L 6 P 50/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 P 30/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 P 50/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze


- Zu den Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bei einer verspäteten Antragstellung 

- Erkennbare Pflegebedürftigkeit eines behandlungsbedürftigen psychiatrisch erkrankten Kindes mit einhergehendem intensivem pädagogischem Hilfebedarf
 


I.    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. September 2022 wird zurückgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflegegeld bereits ab 1. Februar 2014. 

Der Kläger ist 2009 geboren und ist durchgängig bei der Beigeladenen kranken- sowie der Beklagten pflegeversichert. Er lebt zusammen mit zwei Brüdern und den Eltern in einem gemeinsamen Haushalt.

Der Kläger stellte am 28. Juni 2018 einen Antrag auf Leistungen bei der Beklagten. 

Daraufhin wurde der Kläger durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung am 13. Juli 2018 durch die Pflegefachkraft G. im häuslichen Umfeld begutachtet. 
Nach Angaben der Mutter des Klägers gegenüber der Gutachterin erhielt er 2011/2012 Krankengymnastik. Da er nicht gesprochen habe, habe er 2011 sowie erneut 2014-2015 Logopädie und wegen Störungen der Motorik von 2016 bis März 2018 Ergotherapie erhalten. 
Der Kläger hatte im Kindergarten eine Integrationskraft, u. a. da er aggressiv war und andere biss. U. a. deswegen besuchte er sechs Monate lang den Kindergarten nicht und dann zwei Monate lang nur stundenweise (Seite 4 des Gutachtens). 2014 seien ADHS, eine emotionale Störung im Kindesalter, eine kombiniert umschriebene Entwicklungsstörung und dissoziierte Intelligenz mit deutlicher Verhaltensstörung diagnostiziert worden (Seite 4 des Gutachtens).
Die Gutachterin kam zum Ergebnis, dass Pfleggrad 3 seit Juni 2018 bei 66,25 Punkten wegen einer hyperkinetischen Störung bzw. einer emotionalen Störung des Kindesalters bestehe. Aus dem Gutachten geht hervor, dass der Antrag auf Pflegeleistungen erst jetzt gestellt worden sei, da die Mutter des Klägers nicht gewusst habe, dass es diese Möglichkeit gebe (Seite 4 des Gutachtens). 

Mit Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 2018 wurde dem Kläger Pflegegeld nach Pflegegrad 3 ab 25. Juni 2018 in Höhe von 545,- Euro monatlich bewilligt.

Der Kläger legte mit Schreiben vom 29. Juli 2018 Widerspruch ein. Mit dem Widerspruch beantragte er die rückwirkende Bewilligung des Pflegegelds ab dem Zeitpunkt 1. Februar 2014, dem Zeitpunkt, ab dem er ein Integrationskind im Kindergarten wurde. Die Mutter des Klägers trug vor, sie habe bei verschiedenen Stellen um Hilfe nachgefragt, keine Stelle habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Pflegegeld zustehen würde. 

Der behandelnde Kinderarzt Dr. F. befürwortete in seinem vom 16. August 2018 datierenden und im Widerspruchsverfahren vorgelegten Attest die Bewilligung von Pflegegrad 3 ab 2014. Die Gesamtsituation habe sich trotz flankierender Maßnahmen seit 2014 dramatisch verschlimmert.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wurde ein weiteres MDK-Gutachten eingeholt. Dieses bestätigte am 6. September 2018 nach Aktenlage das Vorgutachten.
 
Mit Teilabhilfebescheid vom 14. September 2018 wurde dem Kläger Pflegegeld nach Pflegegrad 3 ab 1. Juni 2018 bewilligt. 

Der Kläger hielt seinen Widerspruch mit der Begründung aufrecht, er begehre die rückwirkende Bewilligung ab 1. Februar 2014. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 14 März 2019 wurde der Widerspruch zurückgewiesen, soweit nicht eine Teilabhilfe erfolgt war. Zur Begründung wurde im Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass Pflegeleistungen eine Antragsleistung seien. Die Antragsstellung sei erst am 25. Juni 2018 erfolgt, also mehr als einen Monat nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit. Eine Bewilligung von Leistungen ab 1. Februar 2014 sei nicht möglich. 

Am 11. April 2019 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben. 

Das Sozialgericht hat durch Beschluss vom 17. Februar 2022 die Krankenkasse beigeladen und die dort vorliegenden Leistungsdaten angefordert. Die Beigeladene hat am 24. März 2022 die gespeicherten Leistungsdaten für den Zeitraum 3. Januar 2018 bis 17. November 2021 übersandt (Bl. 55 f GA). Auf Nachfrage des Gerichts hat die Beigeladene mitgeteilt, dass Leistungsdaten vor 2018 nicht vorlägen (Bl. 60 GA).

Im Verfahren hat der Kläger folgende Unterlagen vorgelegt: 
-    Logopädischer Befund- und Therapiebericht der Logopädin J. vom 15. Januar 2014 (Bl. 73 GA),
-    Fachärztliches Attest der Vitos Klinik Hofheim vom 27. Juni 2018, wonach sich der Kläger seit 2015 fortlaufend in kinderpsychiatrischer Behandlung befand (Bl. 75 GA),
-    Protokoll der Dienstbesprechung der ASB Kita L. vom 28. Mai 2013 (Bl. 77 ff GA),
-    Bescheid des Landkreises Darmstadt-Dieburg – Sozialamt – vom 13. März 2014, mit welchem dem Kläger ab 1. Februar 2014 im Rahmen der Eingliederungshilfe ein Förderzuschuss zum Besuch der Kindertagestätte gewährt wurde (Bl. 80 ff GA),
-    Bescheid der Schule im K. – Grundschule des Landkreises Darmstadt-Dieburg – vom 6. Juli 2016, mit welchem dem Kläger schulpädagogische Förderung für das Schuljahr 2016/2017 gewährt wurde (Bl. 83 GA),
-    Arztbrief des Klinikums Aschaffenburg vom 25. November 2013 über die ambulante Behandlung des Klägers am 21. Oktober 2013, 22. Oktober 2013 und 24. Oktober 2013 (Bl. 84 f GA), darin heißt es:

                      Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).
 
-    Bescheid des Landkreises Darmstadt-Dieburg – Jugendhilfe – vom 17. Dezember 2015 über die Bewilligung von sozialpädagogischer Familienhilfe für die Zeit vom 17. Dezember 2015 bis 16. März 2016 (Bl. 92 GA),
-    Arztbrief des Klinikums Aschaffenburg vom 27. September 2012 (Bl. 93 f GA), dort ist Folgendes ausgeführt:

                      Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).

Weiter heißt es:

                     Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de). 

-    Schreiben der Frühberatungsstelle des Caritasverbandes Darmstadt vom 13. Januar 2014, vom 17. März 2014 und vom 7. Oktober 2013 (Bl. 97 ff. 105 f GA),
-    Bescheid des Landkreises Darmstadt-Dieburg – Fachbereich Soziales, Pflege und Senioren – Eingliederungshilfe – vom 19. Januar 2015 über eine Integrationsvereinbarung (Bl. 101 GA),
-    Brief der Vitos Klinik Hofheim vom 28. September 2015 (Bl. 107 ff, 133 ff), dort heißt es: Bl. 110 f:

                    Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).
 
-    Arztbrief des Klinikums Aschaffenburg-Alzenau vom 14. April 2015 über die ambulante Behandlung am 10. März 2015, 17. März 2015 und 24. März 2015, dort wird folgende Empfehlung ausgesprochen (Bl. 111f, 113 GA):

                    Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).
 
-    Hilfeplan gemäß § 36 SGB VIII des Landkreises Darmstadt-Dieburg – Jugendhilfe – vom 16. Februar 2016 (Bl. 116 ff GA),
-    Brief der Vitos Klinik vom 30. Dezember 2015 (Bl. 124 ff) über eine ambulante Behandlung vom 17. Dezember 2015 bis 19. Dezember 2015, dort heißt es (Bl. 126 GA):
                   Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de). 

-    Schreiben der Beigeladenen vom 16. Januar 2012 und 21. Januar 2010, mit welchen diese der Mutter jeweils einen Antrag zur Eltern-Kind-Kur zuschickte (Bl. 127 f GA),
-    Förderdiagnostische Stellungnahme vom 24. Februar 2016 (Bl. 129 ff GA).

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld bereits im Februar 2014 vorgelegen hätten. Nach § 33 Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) gelte die grundsätzliche Leistungspflicht ab Antragstellung. Als Antrag gelte nach § 16 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) jede an die Krankenkasse oder andere Stelle gerichtete Erklärung, aus der sich ein Leistungsverlangen ergebe. Dazu gehörten auch Informationen Dritter, die der Beklagten zugingen. Die Arztbriefe der Vitos Klinik hätten der Beklagten zur Verfügung gestanden (Bl. 10 f GA). Die Kenntnis der Beklagten könne unterstellt werden, da die Vitos Klinik mit dieser die klägerische Behandlung abgerechnet habe (Bl. 22 GA). Im weiteren Verfahren hat die Klägerseite weiter zu verschiedenen Krankenbehandlungen vorgetragen. Er hat darauf verwiesen, dass die Eltern mehrfach mit der Krankenkasse mit der Bitte um Hilfe telefoniert hätten, so dass sowohl 2010 als auch 2012 ein Antrag auf eine Mutter-Kind-Kur zugeschickt worden sei. Die Kuren seien jedoch nicht zustande gekommen (Bl. 33 GA). Außerdem hat der Kläger darauf verwiesen, dass der Familie vom 17. Dezember 2015 bis Mai 2017 eine Familienhelferin zur Seite gestellt worden sei (Bl. 33 GA).
Auch dem Kinderarzt Dr. F. hätte sich aufdrängen müssen, dass bei dem Kläger Pflegebedürftigkeit vorgelegen habe, und zwar nach Zugang der Arztbriefe des Klinikums Aschaffenburg vom 27. September 2012 und 25. Februar 2013 sowie der ihm in der Folge zugegangenen Arztbriefe.
Der Prozessbevollmächtigte hat schließlich daraufhin gewiesen, dass für ihn nicht nachvollziehbar sei, dass die Beigeladene die Akten ab 2012 nicht vorgelegt habe. Seiner Meinung nach bestehe eine Aufbewahrungsfrist für 10 Jahre.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht beantragt,
„1. die mündliche Verhandlung zu vertagen, damit geprüft werden kann, ob bei der Beigeladenen weitergehende Leistungsdaten aus der Zeit vor dem 01.01.2018 vorliegen bzw. vorliegen müssten zumindest ab 2012, 
2. hilfsweise, den Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 2018 sowie den Bescheid vom 14. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom14. März 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für das Kind A. A. die Pflegestufe III, 
hilfsweise die Pflegestufe II ab 1. Februar 2014 zu bewilligen“.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat darauf verwiesen, dass der telefonische Erstantrag am 25. Juni 2018 gestellt worden sei (Bl. 16 GA).

Das Sozialgericht hat die zulässige Klage mit Urteil vom 26. September 2022 als unbegründet abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 2018 sowie der Bescheid vom 14. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. März 2019 seien rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung bereits ab 1. Februar 2014. 

Leistungen der Pflegeversicherung seien ab Antragstellung bzw. Beginn des Monats der Antragstellung zu gewähren, § 33 SGB XI. Die Voraussetzungen dafür, für den Kläger im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung bereits ab 1. Februar 2014 zu fingieren, lägen mangels einer Beratungspflichtverletzung nicht vor. 

Es reiche für die Fiktion eines früher als im Juni 2018 gestellten Antrags nicht aus, dass der Kläger – was unstreitig sei – schon weit vor diesem Zeitpunkt an ADHS bzw. einer Entwicklungsstörung gelitten habe. 

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch erfordere vielmehr eine Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers und einen hierdurch beim Betroffenen hervorgerufenen rechtlichen Nachteil auf dem Gebiet des Sozialrechts; als Rechtsfolge sei der Zustand wiederherzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, wobei dies jedoch nur durch eine zulässige Amtshandlung geschehen dürfe (vgl. zum Vorstehenden: BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 13 R 44/09 R –, SozR 4-1200 § 14 Nr. 13, Rn. 26 m.w.N.). 

Die Beklagte habe keine dem Kläger gegenüber bestehende Beratungspflicht verletzt. Rechtsgrundlage sei insoweit § 14 Satz 1 SGB I. Danach habe jeder Anspruch auf Beratung und Belehrung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetz. Eine Beratungspflicht bestehe in der Regel bei einem entsprechenden Beratungsbegehren (st. Rspr., vgl. insbesondere, auch zum Folgenden, Urteile des BSG vom 17. August 2000 – B 13 RJ 87/98 R –, juris, Rn. 37-46 m.w.N. und vom 5. April 2000 – B 5 RJ 50/98 R –, juris, Rn. 20 ff. m.w.N.). Auch wenn kein konkretes Beratungsbegehren (mehr) vorliege, habe der Versicherungsträger bei konkretem Anlass auf klar zutage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängten und die von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt würden. 

Eine Beratungspflichtverletzung der Beklagten liege schon deshalb nicht vor, da die Mutter des Klägers ja gerade mitgeteilt habe, sich vor dem 25. Juni 2018 nicht an die Beklagte gewandt zu haben, da sie nichts davon gewusst habe, entsprechende Leistungen beantragen zu können. Ein Kontakt zwischen der Mutter des Klägers und der Beklagten vor dem 25. Juni 2018, der eine Beratungspflicht ausgelöst haben könnte, sei somit nicht vorgetragen worden. 

Auch eine Beratungspflichtverletzung der Beigeladenen sei nicht nachgewiesen. 
Die Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversicherung über die Versicherungskarte reiche nicht aus, um eine konkrete Beratungs- und Auskunftspflicht auszulösen (vgl. BayLSG, Urteil vom 24. Oktober 2007 – L 2 P 45/06). Weder aus den vom Gericht ermittelten Leistungsdaten noch aus dem Vortrag der Klägerseite habe sich ein Anlass für eine Spontanberatung der beigeladenen Krankenkasse über Leistungen der beklagten Pflegekasse ergeben. Es sei nicht konkret Beweis darüber angeboten worden, wann die Mutter des Klägers bei der Beigeladenen mit welcher Sachverhaltsdarstellung „Hilfe“ erbeten habe und wieso sich für die Beigeladene dann eine Information der Mutter des Klägers über mögliche Leistungen der Pflegeversicherung hätte aufdrängen müssen. Pflegekassen seien von Krankenkassen getrennte eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rechts. Grundsätzlich dürfte sich die Beratungspflicht der jeweiligen Körperschaft vor diesem Hintergrund auf die Leistungen der jeweiligen Körperschaft beschränken. Wann etwas Anderes gelten könnte und warum dies im vorliegenden Fall eingetreten sein solle, sei nicht vorgetragen. 

Ergänzend sei angemerkt, dass der Inhalt eines Gesetzes mit seiner Verkündung dem Normadressaten – und damit auch der Mutter des Klägers – gegenüber grundsätzlich als bekannt zu gelten habe, und zwar unabhängig davon, wann und inwieweit das Gesetz diesem tatsächlich zur Kenntnis gelangt sei (sog. formelle Publizität; vgl. BSG, Urteil vom 4. September 2013 – B 12 AL 2/12 R –, SozR 4 - 4300 § 28a Nr. 5, Rn. 27; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. März 2022 – L 2/12 R 125/20 –, Rn. 53 - 55, juris). 

Das Gericht habe den Antrag des Klägers auf Vertagung der mündlichen Verhandlung abgelehnt, da es sich keine weiteren Erkenntnisse von einer erneuten Anfrage bei der Beigeladenen hinsichtlich Leistungsdaten vor 2018 verspreche. Das Gericht habe bereits durch Verfügung vom 21. Februar 2022 und 14. März 2022 sowie 24. März 2022 entsprechende Daten erbeten, die nach Aussage der Beigeladenen nicht vorlägen. Ein substantiierter Klägervortrag hierzu nach dem 24. März 2022 sei vor der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt, auch fehle es an einem substantiierten Klägervortrag dazu, welche entscheidungserheblichen Gesichtspunkte sich aus etwaig doch vorliegenden Leistungsdaten vor 2018 ergeben könnten. Die Klägerseite habe insbesondere bis zur Entscheidung des Gerichts nicht substantiiert dazu vorgetragen, aus welcher Anfrage sich wann eine Auskunftspflicht der beigeladenen Krankenkasse über Leistungen der Pflegeversicherung ergeben haben solle. Es könne angesichts des Zeitablaufs und der offenbar lediglich mündlich erfolgten Anfragen der Mutter des Klägers nach „Hilfe“ nicht mehr festgestellt werden, welcher Sachverhalt dabei welcher Person seitens der Beigeladenen mitgeteilt worden sei und welche Auskunft dabei erteilt worden sei. Nach den auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsätzen der objektiven Beweis- bzw. Feststellungslast (vgl. Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 9. Auflage, § 103 Rn. 19 a; Hessisches Landessozialgericht, Urteil v. 11. Juli 2008, L 5 RJ 85/04; vgl. BSGE 6, 70, 72; BSGE 19, 52, 53) gehe die Unerweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter günstige Rechtsfolgen für sich herleiten wolle, zu seinen Lasten. 

Soweit die Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung ausgeführt habe, der Kinderarzt Dr. F. habe ab Februar 2014 wissen müssen, dass bei dem Kläger Pflegebedürftigkeit bestanden habe, teile das Gericht diese Auffassung nicht. Zwar können sich aus § 7 SGB XI über die allgemeinen Kriterien des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hinausgehend Beratungspflichten dritter Nicht-Sozialleistungsträger ergeben, bei deren Verletzung die Grundsätze des sozial-rechtlichen Herstellungsanspruchs ebenfalls anwendbar seien. 

§ 7 Satz 2 SGB XI laute: „Mit Einwilligung des Versicherten haben der behandelnde Arzt, das Krankenhaus, die Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie die Sozialleistungsträger unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird“. § 7 Satz 2 SGB XI setze voraus, dass sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit für einen Arzt abgezeichnet habe, und verlange damit einen Beratungsanlass im Sinne der Rechtsprechung zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (Baierl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 3. Aufl., § 7 SGB XI (Stand: 01.10.2021), Rn. 45 f.). 
Auch soweit 2014 schon die Diagnose ADHS gestellt und dies dem Kinderarzt Dr. F. bekannt gewesen sein sollte, sei damit noch nicht nachgewiesen, dass sich für Dr. F. der Eintritt von Pflegebedürftigkeit nach dem damals geltenden SGB XI abgezeichnet habe. Ausführungen durch die Klägerseite hierzu fehlten. Das Gericht habe mit Verfügung vom 21. Februar 2022 u.a. auf ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 6. Juni 2013 – L 27 P 8/12 hingewiesen, wonach bei einem Kind mit ADHS keine Pflegestufe bestanden habe, da der hohe pädagogische Unterstützungsbedarf im Rahmen der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht zu berücksichtigen sei. Wenn von daher nach damaligen Recht die Diagnose ADHS nicht zwingend mit der Bewilligung einer Pflegestufe einhergegangen sei, erschließe sich für das Gericht nicht, wieso sich für Dr. F. bei dem 2014 fünfjährigen Kläger der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abgezeichnet haben solle. Aus Sicht des Gerichts wäre es angesichts der hohen Belastung von Kinderärzten weltfremd, diesen neben den von ihnen zu leistenden medizinischen, kulturellen und sozialen Diensten noch zusätzlich eine Beratung in komplexen sozialrechtlichen Angelegenheiten abzuverlangen. § 7 Satz 2 SGB XI sei vielmehr auf die Fälle zu beziehen, in denen Pflegebedürftigkeit klar erkennbar sei, was typischerweise bei bestimmten körperlichen Behinderungen und fortgeschrittenen Krebserkrankungen mit körperlicher Schwäche der Fall sein könne (so die zu § 7 SGB XI entschiedenen Fälle LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. September 2010 – L 27 P 5/09 und LSG NRW, Urteil vom 22. November 2018 – L 5 P 86/17), jedenfalls aber nicht bei einer Erkrankung wie ADHS bzw. einer Entwicklungsstörung. 

Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten am 24. Oktober 2022 zugestellt worden (Bl. 163 GA).

Der Kläger hat am 11. November 2022 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. 

Zur Begründung führt die Klägerseite aus, dass die Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers bereits in dem Hinweis auf eine Mutter-Kind-Kur statt der Einrichtung einer Pflege liege. Gleichsam habe der das Verfahren begleitende Arzt es unterlassen, gegenüber der Beklagten einen Leistungsantrag zu stellen.
Dieses Verhalten des Arztes sei der Beklagten zuzurechnen. Im Urteil sei bereits falsch, dass die Kindesmutter mitgeteilt hätte, dass sie sich vor dem 25. Juni 2018 nicht an die Beklagte gewandt habe, vielmehr habe die Kindesmutter in Telefonaten ab 2010 eine Hilfeleistung im Sinne einer Betreuungsleistung direkt von der Beklagten geltend gemacht.

Richtig sei, dass weitere Angaben zu den Daten der Gespräche und den Teilnehmern auf Seiten der Beklagten nicht hätten gefunden werden können, deshalb der Antrag auf Vorlage der Aufzeichnungen der Beklagten. Die Gesprächsinhalte würden bei der Beklagten aufgenommen. Ziel der Gespräche sei der Wunsch nach zeitlicher Entlastung von der Pflege aufgrund der erforderlichen zusätzlichen Belastung beim Wäschewechseln, Körperreinigung, Essenzubereitung, Schlafensvorbereitung, Teilnahme an wöchentlichen Therapien wie Ergotherapie, Logotherapie, Krankengymnastik, Reittherapie. Dieser zusätzliche erschwerende Bedarf sei beispielsweise am 21. Februar 2010 und 16. Januar 2012 der beigeladenen Krankenkasse vorgetragen worden mit der Antwort, dass alle Therapieformen ausgeschöpft seien, keine weitere Möglichkeit der Hilfeleistung bestehe und ein Antrag auf eine Mutter-und-Kind-Kur gestellt werden solle. Zudem werde auf das Gedächtnisprotokoll der Mutter des Klägers verwiesen (Bl. 189 f GA).

Aus rein medizinischen Gründen hätte eine Pflegeleistung seit 2010 nicht verweigert werden können, dies hätte sich der Kinderarztpraxis Dr. M. und Dr. F. aufdrängen müssen.

Unter Verweis auf die Patientenakte der Vitos Klinik trägt der Kläger vor, dass eine Pflege nach Stufe III seit dem Jahr 2014 notwendig gewesen sei, wie sich außerdem auch aus den Berichten der Klinik Aschaffenburg ergebe (Bl. 458 GA). 

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. September 2022 – S 6 P 30/19 – aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide vom 13. Juli 2018 und 14. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2019 zu verurteilen, dem Kläger Pflegegeld in gesetzlicher Höhe bereits ab 1. Februar 2014 zu bewilligen.
Der Kläger stellt hilfsweise einen Beweisantrag und beantragt,
die Einholung eines ärztlichen Gutachtens zu der Frage: Musste sich Hr. Dr. F. sowie seinen Kollegen als auch den weiteren Behandlern wie Vitos Klinik Hofheim, Jugendpsychiatrie Klinikum Aschaffenburg, also allen Behandlern, wie sie in den Befundberichten von Dr. F. zusammengeführt worden sind, nicht aufdrängen, dass der Kläger einen Bedarf an Pflegeleistungen hat anlässlich des vorzufindenden gesundheitlichen Sachverhalts? Hätte wenigstens auf Grund objektiver Sachlage die Pflicht bestanden, Informationen an den Kläger respektive die Erziehungsberechtigten zu übermitteln und deren Einwilligung zur Weitergabe einzuholen (vgl. LSG NRW – L 5 P 86/17 –).
Hilfsweise
wird der oben genannte Beweisantrag als Antrag nach § 109 SGG gestellt. Beauftragt werden soll Prof. Dr. R., C-Straße, C-Stadt.
Hilfsweise beantragt der Kläger weiter, 
das Verfahren nach Art. 267 AEUV dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen zu der Frage des Heranziehungsanspruchs (VO 883/2004 i.d.F. vom 1. Mai 2010 i.V.m. der Rechtssache C 160/96; gleichfalls Art. 6 und Art. 48 des EU-Vertrages).

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, die angefochtene Entscheidung enthalte eine zutreffende rechtliche Würdigung des Sachverhalts. Ihr lägen grundsätzlich keine Leistungs- oder Behandlungsdaten, sondern lediglich Abrechnungsdaten vor (Bl. 355 GA). Telefongespräche würden zudem nicht aufgezeichnet (Bl. 392 GA). Weiter hat die Beklagte mitgeteilt, dass dem Kläger ab April 2019 Leistungen nach Pflegegrad 4 gewährt würden (vgl. Bl. 392 ff GA).

Auf Nachfrage des Senats hat die Beklagte mitgeteilt, dass aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr nachvollzogen werden könne, wer die Schreiben zu der Mutter-und-Kind-Kur vom 21. Januar 2010 und 16. Januar 2012 verfasst habe. Gleiches gelte für die an diesem Tag geführten Telefonate (Bl. 187 GA). Auch die Beigeladene hat erklärt, dass die Angaben der Mutter des Klägers zu den Telefontakten in den Jahren 2010 und 2012 auf Grund des zeitlichen Ablaufs nicht mehr nachvollzogen werden könnten.

Im Berufungsverfahren ist die Patientenakte des Klägers vom behandelnden Kinderarzt nebst Arztbriefen vorgelegt worden (Bl. 233 GA). Diese beinhaltet u.a. den Arztbrief der Vitos Klinik Hofheim vom 20. November 2015 (Bl. 295 f GA). Darin heißt es:

                        Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).
 
Im Erörterungstermin am 24. Juni 2024 ist der Sach- und Streitstand von der Berichterstatterin mit den Beteiligten erörtert worden (Bl. 379 GA).

Der behandelnde Kinderarzt Dr. F. hat im Wege der schriftlichen Zeugenaussage mitgeteilt, dass er keine weiteren konkreten Erinnerungen zu den Gesprächen mit den Eltern des Klägers bzgl. der ihm zu gewährenden Hilfen und Förderungen habe (Bl. 435 GA).

Der Senat hat die Patientenakte und die Pflegedokumentation des Klägers bei der Vitos Klink Hofheim beigezogen.

Das Klinikum Aschaffenburg-Alzenau hat unter anderem einen Arztbrief an Dr. F. vom 4. April 2013 übersandt (Bl. 443 ff GA). Aus diesem geht hervor, dass sich der Kläger vom 22. Oktober 2012 bis 11. April 2013 zur Diagnostik in der Ambulanz der Klinik befand. In dem Brief heißt es u. a.:

                     Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de). 

Des Weiteren ist das Protokoll eines Vorgesprächs vom 22. Oktober 2012 mit der Institutsambulanz vorgelegt worden (Bl. 447 GA), darin heißt es u. a.: 

                     Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de).
 
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die Patientenakte des Klägers bei Dr. F. und die Patientenakte des Klägers bei der Vitos Klinik und das Protokoll des Erörterungstermins und der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Streitgegenständlich sind neben dem Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. September 2022 die Bescheide vom 13. Juli 2018 und 14. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. März 2019, soweit die Beklagte durch sie einen Anspruch des Klägers auf Pflegegeld für die Zeit ab 1. Februar 2014 bis 31. Mai 2018 abgelehnt hat. 

Hiergegen wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG), weil die Beklagte mit den angegriffenen Bescheiden Pflegegeld erst ab 25. Juni 2018 und sodann ab 1. Juni 2018 bewilligt hat.

Der Senat konnte den Rechtstreit nach Schließung der mündlichen Verhandlung trotz der gestellten Beweisanträge und dem Vorlageantrag entscheiden.

Es handelt sich bei den Anträgen, ein Gutachten nach § 106 SGG bzw. nach § 109 SGG einzuholen, nicht um prozessordnungsgemäße Beweisanträge, mittels derer unter Angabe eines hinreichend deutlich bezeichneten Beweisthemas und eines bestimmten Beweismittels eine konkrete Tatsachenbehauptung unter Beweis gestellt wird.

Die Beweisanträge des Klägers, ein Gutachten nach § 106 SGG bzw. nach § 109 SGG einzuholen, zielen im Kern auf die Entscheidung einer Rechtsfrage, denn der Kläger begehrt mit dem Gutachtenauftrag nicht die Aufklärung eines medizinischen Sachverhalts, sondern dessen rechtliche Bewertung, so dass ihm schon aus diesem Grunde nicht zu entsprechen ist (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 30. August 2021 –L 6 AS 80/21, juris). Der Antrag ist darauf gerichtet, eine rechtliche Pflicht der Behandelnden festzustellen, diese Stoßrichtung des Antrages stellt keine Aufklärung des Sachverhalts dar, sondern eine rechtliche Bewertung, welche dem Gericht und nicht dem Sachverständigen obliegt.

Im Übrigen ist dem Antrag wegen dessen Unbestimmtheit nicht zu entsprechen. Der Kläger begehrt ohne zeitliche Begrenzung die Bewertung der Wahrnehmung („musste sich …. nicht aufdrängen“) aller Behandelnden. In Person wird nur der behandelnde Kinderarzt genannt. 

Soweit der Kläger die Vorlage an den EuGH beantragt, bestand eine Vorlagepflicht des Senats nicht. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) a) über die Auslegung der Verträge, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union.

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

Trotz Nachfrage konnte von Klägerseite weder ein europarechtlicher Zusammenhang noch eine entscheidungserhebliche europarechtliche Fragestellung aufgezeigt werden noch sind solche ersichtlich, so dass eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht erkennbar ist. 

Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Pflegegeld ist für den Zeitraum ab 1. Februar 2014 bis 31. Dezember 2016 § 37 Abs. 1 SGB XI i.d.F. des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes – PNG – vom 23. Dezember 2012 (BGBl I 2246). Danach können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (Satz 1). Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (Satz 2). Ab 1. Januar 2017 bildet § 37 SGB XI i.d.F. des Zweites Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften – Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II – vom 21. Dezember 2015 (BGBl I 2424) die Rechtsgrundlage für den begehrten Anspruch. 

Es kann dahinstehen, ob der Kläger bereits in der Zeit vom 1. Februar 2014 bis 31. Mai 2018 pflegebedürftig gewesen ist (und, wenn ja, in einem zum Bezug von Pflegegeld berechtigenden Umfang); denn seinem Anspruch steht die nach § 33 Abs. 1 Sätze 1 ff. SGB XI mit Bezug auf den Streitzeitraum verspätete Antragstellung im Juni 2018 entgegen. 

Der Kläger hat keinen Anspruch im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so behandelt zu werden, als ob er den Antrag für dieses Leistungsbegehren rechtzeitig gestellt hat.

Der richterrechtlich entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist allgemein anerkannt (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2021 – B 3 P 5/19 R –, BSGE 132, 216-224, SozR 4-3300 § 7 Nr. 1, Rn. 14) und auch im hiesigen Zusammenhang grundsätzlich anwendbar: Namentlich besteht keine gesetzliche Rechtsgrundlage zur Bewältigung der Fehlerfolgen einer etwaigen sozialrechtlichen Beratungspflichtverletzung durch die Pflegekasse oder Dritte, insbesondere enthält das SGB XI keine Regelungen, die eine Fehlerkorrektur ermöglichen oder ausschließen. 

Allerdings liegt hier keine Pflichtverletzung der Beklagten und auch keine Pflichtverletzung der Beigeladenen, der behandelnden Krankenhäuser oder des behandelnden Kinderarztes vor, die der Pflegekasse zuzurechnen ist, vor, durch die beim Kläger kausal ein sozialrechtlicher Nachteil eingetreten ist.

Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass ein Beratungsfehler nicht nachgewiesen ist.

Soweit sich der Kläger auf Beratungsfehler der Beklagten und der Beigeladenen beruft aufgrund von geführten Telefonaten in den Jahren 2010 und 2012, ist ein solcher Beratungsfehler nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar. Zunächst ist festzustellen, dass sich aus den vorgelegten Schreiben nicht ergibt, für welches Kind die Mutter-Kind-Kur beantragt werden sollte. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Klägerseite nicht darlegen konnte, mit wem die Mutter des Klägers auf Beigeladenenseite gesprochen hat. Allein die viele Jahre später verschriftlichte Erinnerung der Mutter des Klägers über den Inhalt der vorgetragenen Telefonate genügt nicht, um dem Senat die hinreichend sichere Überzeugung von deren Inhalt und damit von den tatsächlichen Voraussetzungen eines Beratungsfehlers zu verschaffen. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass die vermeintlich unterlassene Beratung aus den Jahren 2010 und 2012 einen für die verspätete Antragstellung ursächlichen Beratungsfehler darstellen könnte, nachdem der Kläger Leistungen erst ab 1. Februar 2014 beantragt hat und offenbar davon ausgeht, dass die Leistungsvoraussetzungen erst ab diesem Zeitpunkt vorlagen.  

Ein Anspruch lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass die beigeladene Krankenkasse aufgrund der Inanspruchnahme von Krankenbehandlung verpflichtet gewesen wäre, die Klägerseite auf die Möglichkeit der Antragstellung bei der Pflegekasse hinzuweisen. Eine Beratungspflicht der beigeladenen Krankenkasse kann aus der reinen Abrechnung von Krankenbehandlung durch die Leistungserbringer nicht abgeleitet werden, weil die Krankenkassen nach Abschluss von Behandlungsmaßnahmen bzw. stationären Heilverfahren aus Datenschutzgründen nicht über die Diagnosen der Versicherten unterrichtet werden (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. Oktober 2007 – L 2 P 45/06 –, Rn. 19, juris).

Selbst wenn man aber der beigeladenen Krankenkasse Kenntnis über die Behandlungen des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum unterstellt, musste diese daraus keine Rückschlüsse auf die Pflegebedürftigkeit des Klägers ziehen, insbesondere weil die Behandlung des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgte, deren Fachrichtung nicht typischer Weise Anlass bot, bei dem Kläger wegen der dort durchgeführten Behandlung Pflegebedürftigkeit zu vermuten. Die Sachbearbeiter der Krankenversicherung würden überfordert, wenn man von ihnen verlangen würde, aus ärztlichen Diagnosen Rückschlüsse auf eventuelle Pflegebedürftigkeit zu ziehen (Bayerisches LSG, Urteil vom 24. Oktober 2007 – L 2 P 45/06 –, Rn. 19, juris) oder bei ihnen ggf. vorliegende Behandlungsunterlagen durchzuarbeiten. Namentlich sieht der Senat die Voraussetzungen einer Spontanberatungspflicht hier nicht als erfüllt an.

Es ist ebenfalls nicht ersichtlich, dass die den Kläger behandelnden Krankenhäuser ihre Benachrichtigungspflichten nach § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB XI verletzt haben.

Nach § 7 Abs. 2 Satz 2 SGB XI (§ 7 SGB XI idF des PNG vom 23. Oktober 2012, BGBl I 2246) haben mit Einwilligung des Versicherten der behandelnde Arzt, das Krankenhaus, die Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie die Sozialleistungsträger unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird.

Diese Benachrichtigungspflicht mit Einwilligung des Versicherten erfordert zunächst dessen Aufklärung und Beratung durch den Verpflichteten über die Möglichkeit einer Benachrichtigung der Pflegekasse und die hierfür erforderliche Einwilligung (BSG, Urteil vom 17. Juni 2021 – B 3 P 5/19 R –, BSGE 132, 216-224, SozR 4-3300 § 7 Nr. 1, Rn. 15). Die Aufklärungs- und Beratungspflicht setzt kein entsprechendes Beratungsbegehren des Versicherten voraus, sondern entsteht als Pflicht zur Spontanberatung u.a. dann, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet (BSG, Urteil vom 17. Juni 2021 – B 3 P 5/19 R –, BSGE 132, 216-224, SozR 4-3300 § 7 Nr. 1, Rn. 15, juris mit weiteren Nachweisen). Die Beratungsleistungen eines Krankenhauses haben sich im Zusammenhang mit dessen Informations- und Beratungspflichten im Rahmen des Versorgungs- und Entlassmanagements auf alle Folgen zu erstrecken, die – hier bezogen auf einen etwaigen Pflegebedarf – nach Entlassung des Versicherten bei Behandlungsabschluss als möglich erscheinen können. Die Beratung muss auch solche nicht fernliegende Komplikationen einbeziehen, die mit der jeweiligen Behandlung typischerweise einhergehen können und auf die Versicherte und Angehörige (vgl. § 7 Abs 2 Satz 1 SGB XI) deshalb vorbereitet sein sollten (BSG, Urteil vom 17. Juni 2021 – B 3 P 5/19 R –, BSGE 132, 216-224, SozR 4-3300 § 7 Nr. 1, Rn. 15).

Entgegen der Ansicht des Klägers ist eine Verletzung der Beratungspflicht im Rahmen des Versorgungs- und Entlassmanagements der behandelnden Krankenhäuser nicht ersichtlich. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es für die Verpflichtung zur Aufklärung und Beratung nach dem Schutzzweck der Norm nur darauf an, ob ein sich abzeichnender Eintritt von Pflegebedürftigkeit des Klägers als eine objektiv nicht untypische Folge der Behandlung für das Krankenhaus als Adressat der Benachrichtigungspflicht des § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI aufgrund der konkreten Behandlungssituation im streitgegenständlichen Zeitraum objektiv erkennbar war (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2021 – B 3 P 5/19 R –, BSGE 132, 216-224, SozR 4-3300 § 7 Nr. 1, Rn. 16).

Aus den beigezogenen Unterlagen geht bezogen auf den streitigen Zeitraum hervor, dass bei dem Kläger folgende (Verdachts-)Diagnosen vorlagen: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten, Verdacht auf hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen, Sprachentwicklungsstörung mit Schwerpunkt im Bereich Phonologie, Verdacht auf Wahrnehmungsstörung und Hypermetropie (vgl. Anamnese der Ambulanz der Vitos Klinik Hofheim im Rahmen des Erstkontakts am 22. April 2015; Arztbriefe des Klinikums Aschaffenburg vom 27. September 2012, 25. November 2013 und vom 14. April 2015). 

Unter anderem die Handlungsempfehlungen des Klinikums Aschaffenburg verweisen im streitgegenständlichen Zeitraum allesamt auf die Fortsetzung ergotherapeutischer Behandlung und die Fortsetzung der Kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung. Aus den ausgewerteten Unterlagen drängt sich nicht die Pflegebedürftigkeit des Klägers im Sinne des SGB XI auf. Vielmehr stand für den Senat nachvollziehbar und plausibel die Krankenbehandlung, aber auch der pädagogische und kinder- und jugendhilferechtliche Förderbedarf des Klägers im Mittelpunkt der Betrachtung. 

Hierbei muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass die Erkrankung des Klägers im Gegensatz zu dem vom BSG in seinem Urteil vom 17. Juni 2021 entschiedenen Sachverhalt nicht typisch mit der Pflegebedürftigkeit des Erkrankten einhergeht, sondern dies als eine untypische Folge der Erkrankung einzustufen ist. 

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass bei der Bewertung der Pflegebedürftigkeit nur der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind (Mehrbedarf) maßgebend ist, der normale bzw. übliche Hilfebedarf von Kindern also bei der Bemessung des behinderungsbedingten zeitlichen Aufwandes bei der Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr. 1 bis 3 SGB XI) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr. 4 SGB XI) außer Ansatz bleiben muss (BSG, Urteil vom 15. März 2012 – B 3 P 1/11 R –, BSGE 110, 214-222, SozR 4-3300 § 15 Nr. 5, SozR 4-1300 § 44 Nr. 24, Rn. 11). Im vorliegenden Fall wäre zudem der erzieherische vom pflegerischen Unterstützungsbedarf abzugrenzen gewesen.

Dies zugrundlegend folgt der Senat der Argumentation des Klägers nicht, dass sich den behandelnden Ärzten und Krankenhäusern die Pflegebedürftigkeit des Klägers habe aufdrängen müssen.  

Aus den ausgewerteten Unterlagen geht für den Streitzeitraum zur Überzeugung des Senats hervor, dass der Kläger ständige Aufmerksamkeit und Zuwendung benötigte und sich nur schwer in den sozialen Kontext einfügen konnte. Er hatte Schwierigkeiten, die ihm gesetzten Grenzen im sozialen Kontext zu akzeptieren. Diesbezüglich sahen die behandelnden Ärzte kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung und pädagogische Maßnahmen als geboten an. 

Der Schwerpunkt der erforderlichen Hilfe bestand im streitgegenständlichen Zeitraum in der Notwendigkeit einer Strukturierung und pädagogischen Führung des Klägers. Hierbei ergaben sich insbesondere Probleme wegen der starken familiären Belastung aufgrund der Erkrankung der beiden Brüder und der konflikthaften Beziehungen im Kindergarten. Daraus folgt nach Ansicht des Senats, dass der Kläger einen hohen (anerkannten) pädagogischen Unterstützungsbedarf hat. Dieser besondere Bedarf wurde durch die Gewährung von Maßnahmen wie dem Förderzuschuss im Kindergarten und der Gewährung einer Familienhilfe Rechnung getragen.  

Da solche pädagogischen Hilfestellungen jedoch nicht im Rahmen des Pflegebedarfes nach § 14, § 15 SGB XI zu berücksichtigen sind (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juni 2013 – L 27 P 8/12 –, Rn. 26, juris; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 27. September 2006 – L 2 P 64/04 –, Rn. 26, juris), musste sich eine mögliche Pflegedürftigkeit dem behandelnden medizinischen Personal nicht aufdrängen (anders: Behandlung eines Krebspatienten, LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. November 2018 – L 5 P 86/17 –, Rn. 55, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. September 2010 – L 27 P 5/09 –, Rn. 29, juris).

Gleiches gilt für den behandelnden Kinderarzt Dr. F. Aus der Patientenakte ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass sich dem behandelnden Kinderarzt eine mögliche Pflegedürftigkeit des Klägers aufgedrängt hat bzw. aufdrängen musste. Entsprechende Vermerke in der Akte finden sich nicht. Vielmehr ist der behandelnde Kinderarzt auch von einer behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung des Klägers mit einhergehendem intensivem pädagogischem Hilfebedarf ausgegangen.

Aus diesen Gründen kann der Senat weder eine Pflichtverletzung der Beklagten selbst noch eine ihr zurechenbare Pflichtverletzung Dritter erkennen, so dass die verspätete Antragstellung im Juni 2018 nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln ist, als ob der Kläger den Antrag für sein Leistungsbegehren rechtzeitig gestellt habe. Die Berufung ist daher zuzurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG

Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG vorliegt.
 

Rechtskraft
Aus
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