L 4 KR 216/25 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 31 KR 67/25 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 4 KR 216/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

§ 37c SGB V (außerklinische Intensivpflege AKI) und § 37 Abs. 2 SGB V (Häusliche Krankenpflege HKP) stehen im normativen Verhältnis zueinander dergestalt, dass § 37c SGB V lex specialis zu § 37 Abs. 2 SGB V ist (ebenso: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. März 2025, L 11 KR 302/25 ER-B, Rn. 23 - juris; Knorr in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 37c SGB V, Rn. 10)

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. April 2025 wird zurückgewiesen.

Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit außerklinischer Intensivpflege (AKI) während des Aufenthaltes in der Kindertagesstätte.

Die Antragstellerin ist am 21. April 2021 geboren und leidet unter einem Diabetes mellitus Typ 1 (ICD-10 E10.91; Erstdiagnose März 2024). Sie ist mit einem DexcomG6 und Omnipod 5 der Firma Insulet versorgt. Die Überwachung des Blutzuckers erfolgt über ein Smartphone, welches sich in Reichweite der Antragstellerin befinden muss. Die Pumpe empfängt die Blutzuckerwerte des Sensors. Folglich ist sie zum Tätigwerden auf diesen angewiesen oder auf die manuelle Eingabe der Blutzuckerwerte. Bei dem Omnipod ist prinzipiell eine Insulingabe wie auch weiteres Eingreifen erforderlich. Der Omnipod ist auf automatisierte oder manuelle Abgabe einstellbar. Bei der automatisierten Einstellung sendet die Pumpe bei Empfang eines Wertes Alarme und gibt Aufforderungen zum Handeln. Sie verfügt in diesem Modus über eine Funktion, eine Korrektur von einer Einheit abzugeben, dies entspricht ungefähr der Menge wie für einen Schokoriegel. Neben der Überwachung des Blutzuckers ist auch regelmäßig eine kurzfristige Anpassung der Insulingabe erforderlich.

Die Antragstellerin besucht die Ev.-luth. Kindertagesstätte G. in H. und ist dort für eine tägliche Betreuung von 8 Stunden angemeldet, folglich wöchentlich für 40 Stunden.

Die Antragsgegnerin bewilligte der Antragstellerin im Mai 2024 die Verabreichung von Insulininjektionen und Messung der Blutzuckerwerte als Einzelleistungen. Zur Überprüfung des Antrages auf AKI nach § 37c Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) beauftragte die Antragsgegnerin den Medizinischen Dienst (MD) mit einem sozialmedizinischen Gutachten. In diesem Gutachten vom 30. August 2024 gelangte der Sachverständige des MD zur Auffassung, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Unter Berücksichtigung des Alters des Kindes sei festzustellen, dass die erforderlichen Tätigkeiten nicht selbstständig durchgeführt werden könnten. Hierzu sei eine entsprechende Hilfestellung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege erforderlich. Die Hilfestellungen könnten durch Integrationshelfer oder Laienhelfer nach entsprechender Schulung erfolgen. Schulungen würden in der Regel durch kinderdiabetologische Abteilungen in Krankenhäusern oder auch durch kinderdiabetologische Schwerpunktpraxen ermöglicht. In einer Häufigkeit von mindestens sechsmal täglich/fünfmal wöchentlich seien Blutzuckermessungen, Bolus-Insulingaben, Reaktion auf Hyperglykämie im Sinne einer punktuellen Behandlungspflege als sinnvoll zu erachten. Eine AKI sei nicht notwendig und könne aus sozialmedizinischer Sicht nicht befürwortet werden.

Mit Bescheid vom 3. September 2024 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin auf AKI ab. Voraussetzung für die Gewährung von AKI sei, dass täglich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohliche Situation eintreten könnte, die ein sofortiges Eingreifen durch eine entsprechend ausgebildete Pflegefachkraft erfordere. Davon sei nicht auszugehen. Nach Aussagen des Sachverständigen des MD sei die punktuelle Behandlungspflege bei täglich wechselnder körperlicher und geistiger Beanspruchung des Kindes aus sozialmedizinischer Sicht nachvollziehbar. Als Häufigkeit sehe der MD mindestens sechsmal täglich/fünfmal wöchentliche Blutzuckermessungen, Bolus-Insulingaben, Reaktion auf Hyperglykämie im Sinne der Behandlungspflege als sinnvoll an.

Dagegen richtete sich die Antragstellerin mit ihrem Widerspruch vom 30. September 2024. Diesen begründete sie damit, dass die schwankenden Glukosewerte sowie Hyper-/Hypoglykämien nicht planbar seien. Diesen Zuständen könnte nicht durch einen Pflegedienst, der nur punktuell anwesend sei, adäquat und zeitlich angemessen entgegengewirkt werden. Es sei eine ständige Beaufsichtigung, Anleitung und Betreuung notwendig, die von einem Pflegedienst punktuell nicht geleistet werden könnte. Es bedürfe einer dauerhaften Beobachtung von 8:00 bis 12:00 Uhr.

In einem weiteren Gutachten vom 4. November 2024 stellte der Sachverständige des MD nach einem Hausbesuch fest, dass das Diabetesmanagement eine kontinuierliche Beobachtung des Kindes bezüglich des Essverhaltens und der Blutzuckerwerte mit ständiger Interventionsbereitschaft zur Vermeidung von Hypoglykämien sowie zur Vermeidung von Hyperglykämien über den Zeitraum der Mahlzeiten hinaus erfordere. Nachvollziehbar sei anhand der Unterlagen eine Therapie mit dem Dexcom G6 und Omnipod 5 sowie eine suboptimale Einstellung des vorliegenden Diabetes mellitus Typ 1 nach Erstdiagnose im März 2024. Ableitbar sei eine ständige Beaufsichtigungspflicht des Kindes mit hohem Unterstützungsbedarf. Erforderlich sei bis zu neunmal täglich eine manuelle Nachsteuerung der Blutzuckerwerte. Die häusliche Betreuung werde durch die Mutter übernommen. Die sozialmedizinische Indikation für AKI könne aus den Unterlagen nicht abgeleitet werden. Zu empfehlen seien Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege und die Prüfung der Indikation einer Integrationshilfe.

Unter dem 9. Januar 2025 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin häusliche Krankenpflege in Form der Injektion und Blutzuckermessung für den Zeitraum vom 6. Januar 2025 bis zum 6. Januar 2026 dreimal täglich, fünfmal wöchentlich. Darüber hinaus lehnte sie (erneut) die Kindergartenbegleitung mit der Begründung ab, dass sich dabei um keine Leistung der häuslichen Krankenpflege handele.

Mit Verordnung vom 13. Februar 2025 über AKI des Diabeteszentrum I. wurde der Antragstellerin attestiert, dass unter intensivierter Insulintherapie gehäufte Hypoglykämien und Hyperglykämien möglich seien. Als Notfallmanagement wurde die „Gabe von Traubenzucker/Apfelsaft bei Unterzuckerung, Gabe von Insulin bei Hyperglykämie“ aufgeführt. Das Therapieziel sei die Sicherstellung von Vitalzeichen und die Vermeidung von lebensbedrohlichen Situationen. Basierend auf dieser Verordnung beantragte die Antragstellerin am 14. Februar 2025 für den Zeitraum vom 1. März 2025 bis zum 1. September 2025 AKI in der Kindertagesstätte. Die Antragsgegnerin forderte in der Folgezeit zum Zwecke der Beratung durch den MD die Blutzuckerdokumentation der letzten vier Wochen mit Angabe der Maßnahmen, den Insulinanpassungsplan sowie Berichte der Spezialambulanzen und sozialpädiatrischen Zentren an.

Die Antragstellerin hat am 3. April 2025 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig gestellt. Im Wege der einstweiligen Anordnung werde die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt, für den Zeitraum vom 1. März 2025 bis zum Ablauf des aktuellen Verordnungszeitraums am 1. September 2025 AKI im Umfang von bis zu 40 Stunden wöchentlich zu gewähren. Eine spezielle Beobachtung der Antragstellerin durch eine geschulte Fachkraft sei unerlässlich. Demnach sollte die Fachkraft die mobilen Geräte beaufsichtigen und ggf. eingreifen sowie die Funktionsfähigkeit überwachen. Die Fachkraft müsse auch die zeitlichen Ressourcen haben, dauerhaft den Blick auf die Antragstellerin zu richten, sowie zum anderen das fachliche Wissen haben, um nach „blutiger Messung“ auch ggf. notwendige Korrekturen des Blutzuckers vorzunehmen, um somit für eine stabile Stoffwechsellage während der Zeit zu sorgen. Voraussetzung für die Minimierung gefährlicher Über- und Unterzuckerungen sei die Anwesenheit einer Person, die adäquat behandeln könnte. Zwar würden die Eltern der Antragstellerin eine sog. Follower-Funktion besitzen, indem sie über ihr Handy die Werte einsehen könnten, allerdings sei weder der Sensor noch die Pumpe aus der Ferne ansteuerbar. Der Kindergarten gestattete der Antragstellerin den Aufenthalt nicht ohne pflegerisches Fachpersonal.

Die Antragsgegnerin hat im erstinstanzlichen Verfahren die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für die AKI nicht gegeben seien. Soweit die Antragstellerin die Notwendigkeit der AKI mit der Möglichkeit von Blutzuckerschwankungen, insbesondere Unterzuckerungen begründe, handele es sich dabei um rein abstrakte Möglichkeit. Es werde nicht dargelegt, dass es zu solchen Ereignissen gekommen sei. Es ergebe sich nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar lebensbedrohliche Situationen auftreten könnten, die eine sofortige pflegerische Interventionen notwendig machen würden. Allein die abstrakte Gefahr des Eintretens einer interventionsbedürftigen Situation vermöge der Erforderlichkeit einer AKI-Betreuung in der Kindertagesstätte nicht zu begründen.

Die Antragsgegnerin hat mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 2025 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 3. September 2024 zurückgewiesen. Der MD habe in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 30. August 2024 festgestellt, dass die im Gesetz normierten und in der Richtlinie über die Verordnung von außerklinischer Intensivpflege (AKI-RL) konkretisierten Leistungsvoraussetzungen nicht gegeben seien. Die Antragstellerin bedürfe aufgrund ihrer Erkrankung vielmehr häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V in Form von Messungen des Blutzuckerspiegels und Bolus-Insulingaben dreimal täglich während des Kindergartenbesuchs. Die Erforderlichkeit einer sofortigen ärztlichen und pflegerischen Intervention bei mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar auftretenden lebensbedrohlichen Situationen sei nach Auffassung des Sachverständigen des MD nicht nachvollziehbar, sodass die Leistungsvoraussetzungen nach § 37c Abs. 1 SGB V zu verneinen seien.

Das erstinstanzliche Gericht hat Blutzuckerdokumentationen bzw. CGM-Auswertungen der letzten sechs Wochen angefordert und zudem angefragt, ob und ggf. wann es bei der Antragstellerin im Rahmen des Besuchs der Kindertagesstätte zu medizinischen Notfällen gekommen sei. Das erstinstanzliche Gericht hat zudem die Arbeitsunfähigkeitszeiten der Mutter der Antragstellerin angefragt. Hinsichtlich der Blutzuckerdokumentationen und CGM-Auswertungen wird auf Bl. 241 bis 251 der eGA verwiesen.

Mit Beschluss vom 28. April 2025 hat das erstinstanzliche Gericht den Antrag auf einstweilige Gewährung von Leistungen der AKI ab dem 1. März 2025 bis zum 1. September 2025 für bis zu 40 Stunden wöchentlich abgelehnt. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Intensivpflege habe keinen Erfolg. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) könne das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheine. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setze das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt werde) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit seien glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG] i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Es fehle an einem Anordnungsanspruch. Gemäß § 37c Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB V hätten Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege Anspruch auf AKI. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liege dabei vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich sei. Gemäß § 37c Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB V könne die Intensivpflege auch in einer Kindertagesstätte erbracht werden. Gemäß § 37c Abs. 1 Satz 8 Nr. 1 SGB V definiere der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), wann ein besonders hoher Bedarf an Behandlungspflege vorliege. Die Konkretisierung erfolgt in der AKI-RL, die am 15. September 2023 in Kraft getreten sei. Gemäß § 4 Abs. 1 der AKI-RL sei die Verordnung von AKI bei Versicherten zulässig, bei denen wegen Art, Schwere und Dauer der Erkrankung in Schule oder Kindertagesstätte die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft notwendig sei, weil eine sofortige ärztliche oder pflegerische Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar erforderlich werden könne, wobei die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden könnten. Diese Anspruchsvoraussetzungen würden bei der Antragstellerin nicht vorliegen. Insofern sei auf die überzeugende gutachterliche Stellungnahme des MD vom 30. August 2024 und 4. November 2024 zu verweisen. Regelmäßig lebensbedrohliche Situationen – zumal zur Besuchszeit in der Kindestagesstätte - seien demnach ärztlicherseits nicht dokumentiert, auch wenn die Antragstellerin unstreitig zur Blutzuckermessung und Überwachung fremder Hilfe bedürfe. Grundsätzlich sei jedoch davon auszugehen, dass sinnvolle Therapieentscheidungen der erst 3 Jahre alten Antragstellerin nicht möglich seien. Hierzu sei eine entsprechende Hilfestellung erforderlich. Diese Hilfestellung könne durch Integrationshelfer oder Laienhelfer nach entsprechender Schulung erfolgen. Es sei nicht ersichtlich, weshalb dies ausschließlich durch eine Fachkraft erfolgen könne, zumal auch sonst Eltern oder Verwandte eine entsprechende Schulung - mithin Nichtfachkräfte – die Bedienung der entsprechenden Geräte und Behandlungsschritte erlernen. Der MD habe hierzu ausgeführt: „Schulungen werden in der Regel durch kinderdiabetologische Abteilungen in Krankenhäusern oder auch durch kinderdiabetologische Schwerpunktpraxen ermöglicht. Zur Durchführung ist im Normalfall keine medizinische Fachkraft erforderlich.“ Dem schließe sich die Kammer an. Allein eine Schwankung des Blutzuckerspiegels vermöge die Anspruchsvoraussetzungen für eine intensivpflegerische Betreuung in der Kindestagesstätte nicht zu begründen. Das ärztliche Attest beschreibe lediglich die abstrakte Gefahr des Eintretens einer Hypo- oder Hyperglykämie. Der regelmäßige Eintritt lebensbedrohlicher Zustände sei hingegen nicht glaubhaft gemacht und ergebe sich auch nicht aus den eigereichten Unterlagen, welche zwar Blutzuckerschwankungen dokumentierten (insb. in den Abendstunden), jedoch auch den automatischen Ausgleich durch die Pumpe. Aus den vorliegenden Unterlagen ergebe sich nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar lebensbedrohliche Situationen auftreten könnten, die eine sofortige pflegerische Intervention (insbesondere über die Gabe von Insulin hinaus) notwendig machen würden. Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass die „Kita“ einmalig bei einem Ausflug die Geräte zur Messung vergessen habe. Ein derart fahrlässiges Verhalten könne nicht zur Begründung einer täglich abstrakten Lebensgefahr dienen. Es fehle an tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass jederzeit lebensbedrohliche Zustände auftreten könnten (unter Hinweis auf SG München, Beschluss vom 16. Dezember 2021, S 29 KR 1965/21 ER, zitiert nach juris). In einem vom SG Gelsenkirchen zusprechend entschiedenen Fall zur alten Rechtslage sei der Kläger erst 2,5 Jahre alt und habe bereits mehrfach regungslos auf dem Boden gelegen. Auch hier sei die Intensivpflege nur für eine Übergangszeit zugesprochen worden (Urteil vom 14. Oktober 2022 – S 17 KR 3015/19). Entgegen der Ansicht des MD sei die Antragstellerin im Hinblick auf die notwendige Beaufsichtigung und Überwachung jedoch nicht auf einen Integrationshelfer zu verweisen. Vielmehr dürfte die weitere Verordnung von häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V in Form der Krankenbeobachtung im hier begehrten Umfang zu gewähren sein. Auch ausweislich des MD sei eine lediglich punktuelle Gewährung nicht ausreichend. Die Kammer käme nach summarischer Prüfung des Eilverfahrens nicht zu der Auffassung, dass die Blutzuckermessung und Insulingabe durch einen ambulanten Pflegedienst mehrfach am Tag ausreichend sei, da nach den bisherigen Feststellungen insbesondere in Phasen körperlicher Aktivität auch außerhalb der Mahlzeiten eine Beobachtung erforderlich sei. Vielmehr sei nach den glaubhaften Schilderungen der Antragstellerin und ausweislich der eingereichten medizinischen Unterlagen eine dauerhafte Beobachtung in unmittelbarer Nähe aus medizinischen Gründen erforderlich. Eine gerichtliche Entscheidung im Eilverfahren käme hierzu jedoch mangels Antrages nicht in Betracht. Die anwaltlich vertretene Antragstellerin wende sich gerade ausschließlich gegen die Ablehnung der AKI bzw. die bisher nicht vorgenommene Gewährung.

Gegen den am 29. April 2025 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 28. Mai 2025 Beschwerde bei dem Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Unstreitig sei, dass es sich bei der beantragten Leistung nicht um eine Integrationsleistung handele. Nur durch die Gewährung von AKI werde die schnelle Zurückführung der Antragstellerin in die Kindertagesstätte gewährleistet. Derzeit werde eine außergerichtliche Vereinbarung zur Versorgung mit der Antragsgegnerin angestrebt. Hierzu sei rein hilfsweise eine Verordnung über häusliche Krankenpflege eingereicht worden.

Vorgelegt worden ist ein Bescheid vom 11. Juni 2025 über die Gewährung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege als „sonstige Sondervereinbarung“ für den Zeitraum vom 1. Juli 2025 bis zum 30. Mai 2026. Im Rahmen einer Sondervereinbarung übernehme die Antragsgegnerin die Begleitung während des Aufenthaltes in der Kindertagesstätte montags bis freitags jeweils bis zu 8 Stunden täglich. Während der Schließzeiten könnten keine Kosten übernommen werden. Die Antragstellerin wurde aufgefordert umgehend einen Leistungserbringer mitzuteilen und ab Leistungsbeginn eine entsprechende neue Verordnung unter Angabe des Leistungserbringers vorzulegen.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt die Antragstellerin unter Berücksichtigung des bisherigen Vortrags,

den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. April 2025 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin bis zum Ablauf des aktuellen Verordnungszeitraums am 1. September 2025, außerklinische Intensivpflege im Umfang von bis zu 40 Stunden wöchentlich zur Verfügung zu stellen.

Die Antragsgegnerin beantragt schiftsätzlich,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin hat bislang keine Stellungnahme vorgelegt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senates gewesen.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin bleibt ohne Erfolg. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Antragstellerin im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf Gewährung von AKI gemäß § 37c SGB V in der Kindertagesstätte abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]).

Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) ist ihnen allerdings in den Fällen, in denen es um existentiell bedeutsame Leistungen der Krankenversicherung für den Antragsteller geht, eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt. Drohen dem Antragssteller ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02, juris). Sie haben unter diesen Voraussetzungen die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2003, 2 BvR 311/03, BVerfGK 1, 292, 296, juris). Ist dem Gericht in einem solchen Fall eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden; die grundrechtlichen Belange des Antragstellers/der Antragstellerin sind umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02, juris).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe fehlt es an einem Anordnungsanspruch und an einem Anordnungsgrund. Das Begehren der anwaltlich vertretenen Antragstellerin ist auf Gewährung von AKI in der Kindertagesstätte gerichtet. Dem grundrechtlich gestützten Anspruch der Antragstellerin auf Teilhabe wird (inzwischen) durch Zurverfügungstellung von häuslicher Krankenpflege durch die Antragsgegnerin (Bescheid vom 11. Juni 2025) im Umfang von 8 Stunden täglich, fünfmal wöchentlich im erforderlichen Umfang Rechnung getragen, so dass es auch an einer Eilbedürftigkeit fehlt. Unter den Voraussetzungen, dass ein Leistungserbringer beauftragt und eine entsprechende Verordnung vorgelegt wird, wird der Antragstellerin von der Antragsgegnerin Behandlungspflege in Form einer Schulbegleitung gemäß § 37 Abs. 2 SGB V gewährt.

Die Voraussetzungen für AKI gemäß § 37c SGB V liegen (gegenwärtig) nicht vor.

§ 37c SGB V kommt als lex specialis zu § 37 Abs. 2 SGB V in den Fällen zur Anwendung, in denen ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege erforderlich ist (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. März 2025, L 11 KR 302/25 ER-B, Rn. 23 - juris; Knorr in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 37c SGB V, Rn. 10; vgl. insoweit auch § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V). Dabei kann die Betreuung von Kindern in der Kindertagesstätte und im Kindergarten grundsätzlich dem Anwendungsbereich des § 37c SGB V unterfallen. Die von diesem Personenkreis benötigten Leistungen der kontinuierlichen Überwachung und Bewertung des Blutzuckerspiegels, der Zuführung von Kohlenhydraten bestimmter Beschaffenheit und Menge oder von Insulin in exakter Menge, der erneuten Kontrolle der entsprechenden Auswirkungen und schließlich ggf. der Intervention in auftretenden gesundheitlichen Notfallsituationen als Folge von Hypo- oder Hyperglykämie sind krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen. Ob die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft erforderlich ist, weil eine sofortige ärztliche oder pflegerische Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar erforderlich ist, wobei die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß im Sinne von § 4 Abs. 1 AKI-RL nicht im Voraus bestimmt werden können, ist eine Einzelfallfrage, die bei an Diabetes erkrankten Kindern nicht generell beantwortet werden kann.

Im Falle der Antragstellerin liegen bereits keine medizinischen Berichte, Atteste etc. vor, in denen konkrete Vorfälle der Unterzuckerungen benannt werden, die als lebensbedrohlich einzuordnen sind. Wie bereits das erstinstanzliche Gericht ausgeführt hat, sind die starken Blutzuckerschwankungen offenkundig und entsprechend zu würdigen und zu behandeln. Hier sieht der aktuelle Behandlungsplan vom 14. Februar 2025 als Notfallmanagement die Gabe von Traubenzucker/Apfelsaft bei Unterzuckerung und die Gabe von Insulin bei Hyperglykämie vor. Anhaltspunkte dafür, dass es zu lebensbedrohlichen Blutzuckerentgleisungen gekommen ist bzw. diese jederzeit drohen, liegen demgegenüber nicht vor. So wurden im erstinstanzlichen Verfahren und insbesondere im Beschwerdeverfahren keine Situationen geschildert, auf deren Grundlage eine individuelle Bedarfseinschätzung für das Kind im Sinn des Erfordernisses von AKI möglich war. Die AKI-RL betont in § 2 die individuelle Bedarfsabschätzung. Danach dient die AKI dem Ziel (…) im Rahmen der ambulanten ärztlichen Behandlung die Patienten- und Versorgungssicherheit von Versicherten, die die Voraussetzungen nach § 4 Absatz 1 erfüllen, nach Maßgabe ihres individuellen Bedarfs zu erhalten, zu fördern und zu verbessern. Dabei ist die AKI nach Abs. 2 auf individuelle, patientenzentrierte Therapieziele auszurichten. Therapieziele sind die Sicherstellung von Vitalfunktionen, die Vermeidung von lebensbedrohlichen Komplikationen sowie die Verbesserung von Funktionsbeeinträchtigungen, die AKI erforderlich machen und der sich daraus ergebenden Symptome zum Erhalt und zur Förderung des Gesundheitszustandes. Das Erfordernis einer individuellen Bedarfsabschätzung – orientiert an den genannten Zielen – gilt insbesondere für Kinder (vgl. § 1 Abs. 3 AKI-RL).

Ein Fall, in dem ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege erforderlich ist (§ 37c Abs. 1 Satz. 1 SGB V), ist nicht nachgewiesen. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt danach vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft im gesamten Versorgungszeitraum zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft nach näherer Maßgabe erforderlich ist (Nolte in Kasseler Kommentar SGB V, Stand 02/2024; § 37c Rn. 4). Was unter einer geeigneten Pflegekraft zu verstehen ist, wird in den Rahmenempfehlungen nach § 132 Abs. 1 SGB V zur Versorgung mit AKI vom 3. April 2023 erläutert. § 3 und § 4 der Rahmenempfehlungen enthalten insoweit zahlreiche Qualifikationsmerkmale, die eine verantwortliche Pflegekraft und die an der Versorgung beteiligten Pflegefachkräfte erfüllen müssen.

Nach diesen Maßgaben ist vor dem Hintergrund der vorliegenden medizinischen Berichte, der Gutachten des MD etc. nicht ersichtlich, dass für die Begleitung und Beobachtung der Antragstellerin eine derartig ausgebildete und qualifizierte Pflegefachkraft erforderlich wäre.

Der Hinweis der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin im Schriftsatz vom 23. Dezem-ber 2024, es seien inzwischen in ihrem „Dezernat mehr als 60 Verfahren AKI zugesprochen“ worden ist rechtlich ebenso unerheblich wie die (erhebliche) Quote des erkennenden Senats für zusprechende AKI-Entscheidungen. Nach der oben dargestellten Rechtssystematik zwi-schen § 37 Abs. 2 und § 37c SGB V ist für eine zusprechende Entscheidung nach lex specialis erforderlich, dass im Einzelfall der jeweiligen antragstellenden Person das Auftreten lebensbedrohlicher Situationen und das Erfordernis einer entsprechenden Fachkraft glaubhaft gemacht werden, insbesondere durch Dokumentation solcher Ereignisse in den bisherigen Zeiten nicht erfolgter AKI-Versorgung. Dies ist vorliegend aus der gesamten Aktenlage nicht zu entnehmen.

Damit bleibt das auf Versorgung ausschließlich mit AKI gerichtete Begehren der Antragstellerin erfolglos.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§177 SGG).

D.                                                                    Dr. E.                                                               Dr. F.

 

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