B 3 KR 9/23 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KR 1750/19
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 209/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 9/23 R
Datum
Kategorie
Urteil

 

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten auch des Revisionsverfahrens.

G r ü n d e :

I

1
Im Streit steht der Anspruch auf Vergütung für die Abgabe von Arzneimitteln.

2
Der klagende Apotheker gab vom 16.6. bis 29.8.2017 auf vertragsärztliche Verordnungen von ihm ordnungsgemäß hergestellte parenterale Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln in der Onkologie zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten (Zytostatika) für Versicherte der beklagten Krankenkasse ab, rechnete diese ab und erhielt sie von der Beklagten zunächst vergütet. Die Abgaben durch den Kläger erfolgten in einer Versorgungsregion, in der (auch) die Beklagte mit einer anderen Apotheke einen Einzelvertrag nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V (in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung) über die Versorgung mit Zytostatika geschlossen hatte. Diese Apotheke war nach Ausschreibung in einem Vergabeverfahren für das Gebiet des Regionalloses bezuschlagt worden. Nach dem ausgeschriebenen Vertrag war sie alleiniger Vertragspartner der vertragschließenden Krankenkassen für das bezuschlagte Gebietslos und hier für die Zytostatikaversorgung exklusiv verantwortlich, für die sie  zusätzlich zum Vertrag über die Preisbildung für Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen (Hilfstaxe)  den Krankenkassen Preisabschläge anbot. Der Kläger hatte sich am Vergabeverfahren beteiligt und den Zuschlag für ein anderes Gebietslos erhalten. Nach dem ausgeschriebenen Vertrag verpflichtete er sich, in den übrigen Gebietslosen, für die er keinen Zuschlag erhalten hatte, keine Zytostatika abzugeben; auf diese Pflicht wies die Beklagte (auch) den Kläger mit Schreiben im April und Juni 2017 hin. Die Beklagte beanstandete im April 2018 nach Prüfung die vergüteten streitigen Abrechnungen (Retaxation) verfahrensrechtlich wie rechnerisch korrekt und rechnete die beanstandeten Abrechnungen gegen spätere unstreitige Vergütungsforderungen des Klägers auf. Dieser sei nach den Vertragskonditionen mangels Zuschlags im versorgten Gebiet nicht abgabeberechtigt gewesen.

3
Das SG hat die auf Zahlung einbehaltener Vergütung von 49 451,82 Euro nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 12.5.2021). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen: Dem Kläger habe für die streitigen Abrechnungen kein Vergütungsanspruch zugestanden. Er sei zur Abgabe der Zytostatika nicht berechtigt gewesen, weil die Beklagte nach § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V (in der ab 13.5.2017 geltenden Fassung) berechtigt gewesen sei, ihre Versicherten mit Zytostatika entsprechend dem mit einer anderen für das Gebietslos bezuschlagten Apotheke vor dem 13.5.2017 geschlossenen Exklusivvertrag zu versorgen. Dass den nach einem Ausschreibungsverfahren geschlossenen Einzelverträgen Exklusivität gegenüber den nicht bezuschlagten Apotheken zugekommen sei, folge aus § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung, dem hierzu ergangenen Urteil des BSG vom 25.11.2015 (B 3 KR 16/15 R  BSGE 120, 122 = SozR 42500 § 129 Nr 11) und aus § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V in der im streitigen Abgabezeitraum geltenden Fassung. Nach dieser habe die Exklusivität bis zum 12.5.2017 geschlossener Verträge innerhalb einer Übergangszeit bis 31.8.2017 unverändert und uneingeschränkt fortgegolten (Urteil vom 13.7.2022).

4
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger insbesondere die Verletzung von § 129 SGB V und § 31 SGB V. Die Vorinstanzen hätten diese Vorschriften fehlerhaft, nämlich in der vom BSG in seinem Urteil vom 25.11.2015 zugrunde gelegten Auslegung und ohne Berücksichtigung der Gesetzesänderungen zum 13.5.2017 angewandt. Entgegen der Entscheidung des BSG habe Einzelverträgen nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V keine Exklusivität innegewohnt und sei das Apothekenwahlrecht der Versicherten nach § 31 Abs 1 Satz 5 SGB V im Bereich der Zytostatikaversorgung nicht ausgeschlossen gewesen. Für eine anderslautende Auslegung sei jedenfalls nach der Aufhebung von § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V zum 13.5.2017 und auch in der Übergangszeit bis 31.8.2017 kein Raum mehr.

5
Der Kläger beantragt,

die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 2022 und des Sozialgerichts Dresden vom 12. Mai 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm 49 451,82 Euro nebst Zinsen in Höhe von neun Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 1. August 2018 zu zahlen.

6
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.


II

7
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass er keinen Anspruch auf die Vergütung für die streitige Abgabe von Zytostatika hat, weshalb die von der Beklagten vorgenommene Retaxation und Aufrechnung rechtmäßig ist.

8
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Entscheidungen der Vorinstanzen und der vom Kläger geltend gemachte Vergütungsanspruch in Höhe von 49 451,82 Euro nebst Zinsen, dem die Beklagte im Wege der Retaxation einen Erstattungsanspruch in dieser Höhe wegen der vom Kläger vom 16.6. bis 29.8.2017 an ihre Versicherten abgegebenen Zytostatika entgegenhält. Sein Zahlungsbegehren hat der Kläger im Gleichordnungsverhältnis der Beteiligten zulässig mit der Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) geltend gemacht (stRspr; vgl zuletzt BSG vom 5.9.2024  B 3 KR 21/22 R  vorgesehen für SozR 4, juris RdNr 8).

9
2. Die Rechtsgrundlagen für den Vergütungsanspruch des klagenden Apothekers für die Zubereitung und Abgabe von Zytostatika ergeben sich aus gesetzlichen, untergesetzlichen und vertraglichen Regelungen (vgl zum Vergütungsanspruch des Apothekers im Einzelnen BSG vom 22.2.2023  B 3 KR 7/21 R  BSGE 135, 254 = SozR 42500 § 129 Nr 16, RdNr 9 f).

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Nach § 129 Abs 1 SGB V (§ 129 SGB V hier in der Normfassung des AMVSG vom 4.5.2017, BGBl I 1050) iVm den ergänzenden Vereinbarungen auf Bundes- und Landesebene (§ 129 Abs 2, Abs 5 Satz 1 SGB V sowie den nach § 129 Abs 5c Satz 1 SGB V getroffenen Vergütungsregelungen in der Hilfstaxe) sind die einbezogenen Apotheken nach Maßgabe der Verträge öffentlich-rechtlich zur Abgabe vertragsärztlich verordneter Arzneimittel an die Versicherten als Sachleistung im Rahmen der Krankenbehandlung berechtigt und verpflichtet, wofür sie im Gegenzug einen in § 129 SGB V vorausgesetzten unmittelbaren gesetzlichen Anspruch auf Vergütung gegen die Krankenkassen erwerben, der durch Normenverträge näher ausgestaltet ist; als Mitglied im Sächsischen Apothekerverband gilt das auch für den Kläger.

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Im Zeitraum der streitigen Zytostatikaabgaben sah § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V vor: Verträge nach Satz 3 in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung werden mit Ablauf des 31.8.2017 unwirksam. Dies knüpfte an § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V (in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17.7.2009, BGBl I 1990) an, der vorsah: Die Versorgung mit in Apotheken hergestellten parenteralen Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln in der Onkologie zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten kann von der Krankenkasse durch Verträge mit Apotheken sichergestellt werden; dabei können Abschläge auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers und die Preise und Preisspannen der Apotheken vereinbart werden.

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3. Dem Vergütungsanspruch des Klägers für die streitigen Abgaben vom 16.6. bis 29.8.2017 steht entgegen, dass die Beklagte in der vom Kläger versorgten Region mit einer anderen Apotheke über die Versorgung mit Zytostatika nach Ausschreibung in einem Vergabeverfahren einen Einzelvertrag nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V (in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung) geschlossen hatte, der nach der gesetzlichen Übergangsregelung in § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V (in der ab 13.5.2017 geltenden Fassung) erst mit Ablauf des 31.8.2017 unwirksam wurde und den der Kläger kannte. Der Kläger kam insoweit keiner öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht nach und war nicht abgabeberechtigt.

13
a) Der Senat hält auch noch für den streitigen Zeitraum an seiner Rechtsprechung zur Exklusivitätswirkung von Verträgen nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V fest (BSG vom 25.11.2015  B 3 KR 16/15 R  B 3 KR 16/15 R  BSGE 120, 122 = SozR 42500 § 129 Nr 11; ebenso für den Zeitraum bis 12.5.2017 BSG vom 13.3.2025  B 3 KR 8/23 R  vorgesehen für SozR 4).

14
Nach dieser Rechtsprechung können, soweit Einzelverträge zwischen einer Krankenkasse und einer Apotheke nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V geschlossen werden, hiervon abweichende Regelungen des Rahmenvertrags nach § 129 Abs 2 SGB V und der ergänzenden Verträge nach § 129 Abs 5 Satz 1 SGB V keine Anwendung mehr finden. Dies hat zur Folge, dass im Umfang des vorrangigen Einzelvertrags die grundsätzliche Leistungsberechtigung und -verpflichtung anderer Apotheken zur Durchsetzung des Wirtschaftlichkeitsgebots entfällt, weil jede Leistung nur einmal erbracht werden kann. Eine zumindest prinzipielle Exklusivität der Lieferbeziehungen gehört danach zu den Essentialia eines entsprechenden Vertrags als Anreiz für Abschläge gegenüber den sonst geltenden Preisen (vgl im Einzelnen BSG vom 25.11.2015  B 3 KR 16/15 R  BSGE 120, 122 = SozR 42500 § 129 Nr 11, RdNr 19 ff).

15
b) Der an dieser Rechtsprechung geäußerten Kritik folgt der Senat für die hier übergangsweise geltende Gesetzeslage nicht (vgl aus der Literatur etwa Altenburger, MedR 2016, 393; Kieser, SGb 2017, 226; Penner/Büscher/Niemer/Reimer, GuP 2017, 15, 22 f; Wesser, A&R 2016, 51). § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung in der Auslegung des Senats bot noch bis 31.8.2017 für die Exklusivitätswirkung von Einzelverträgen eine verfassungsrechtlich hinreichende Rechtsgrundlage.

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4. Anderes folgt nicht daraus, dass der Gesetzgeber vor dem streitigen Zeitraum zum 13.5.2017 die gesetzliche Grundlage des § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V für Exklusivlieferverträge aufgehoben und durch die Übergangsregelung in § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V das Unwirksamwerden zuvor geschlossener Verträge mit Ablauf des 31.8.2017 bestimmt hat. Stellt eine Krankenkasse die Zytostatikaversorgung in der Weise sicher, dass sie nach dem bis 12.5.2017 geltenden Recht gebietsbezogene Einzelverträge nach Ausschreibung im Vergabeverfahren schließt, sind in der Übergangszeit bis 31.8.2017 nur bezuschlagte Apotheken zur Leistungserbringung berechtigt und alle anderen insoweit von der Leistungserbringung ausgeschlossen.

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Im Zeitraum der streitigen Abgaben stand auf dieser Grundlage der Abgabeberechtigung des Klägers noch die Exklusivität des Einzelvertrags mit einer anderen für das Gebiet bezuschlagten Apotheke entgegen. Aus den Gesetzesmaterialien zur Aufhebung des § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der bis 12.5.2017 geltenden Fassung ergibt sich insoweit, dass der Gesetzgeber die Exklusivität für das Kernelement der Verträge hielt, er diese gesetzliche Konzeption zwar nicht fortsetzte und für die Zukunft durch eine andere ersetzte, die Unwirksamkeit geltender Verträge mit ihrer exklusiven Wirkung aber aus Gründen der Rechtsklarheit erst nach einer gewissen Übergangsfrist vorsah (Ausschussdrucksache BT-Drucks 18/11449 S 32, 36 f mit Änderung gegenüber dem Regierungsentwurf BT-Drucks 18/10208 S 25, 30 f). Der Rechtsprechung des Senats ist damit für den Übergangszeitraum nicht die Grundlage entzogen worden (vgl zu deren bestätigender Inbezugnahme bereits BSG vom 20.12.2018  B 3 KR 6/17 R  SozR 42500 § 129 Nr 14 RdNr 41; BSG vom 21.9.2023  B 3 KR 4/22 R  vorgesehen für BSGE 137, 1 = SozR 42500 § 83 Nr 6, RdNr 35).

18
5. Der Kläger war über den Vertrag im Losgebiet, für das er nicht bezuschlagt worden war, und die daraus folgende regionale Abrechnungsbegrenzung durch seinen eigenen Vertrag und die Hinweisschreiben der Beklagten informiert. Aus der dennoch erfolgten Abgabe erwächst dem Kläger kein Vergütungsanspruch. Keinen Zuschlag zu erhalten und schlicht zu versorgen, begründet keinen Vergütungsanspruch. Der vollständige Vergütungsausschluss ist zur Durchsetzung des im streitigen Übergangszeitraum noch gesetzlich vorgesehenen Systems erforderlich (vgl BSG vom 25.11.2015  B 3 KR 16/15 R  BSGE 120, 122 = SozR 42500 § 129 Nr 11, RdNr 42).

19
6. Der streitigen Retaxation auf Null aufgrund eines Verstoßes gegen Abgabebestimmungen wegen fehlender Abgabeberechtigung steht Verfassungsrecht nicht entgegen (vgl bereits BSG vom 25.11.2015  B 3 KR 16/15 R  BSGE 120, 122 = SozR 42500 § 129 Nr 11, RdNr 43 unter Hinweis auf BVerfG vom 7.5.2014  1 BvR 3571/13 ua, juris).

20
Die nachgelagerte Retaxation und Aufrechnung ist als Nachvollzug der fehlenden Abgabeberechtigung im Abgabezeitpunkt trotz zwischenzeitlicher Rechtsänderung auch nach wie vor geeignet, die Geltung des Leistungserbringungsrechts durchzusetzen sowie rechtswidrige Vermögensverschiebungen zulasten der Krankenkassen zu korrigieren, weil eine Änderung der Abgabebestimmungen nach dem Abgabezeitpunkt den wegen fehlender Abgabeberechtigung entstandenen Erstattungsanspruch nicht wegfallen lässt (vgl zum Vertragsarztrecht BSG vom 22.10.2014  B 6 KA 3/14 R  BSGE 117, 149 = SozR 42500 § 106 Nr 48, RdNr 36 ff).

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7. Zu Recht beansprucht die Beklagte danach mangels Vergütungsanspruchs des Klägers für die unberechtigte Abgabe der verordneten Zytostatika im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs die einbehaltene Vergütung für nicht im Streit stehende Versorgungen von Versicherten der Beklagten (vgl zur Aufrechnung einer Krankenkasse mit anderweitigen Vergütungsansprüchen nur BSG vom 22.2.2023  B 3 KR 7/21 R  BSGE 135, 254 = SozR 42500 § 129 Nr 16, RdNr 18 mwN).

22
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.

 

Rechtskraft
Aus
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