S 6 P 30/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 P 30/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 P 50/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. 


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Pflegegeld nach Pflegestufe III ab 1.2.2014.

Der Kläger ist 2009 geboren und war durchgängig bei der Beigeladenen sowie der Beklagten versichert. Der Kläger war bereits im 1. Lebensjahr verhaltensauffällig. Im 2. Lebensjahr erhielt er Logopädie, Physiotherapie und Ergotherapie. Ab September 2012 erfolgte eine Behandlung im SPZ in Aschaffenburg und in der KJP Höchst. Zu den Akten gelangte ein Arztbrief des Klinikums Aschaffenburg vom 27.9.2012, wonach beim Klägerin eine Störung des Sozialverhaltens und eine kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung bestehen. In dem Arztbrief wird erwähnt, der Kindergarten habe den Wunsch geäußert, ihn als Integrationskind zu führen. Es falle eine Diskrepanz zu gleichaltrigen Kindern auf. Der Kläger hatte im Kindergarten eine Integrationskraft, u. a. da er aggressiv war und andere biss. U.a. deswegen besuchte er 6 Monate lang den Kindergarten nur stundenweise. Zu den Akten gelangte ein Bericht des ASB Hessen über eine Dienstbesprechung in der Kita L. vom 28.5.2013, auf den ebenso wie auf Berichte der Frühförderungsstelle des Caritasverbands Darmstadt vom 13.1.2013, 17.3.2013 und 7.10.2013 verwiesen wird. Nach einem Arztbrief des Klinikums Aschaffenburg vom 25.11.2013 war A. dort mehrfach in ambulanter Behandlung wegen einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten und kombiniert umschriebenen Entwicklungsstörungen sowie einer Sprachstörung im Bereich der Phonologie. Im Jahr 2014 wurden beim Kläger die Diagnosen „„ADHS“, emotionale Störung des Kindesalters, kombinierte Entwicklungsstörung und dissoziierte Intelligenz mit deutlicher Verhaltensstörung“ gestellt. Nach einem Bescheid des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 13.3.2014 wurde dem Kläger ein Förderzuschuss für einen Integrationsplatz als Kindergartenkind bewilligt. Einem Arztbrief des Klinikums Aschaffenburg vom 14.4.2015 zufolge wurde eine ambulante Behandlung des Klägers in einer Gruppe wegen Aggressivität des Klägers abgebrochen. Es sei prognostisch davon auszugehen, dass A. 2016 nicht beschulbar sein werde. Eine stationäre Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei erforderlich. Einem Attest des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. S. vom 27.6.2018 zufolge ist der Kläger seit 2015 fortlaufend in kinderpsychiatrischer Behandlung wegen einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens sowie kombinierten Entwicklungsstörungen. Auf einen Bericht der Vitosklinik Hofheim vom 28.9.2015 über einen vollstationären Aufenthalt des Klägers in der Zeit vom 17.6.-23.10.2015 wird verwiesen.  

Am 25.6.2018 beantragte der Kläger durch seine gesetzlichen Vertreter bei der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung. Nach einem Gutachten des MDK am 13.7.2018 wurden 66,25 Punkte (Pflegegrad 3) wegen einer hyperkinetischen Störung bzw. einer emotionalen Störung des Kindesalters seit 6/2018 ermittelt.  Aus dem Gutachten geht hervor, dass der Antrag auf Pflegeleistungen erst jetzt gestellt wurde, da die Mutter des Klägers nicht wusste, dass es diese Möglichkeit gab. Mit Bescheid der Beklagten vom 13.7.2018 wurden dem Kläger Leistungen nach Pflegegrad 3 ab 25.6.2018 in Höhe von 545 Euro monatlich bewilligt. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Der aktuell vorliegende Hilfebedarf bestehe bereits ab 1.2.2014. Beantragt werde das Pflegegeld ab dem Zeitpunkt, wo A. ein Integrationskind im Kindergarten wurde (1.2.2014). Die Mutter des Klägers trug vor, sie habe bei verschiedenen Stellen um Hilfe gefragt, keine Stelle habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Pflegegeld zustehen würde. 

Laut einem Attest des Kinderarztes Dr. F. vom 16.8.2018 befürwortet dieser die Bewilligung von Pflegegrad 3 ab 2014. Auf ein MDK-Gutachten vom 6.9.2018 nach Aktenlage wird verwiesen. 

Mit Teilabhilfebescheid vom 14.9.2018 wurde für den Kläger Pflegegrad 3 ab 1.6.2018 bewilligt. Der Kläger erhielt seinen Widerspruch in der Folge aufrecht. Mit Widerspruchsbescheid vom 14.3.2019 wurde der Widerspruch zurückgewiesen, soweit nicht eine Teilabhilfe erfolgt war. Pflegeleistungen seien eine Antragsleistung. Die Antragsstellung sei erst am 25.6.2018 erfolgt, also mehr als einen Monat nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit. Eine Bewilligung von Leistungen ab 1.2.2014 sei nicht möglich. 

Am 11.4.2019 hat der Kläger vor dem SG Darmstadt Klage erhoben. Bezug genommen werde auf die Empfehlung der Vitos Klinik Hofheim vom 20.11.2015 und das Attest vom 16.8.2018. Die Kenntnis der Pflegekasse könne unterstellt werden, da die Vitos Klinik Hofheim mit dieser abgerechnet habe. Auch habe A. schon lange Methylphenidat bekommen, welches ein ADHS-Medikament sei. 

Auf die richterlichen Hinweise vom 23.4.2020 und 21.2.2022 wird verwiesen.

Das Gericht hat die Techniker Krankenkasse durch Beschluss vom 17.2.2022 beigeladen und die dort vorliegenden Leistungsdaten angefordert, auf die verwiesen wird. 

Der Kläger beantragt,

1.die mündliche Verhandlung zu vertagen, damit geprüft werden kann, ob bei der Beigeladenen weitergehende Leistungsdaten aus der Zeit vor dem 01.01.2018 vorliegen bzw. vorliegen müssten zumindest ab 2012, 
2. hilfsweise, den Bescheid der Beklagten vom 13.7.2018 sowie den Bescheid vom 14.9.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.3.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für das Kind A. A. die Pflegestufe III, hilfsweise die Pflegestufe II ab 01.02.2014 zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. 

Hinsichtlich des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte, die Gegenstand der Entscheidung waren, verwiesen. 


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 13.7.2018 sowie der Bescheid vom 14.9.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.3.2019 sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung bereits ab 1.2.2014. 

Leistungen der Pflegeversicherung sind ab Antragstellung bzw. Beginn des Monats der Antragstellung zu gewähren, § 33 SGB XI. Die Voraussetzungen dafür, für den Kläger im Wegen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung bereits ab 1.2.2014 zu fingieren, liegen mangels einer Beratungspflichtverletzung nicht vor.

Es reicht für die Fiktion eines früheren Antrags als im Juni 2018 nicht aus, dass A. – was unstreitig ist – schon weit vor diesem Zeitpunkt an ADHS bzw. einer Entwicklungsstörung litt. 

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch erfordert vielmehr eine Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers und einen hierdurch beim Betroffenen hervorgerufenen rechtlichen Nachteil auf dem Gebiet des Sozialrechts; als Rechtsfolge ist der Zustand wiederherzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, wobei dies jedoch nur durch eine zulässige Amtshandlung geschehen darf (vgl. zum Vorstehenden: BSG, Urteil vom 06. Mai 2010 – B 13 R 44/09 R –, SozR 4-1200 § 14 Nr 13, Rn. 26 mwN). 

Die Beklagte hat keine dem Kläger gegenüber bestehende Beratungspflicht verletzt. Rechtsgrundlage ist insoweit § 14 Satz 1 SGB I. Danach hat jeder Anspruch auf Beratung und Belehrung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetz. Eine Beratungspflicht besteht in der Regel bei einem entsprechenden Beratungsbegehren (st. Rspr., vgl. insbesondere, auch zum Folgenden, Urteil des BSG vom 17.08.2000 - B 13 RJ 87/98 R -, juris, Rn. 37-46 m.w.N.; und vom 05.04.2000 - B 5 RJ 50/98 R -, juris, Rn. 20 ff. m.w.N.). Auch wenn kein konkretes Beratungsbegehren (mehr) vorliegt, hat der Versicherungsträger bei konkretem Anlass auf klar zutage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und die von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt werden. 

Eine Beratungspflichtverletzung der Beklagten liegt schon deshalb nicht vor, da die Mutter des Klägers ja gerade mitgeteilt hat, sich vor dem 25.6.2018 nicht an die Beklagte gewandt zu haben, da sie nichts davon wußte, entsprechende Leistungen beantragen zu können. Ein Kontakt zwischen der Mutter des Klägers und der Beklagten vor dem 25.6.2018, der eine Beratungspflicht ausgelöst haben könnte, wird somit nicht vorgetragen. 

Auch eine Beratungspflichtverletzung der Beigeladenen ist nicht nachgewiesen. 

Die Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversicherung über die Versicherungskarte reicht nicht aus, um eine konkrete Beratungs- und Auskunftspflicht auszulösen (vgl. BayLSG, Urteil vom 24.10.2007, L 2 P 45/06). Weder aus den vom Gericht ermittelten Leistungsdaten noch aus dem Vortrag der Klägerseite hat sich ein Anlass für eine Spontanberatung der Techniker Krankenkasse über Leistungen der Techniker Pflegekasse ergeben. Es ist nicht konkret Beweis darüber angeboten worden, wann die Mutter des Klägers bei der Beigeladenen mit welcher Sachverhaltsdarstellung „Hilfe“ erbeten hat und wieso sich für die Beigeladene dann eine Information der Mutter des Klägers über mögliche Leistungen der Pflegeversicherung hätte aufdrängen müssen. Pflegekassen sind von Krankenkassen getrennte eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rechts. Grundsätzlich dürfte sich die Beratungspflicht der jeweiligen Körperschaft vor diesem Hintergrund auf die Leistungen der jeweiligen Körperschaft beschränken. Wann etwas Anderes gelten könnte und warum dies im vorliegenden Fall eingetreten sein soll, ist nicht vorgetragen. 

Ergänzend sei angemerkt, dass der Inhalt eines Gesetzes mit seiner Verkündung dem Normadressaten - und damit auch der Mutter des Klägers - gegenüber grundsätzlich als bekannt zu gelten hat, und zwar unabhängig davon, wann und inwieweit das Gesetz diesem tatsächlich zur Kenntnis gelangt ist (sog formelle Publizität; vgl. BSG, Urteil vom 04. September 2013 – B 12 AL 2/12 R –, SozR 4-4300 § 28a Nr 5, Rn. 27; (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. März 2022 – L 2/12 R 125/20 –, Rn. 53 - 55, juris). 

Das Gericht hat den Antrag des Klägers auf Vertagung der mündlichen Verhandlung abgelehnt, da es sich keine weiteren Erkenntnisse von einer erneuten Anfrage bei der Beigeladenen hinsichtlich Leistungsdaten vor 2018 verspricht. Das Gericht hat bereits durch Verfügung vom 21.2.2022 und 14.3.2022 sowie 24.3.2022 entsprechende Daten erbeten, die nach Aussage der Beigeladenen nicht vorliegen. Ein substantiierter Klägervortrag hierzu nach dem 24.3.2022 ist vor der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt, auch fehlt es an einem substantiierten Klägervortrag dazu, welche entscheidungserheblichen Gesichtspunkte sich aus etwaig doch vorliegenden Leistungsdaten vor 2018 ergeben könnten. Die Klägerseite hat insbesondere bis zur Entscheidung des Gerichts nicht substantiiert dazu vorgetragen, aus welcher Anfrage der Klägerin sich wann eine Auskunftspflicht der Techniker Krankenkasse über Leistungen der Pflegeversicherung ergeben haben soll. Es kann angesichts des Zeitablaufs und der offenbar lediglich mündlich erfolgten Anfragen der Mutter des Klägers nach „Hilfe“ nicht mehr festgestellt werden, welcher Sachverhalt dabei welcher Person seitens der Beigeladenen mitgeteilt wurde und welche Auskunft dabei erteilt wurde. Nach den auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsätzen der objektiven Beweis- bzw. Feststellungslast (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 9. Auflage, § 103 RdNr 19 a; Hessisches Landessozialgericht, Urteil v. 11.07.2008, L 5 RJ 85/04; vgl. BSGE 6, 70, 72; BSGE 19, 52, 53) geht die Unerweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter günstige Rechtsfolgen für sich herleiten will, zu seinen Lasten.

Soweit die Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, der Kinderarzt Dr. F. habe ab Februar 2014 wissen müssen, dass bei A. Pflegebedürftigkeit vorlag, teilt das Gericht diese Auffassung nicht. Zwar können sich aus § 7 SGB XI über die allgemeinen Kriterien des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hinausgehend Beratungspflichten Dritter Nicht-Sozialleistungsträger ergeben, bei deren Verletzung die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ebenfalls anwendbar sind. 

§ 7 S. 2 SGB XI lautet: „Mit Einwilligung des Versicherten haben der behandelnde Arzt, das Krankenhaus, die Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie die Sozialleistungsträger unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird“. § 7 S. 2 SGB XI setzt voraus, dass sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit für einen Arzt abgezeichnet haben soll und verlangt damit einen Beratungsanlass im Sinne der Rechtsprechung zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (Baierl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 3. Aufl., § 7 SGB XI (Stand: 01.10.2021), Rn. 45 f.).  

Auch soweit 2014 schon die Diagnose ADHS gestellt gewesen sein sollte und dies dem Kinderarzt Dr. F. bekannt gewesen sein sollte, ist damit noch nicht nachgewiesen, dass sich für Dr. F. der Eintritt von Pflegebedürftigkeit nach dem damals geltenden SGB XI abgezeichnet hat. Ausführungen durch die Klägerseite hierzu fehlen. Das Gericht hat mit Verfügung vom 21.2.2022 u.a. auf ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 6.6.2013, L 27 P 8/12 hingewiesen, wonach bei einem Kind mit ADHS keine Pflegestufe bestand, da der hohe pädagogische Unterstützungsbedarf im Rahmen der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht zu berücksichtigen war.  Wenn von daher nach damaligen Recht die Diagnose ADHS nicht zwingend mit der Bewilligung einer Pflegestufe einherging, erschließt sich für das Gericht nicht, wieso sich für Dr. F. bei dem 2014 fünfjährigen Kläger der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abgezeichnet haben soll. Aus Sicht des Gerichts wäre es angesichts der hohen Belastung von Kinderärzten weltfremd, diesen neben den von ihnen zu leistenden medizinischen, kulturellen und sozialen Diensten noch zusätzlich eine Beratung in komplexen sozialrechtlichen Angelegenheiten abzuverlangen. § 7 S. 2 SGB XI ist vielmehr auf die Fälle zu beziehen, wo Pflegebedürftigkeit klar erkennbar ist, was typischerweise bei bestimmten körperlichen Behinderungen und fortgeschrittenen Krebserkrankungen mit körperlicher Schwäche der Fall sein mag (so die zu § 7 SGB XI entschiedenen Fälle LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.9.2010, L 27 P 5/09 und LSG NRW, Urteil vom 22.11.2018, L 5 P 86/17), jedenfalls aber nicht bei einer Erkrankung wie ADHS bzw. einer Entwicklungsstörung. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Zulässigkeit der Berufung auf §§ 143, 144 SGG
 

Rechtskraft
Aus
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