzte der Antragsgegner schließlich die Leistungen gemäß § 1a AsylbLG ab Dezember 2023 (zuletzt bewilligt mit Bescheid vom 27.5.2024 ab Juni 2024 mit monatlich 522,00 €). Nachdem der Antragsteller auf zwei Termineinladungen zur Verlängerung der Duldung im April bzw. Juni 2024 nicht bei dem Antragsgegner vorgesprochen hatte, meldete dieser ihn am 17.7.2024 „nach unbekannt“ ab.

Mit E-Mail vom 24.8.2024 bat der mit Beschluss des Amtsgerichts (AG) Neukölln vom 16.7.2024 für den Antragsteller bestellte Betreuer den Antragsgegner um Übermittlung des aktuellen Leistungsbescheides. Hierauf teilte dieser mit, die Übersendung eines aktuellen Bescheides sei nicht möglich, weil der Antragsteller seit dem 17.7.2024 von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet sei. Mit E-Mail vom 8.10.2024 bat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers dringend um Gewährung von Krankenversicherungsschutz. Diesen als auf Asylleistungen und Krankenhilfe gedeuteten Antrag lehnte der Antragsgegner mangels Zuständigkeit ab, weil sich der Antragsteller nach seiner Wohnsitzauflage in Peine aufhalten müsse, sich tatsächlich jedoch offenbar in Berlin aufhalte (Bescheid vom 29.11.2024, angefochten durch Widerspruch vom 10.12.2024). Mit E-Mail vom 6.12.2024 übersandte die Prozessbevollmächtigte eine Bescheinigung über einen stationären Aufenthalt des Antragstellers und forderte die vorläufige Leistungsgewährung während des Widerspruchsverfahrens (Schriftsatz vom 20.12.2024).

Am 7.1.2025 hat der Antragsteller einen auf die Gewährung vorläufiger Leistungen nach § 3 AsylbLG und insbesondere Krankenhilfe gerichteten Eilantrag beim Sozialgericht (SG) Braunschweig mit der Begründung gestellt, psychisch schwer erkrankt zu sein. Für ihn ist geltend gemacht worden, dass er obdachlos, orientierungslos, behandlungsbedürftig und suizidal sei. Ohne medikamentöse Einstellung fehle es ihm an der notwendigen Krankheitseinsicht. Die zwischenzeitlich eingeleitete antipsychotische Pharmakotherapie müsse dringend fortgesetzt werden. Es bestehe die Gefahr der Verstärkung des wahnhaften Erlebens ohne erforderliche stationäre Therapie. Eine ambulante fachärztliche psychiatrische Therapie müsse vorbereitet werden, insbesondere mit Blick auf Sprachbarrieren. Die Einholung eines Gutachtens werde angeregt. Eine Rückreise sei dem Antragsteller aktuell ebensowenig möglich wie eine Vorsprache beim Antragsgegner, der nach § 10a AsylbLG weiterhin zuständig sei. Aufgrund von Desorientierung und Verwirrtheit sei der Antragsteller reiseunfähig, es bestehe während einer Reise die akute Gefahr von Panikanfällen. Er könne nicht allein Verkehrsmittel nutzen oder sich selbst versorgen. Eine Begleitung durch den Betreuer sei ausgeschlossen, die hierfür anfallenden Kosten würden nicht vom Betreuungsgericht übernommen. Der Widerspruch sei ausweislich des Übermittlungsprotokolls vom 10.12.2024 ordnungsgemäß beim Antragsgegner erhoben worden.

Der Antragsgegner hat sich wegen des längeren Aufenthalts des Antragstellers in Berlin für nicht mehr zuständig gesehen. Der Widerspruch vom 10.12.2024 sei nicht bei ihm eingegangen. Später hat er klargestellt, der Widerspruchseingang sei gemeinsam mit dem Schriftsatz vom 20.12.2024 erfolgt. Der Antragsteller könne jederzeit in die Flüchtlingsunterkunft in Peine zurückkehren. Dann würden unverzüglich Leistungen gemäß §§ 3, 4 AsylbLG gewährt. Bei der Rückreise könne er von seinem Betreuer begleitet werden.

Der Antragsteller ist vom 2.12.2024 bis 14.1.2025 stationär in der G. (Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik) in H. behandelt worden (vgl. Entlassungsbericht vom 7.1.2025). Hierfür sind Kosten von 13.158,23 € entstanden, die gegenüber dem Antragsteller angemahnt werden.

Das SG hat den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung abgelehnt, weil sich der Anspruch des Antragstellers auf eine Reisebeihilfe gemäß § 11 Abs. 2 AsylbLG beschränke. Ein weitergehender Anspruch bestehe nicht, weil der Antragsteller keine Gründe glaubhaft gemacht habe, die seinen Verbleib in Berlin zwingend erforderlich machen würden oder eine Rückkehr nach Peine unzumutbar erscheinen ließen. Seine gesundheitliche Situation stelle keinen zwingenden Grund dar. Die Notwendigkeit einer weiteren Begutachtung vor seiner Rückkehr bestehe nicht. Der Befund nach dem Klinikbericht vom 7.1.2025 belege dies (Beschluss vom 25.3.2025).

Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner am 25.4.2025 eingelegten Beschwerde, mit der er geltend macht, zwischenzeitlich wieder stationär aufgenommen worden zu sein. Es würden erneut suizidale Gedanken bei ihm aufkommen. Er sei mit seinen Wahngedanken überlastet. Wegen der möglichen Leistungspflicht des im Beschwerdeverfahren beigeladenen Landes Berlin nach § 11 Abs. 2 AsylbLG ist für den Antragsteller Anfang Mai 2025 ebenfalls ein Leistungsantrag gestellt worden. Eine Entscheidung steht insoweit aus.

Der Antragsgegner verweist darauf, dass unter einer neuroleptischen Medikation eine Verbesserung der floriden psychotischen Symptomatik beim Antragsteller habe erreicht werden können. Er ist der Auffassung, der Antragsteller sei in der Lage, die notwendige ambulante fachpsychiatrische und medikamentöse Behandlung in Peine weiterzuführen. Eine Begutachtung vor seiner Rückkehr hält er nicht für erforderlich.

Während des laufenden Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner zwischenzeitlich den Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 29.11.2024 zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 6.5.2025).

Mit Beschluss vom 7.5.2025 ist das Land Berlin zum Verfahren beigeladen worden. Es hält sich sachlich nicht für zuständig. Ein atypischer Fall i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG liege nicht vor. Eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung i.S.d. § 60a Abs. 2c AufenthG sei nicht bekannt. Es erschließe sich nicht, weshalb dem Antragsteller eine Rückreise nicht möglich sei. Die Kosten für ein Bahnticket könnten vom Beigeladenen übernommen werden, jedoch keine darüber hinausgehenden Leistungen.

Neben der elektronischen Verwaltungsakte des Antragsgegners liegen dem Senat im Betreuungsverfahren angeforderte psychiatrische Fachgutachten des Herrn I. vom 6.7.2024 sowie des Facharztes für Psychiatrie J. vom 25.4.2025 vor.  

II.

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt.

Der Senat hat über die Beschwerde trotz örtlicher Unzuständigkeit des SG Braunschweig zu entscheiden, weil er insoweit an die Entscheidung des SG gemäß § 17a Abs. 5 GVG gebunden ist. Danach prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Ungeachtet dessen bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit hier gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG - mangels Wohnsitz des Antragstellers - nach seinem (tatsächlichen) Aufenthaltsort - mithin Berlin - und nicht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt (vgl. dazu näher Groth in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 57 Rn. 46 sowie Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 57 Rn. 7 jeweils m.w.N.). Auf eine fachgesetzliche Fiktion des gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 10a Abs. 3 Satz 4 AsylbLG ist jedenfalls nicht abzustellen.

Der gegen den Antragsgegner, hilfsweise den Beigeladenen gerichtete Eilantrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Das SG wäre schon erstinstanzlich gehalten gewesen, das Land Berlin beizuladen, weil sich die ernsthafte Möglichkeit eines Anspruchs ihm gegenüber (§ 75 Abs. 2 Alt. 2 SGG) ergibt. Der Antragsteller hält sich bereits seit Mitte des Jahres 2024 dort auf.

 Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - juris) dürfen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Anfechtungs- und (wie hier) Vornahmesachen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Art. 19 Abs. 4 GG stellt jedoch besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn wie hier ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In einem solchen Fall müssen die Gerichte nach der vorgenannten Entscheidung des BVerfG, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen; Fragen des Grundrechtsschutzes sind einzubeziehen. Ist dem Gericht hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, ebenda).

Nach diesen Maßgaben entscheidet der Senat auf Grundlage einer Folgenabwägung. Dem Antragsteller sind danach vorläufig vom Beigeladenen gemäß § 11 Abs. 2 AsylbLG unabweisbar gebotene Leistungen in Gestalt laufender Leistungen nach §§ 3, 3a, 4, 6 AsylbLG zu gewähren.

Das streitige Rechtsverhältnis (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG) liegt in dem bei dem Beigeladenen Anfang Mai 2025 gestellten und - soweit ersichtlich - noch nicht beschiedenen Antrag des Antragstellers auf Leistungen nach § 11 Abs. 2 AsylbLG. Wegen der Verpflichtung allein des Beigeladenen kommt es auf den Ablehnungsbescheid des Antragsgegners vom 29.11.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6.5.2025 bzw. dessen möglicherweise eintretende Bestandskraft im Rahmen des Anordnungsverfahrens nicht an.

Die Frage der (endgültigen) Zuständigkeit des Antragsgegners oder des Beigeladenen für die gegenwärtige Leistungserbringung muss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend beantwortet werden (vgl. auch Senatsbeschluss vom 23.10.2019 - L 8 AY 39/19 B ER - juris Rn. 16). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AsylbLG darf Leistungsberechtigten in den Teilen der Bundesrepublik Deutschland, in denen sie sich einer asyl- oder ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, von der für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständigen Behörde regelmäßig nur eine Reisebeihilfe zur Deckung des unabweisbaren Bedarfs für die Reise zu ihrem rechtmäßigen Aufenthaltsort gewährt werden. Mit dem zum 21.8.2019 in Kraft getretenen neuen Satz 2 des § 11 Abs. 2 AsylbLG (BGBl. I 2019, 1294) hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine entsprechende Rechtsfolge auch bei einem Verstoß gegen eine Wohnsitzauflage eintritt (so bereits nach altem Recht Senatsbeschlüsse vom 5.4.2019 - L 8 AY 6/19 B ER -, 1.11.2018 - L 8 AY 37/18 B ER - und vom 1.3.2016 - L 8 AY 53/15 B ER - sowie vom 25.1.2016 - L 8 AY 59/15 B ER -; vgl. auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 30.1.2019 - L 9 AY 3/19 B ER - juris Rn. 7; a.A. Dollinger in Siefert, AsylbLG, 1. Aufl. 2018, § 11 Rn. 25 und Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 11 Rn. 26).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 AsylbLG liegen vor. Der Antragsteller ist als vollziehbar Ausreisepflichtiger nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Aufgrund seines (gewöhnlichen) Aufenthalts in Berlin liegt ein Verstoß gegen eine asylrechtliche räumliche Beschränkung bzw. eine wohnsitzbeschränkende Auflage i.S. des § 11 Abs. 2 AsylbLG vor. Der Antragsteller ist der im Kreisgebiet des Antragsgegners liegenden Stadt Peine zugewiesen worden (Bescheid der LAB Niedersachsen vom 6.7.2023) und aufgrund der zugleich gemäß § 60 Abs. 1 AsylG verfügten Wohnsitzauflage verpflichtet gewesen, an diesem Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen. Der Abschluss des Asylverfahrens hat hieran nichts geändert, weil auch im Rahmen der Erteilung der Duldungen gemäß § 61 AufenthG eine entsprechende Wohnsitzauflage erlassen worden ist (bezogen auf das Stadtgebiet Peine) und diese wegen der Bedürftigkeit des Antragstellers gemäß § 61 Abs. 1d AufenthG auch unabhängig von der Duldung besteht.

Nach der Rechtsprechung des Senats enthält § 11 Abs. 2 AsylbLG in den Fällen des Zuwiderhandelns gegen eine ausländerrechtliche räumliche Beschränkung - ungeachtet der Frage der örtlichen Zuständigkeit nach § 10a AsylbLG - jedenfalls gegenüber dem Ausländer (im Außenverhältnis) eine Leistungspflicht der Behörde seines tatsächlichen Aufenthaltsorts (umstritten, vgl. ausführlich Senatsbeschluss vom 20.2.2014 - L 8 AY 98/13 B ER - juris Rn. 26 ff.; einen Überblick über die insoweit vertretenen Auffassungen bietet Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 11 Rn. 33 bis 35 m.w.N.), so dass hier der Beigeladene verpflichtet ist, dem Antragsteller - im Außenverhältnis - die nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen zu gewähren.

Die sachliche Zuständigkeit des Beigeladenen für Angelegenheiten nach dem AsylbLG ergibt sich aus § 10 AsylbLG i.V.m. Abschnitt II Ziff. 3 Abs. 1 lit. e der Ausführungsvorschriften über die Zuständigkeit für die Leistungsgewährung nach dem AsylbLG im Land Berlin (AV ZustAsylbLG in der Fassung vom 22.7.2020), wonach das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten als Teil der Hauptverwaltung des Landes Berlin (vgl. hierzu Abschnitt II AV ZustAsylbLG i.V.m. § 2 Abs. 1, Abs. 2 des Gesetzes über die Zuständigkeit in der Allgemeinen Berliner Verwaltung in der Fassung vom 22.7.1996 - AZG - sowie § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung eines Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten und zur Anpassung betroffener Gesetze in der Fassung vom 14.3.2016 - FLüLAErrG Berlin - und dessen Anlage 1) für die Gewährung von Leistungen an Asylbewerber zuständig ist, die einem anderen Bundesland - wie hier - zugewiesen sind, sich tatsächlich jedoch in Berlin aufhalten.  

Der Umfang der Leistungen nach § 11 Abs. 2 AsylbLG beschränkt sich zwar in der Regel auf die notwendigen Reisekosten sowie dringend erforderliche Verpflegungskosten, damit der Ausländer den durch die asyl- bzw. ausländerrechtliche Beschränkung bzw. Wohnsitzauflage bestimmten Aufenthaltsort - hier also Peine - erreichen kann. Wenn jedoch (ausnahmsweise) Gründe vorliegen, die einen Verbleib am Ort des tatsächlichen Aufenthalts zwingend erfordern oder eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen, kann die unabweisbar gebotene Hilfe auch weitergehende Leistungen umfassen, die bis zu den regulären Leistungen reichen können (Senatsbeschlüsse vom 27.5.2011 - L 8 AY 31/11 B ER - juris Rn. 10 m.w.N. und 20.2.2014 - L 8 AY 98/13 B ER - juris Rn. 37). Durch die Gesetzesänderung zum 24.10.2015, nach der die Leistungen für den Regelfall nun auch ausdrücklich auf Reisebeihilfen beschränkt worden sind, hat sich an dem Leistungsinhalt des § 11 Abs. 2 AsylbLG im Wesentlichen nichts geändert. Die begriffliche Einschränkung („regelmäßig") zeigt, dass in atypischen Fällen - der Gesetzgeber verweist insoweit in erster Linie auf akute gesundheitliche Gründe (BR-Drs. 446/15, S. 62) - auch künftig Leistungen bis zum Niveau der regulären Leistungen zu erbringen sind (Senatsbeschluss vom 1.11.2018 - L 8 AY 37/18 B ER - m.w.N.).

Nach den besonderen Umständen des Einzelfalles erachtet der Senat derzeit die Rückkehr des Antragstellers (i.S. einer Verlagerung seines gewöhnlichen Aufenthalts) in den Landkreis Peine für unzumutbar. Hierfür spricht grundlegend, dass er aufgrund einer paranoiden Schizophrenie mit immer wieder akut auftretenden Wahnvorstellungen bis hin zu suizidalen Gedanken - trotz zwischenzeitlich erfolgter Medikation -, die erst jüngst einen zweiten stationären Aufenthalt seit Einleitung des Eilverfahrens erforderlich gemacht hat, bezogen auf eine Rückkehr nach Peine nicht (ohne Hilfe) reisefähig ist. Eine etwaige Reisebegleitung durch den rechtlichen Betreuer fällt nicht in dessen Aufgabenkreis (vgl. Beschluss des AG Neukölln - Betreuungsgericht - vom 16.7.2024). Vor einer Rückkehr des Antragstellers nach Peine muss zudem dort die erforderliche, unverzügliche ambulante und ggf. stationäre fachärztliche psychiatrische (Weiter-)Behandlung sichergestellt sein, um Gefährdungen für Leib und Leben hinreichend sicher vorbeugen zu können (s. hierzu psychiatrisches Gutachten des Herrn J. vom 25.4.2025, Seite 9 ff.). Nur bei Fortsetzung der Medikation kann das Risiko von Wahnvorstellungen verringert werden. Dies erfordert jedoch einen zeitlichen Vorlauf, um eine geeignete Praxis im Kreisgebiet des Antragsgegners ausfindig zu machen. Bei der praktischen Umsetzung sind allgemein der hohen Auslastung psychiatrischer Fachärzte - wobei bislang nicht geklärt ist, ob der Antragsteller im Kreisgebiet des Antragsgegners vor seinem Weggang bereits in entsprechender Behandlung gewesen ist - und im Besonderen der bei einer Behandlung zu berücksichtigenden Sprachkenntnisse des Antragstellers Rechnung zu tragen. Einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung i.S. des § 60a Abs. 2c AufenthG, wie sie der Beigeladene (auch) im Rahmen des § 11 Abs. 2 AsylbLG gefordert hat, bedarf es tatbestandlich zum Nachweis bzw. zur Glaubhaftmachung leistungsrechtlich relevanter Umstände nicht.

Hinsichtlich der Höhe der nach § 11 Abs. 2 AsylbLG zu gewährenden laufenden Leistungen orientiert sich der Senat jedenfalls im vorliegenden Eilverfahren an den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichten Leistungssätzen nach §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG (BGBl. 2024 I Nr. 325). Die Frage, ob diese in zutreffender Höhe ermittelt worden sind, insbesondere ob die Besitzstandsregelung des § 28a Abs. 5 SGB XII bei der Fortschreibung der Leistungssätze nach § 3a Abs. 4 AsylbLG anwendbar ist (vgl. einerseits LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.4.2025 - L 7 AY 918/25 ER-B - juris, andererseits SG Marburg, Beschluss vom 23.5.2025 - S 16 AY 8/25 ER - juris sowie SG Halle, Beschluss vom 17.3.2025 - S 17 AY 3/25 ER - juris), muss hier nicht erörtert werden. Durch die Leistungsgewährung nach § 11 Abs. 2 AsylbLG soll allein gewährleistet sein, dass der Antragsteller die nach den Umständen des Einzelfalles unabweisbar gebotenen Leistungen erhält. Danach belaufen sich die dem Antragsteller zugesprochenen Leistungen auf monatlich 162,00 € (notwendiger persönlicher Bedarf) und 202,00 € (notwendiger Bedarf). Kosten der Unterkunft und Heizung hat der Antragsteller im Eilverfahren nicht geltend gemacht. Die notwendige medizinische Behandlung ist gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 6 Abs. 1 AsylbLG sicherzustellen, weil es sich nach Aktenlage um zur Sicherung der Gesundheit des Antragstellers unerlässliche Behandlungsmaßnahmen handelt (vgl. insbesondere zuletzt psychiatrisches Gutachten des Herrn J. vom 25.4.2025).

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt selbst sicherstellen könnte.

Sollte sich in der Hauptsache letztlich eine Zuständigkeit des Antragsgegners ergeben, besteht insoweit die Möglichkeit der Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs (dazu sogleich). 

Die gerichtliche Anordnung ist zeitlich befristet vom Eingang des Eilantrags beim SG am 4.1. bis zum 30.11.2025, um dem Antragsteller organisatorisch eine Rückkehr nach Peine mit den notwendigen Vorbereitungen für eine fachärztliche Behandlung zu ermöglichen. Einer vorläufigen Leistungsgewährung ab Januar 2025 steht eine mangelnde Kenntnis des Beigeladenen von dem Leistungsfall nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht entgegen, weil nach § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII in zeitlicher Hinsicht auf die Antragstellung bei dem Antragsgegner abzustellen sein dürfte. Der Senat hat im Hinblick auf den negativen Kompetenzkonflikt zwischen dem an sich nach § 10a AsylbLG zuständigen Antragsgegner und dem nach § 11 Abs. 2 AsylbLG verpflichteten Beigeladenen aufgrund der „Akutsituation“ eine vorläufige Verpflichtung des Beigeladenen als sachgerecht angesehen (zu der auch möglichen Verpflichtung des nach § 10a AsylbLG zuständigen Leistungsträgers vgl. Senatsbeschluss vom 18.8.2023 - L 8 AY 20/23 B ER - juris Rn. 12 m.w.N.). Der für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Leistungsträger ist in § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylbLG ausdrücklich als leistungspflichtig genannt und kann vor Ort die notwendige Bedarfsprüfung im Einzelnen auch am sachgerechtesten durchführen bzw. noch erforderliche, weitere medizinische Aufklärungsmaßnahmen zeitnah in die Wege leiten. Der Senat hat insoweit bereits ausgeführt (Senatsbeschluss vom 20.2.2014 - L 8 AY 98/13 B ER - juris Rn. 37), dass die nach § 11 Abs. 2 AsylbLG an sich unzuständige Behörde die einhergehenden Kosten gegenüber der nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zuständigen Behörde im Rahmen eines Erstattungsverfahrens geltend machen können dürfte. Da die speziellen Erstattungsansprüche nach § 10b AsylbLG nur auf die örtliche Zuständigkeit nach § 10a Abs. 2 AsylbLG Bezug nehmen, kommt als mögliche Rechtsgrundlage einerseits § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 105 SGB X in Betracht, nach dem der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig sein kann, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat (vgl. zu dieser möglichen Rechtsgrundlage im AsylbLG etwa VG Gießen, Urteil vom 28.3.2000 - 6 E 1592/98 - juris Rn. 15 f.; SG Berlin, Urteil vom 21.1.2009 - S 88 AY 32/08 - juris Rn. 15 ff.). Andererseits erscheint auch ein Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers nach § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 104 SGB X (ggf. in analoger Anwendung) nicht ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Leistungspflicht der ortsnahen Behörde nach § 11 Abs. 2 AsylbLG nach der Rechtsprechung des Senats neben diejenige der nach § 10a Abs. 1 AsylbLG zuständigen Behörde tritt und insoweit auch eine Verpflichtung des Antragsgegners in Betracht gekommen wäre (s.o.).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

D.                                                                       E.                                                                        F.

Rechtskraft
Aus
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