L 1 U 980/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 U 1438/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 980/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 1. Februar 2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Der Kläger begehrt die Anerkennung des Ereignisses vom 20. Juni 2014 als Arbeitsunfall.

Der Kläger ist im Jahre 1976 geboren und wohnt im Inland. Er war im Jahre 2014 bei der T1 GmbH, einem Luftfahrtunternehmen (im Folgenden: Arbeitgeber), als Flugbegleiter beschäftigt und insoweit bei der beklagten Berufsgenossenschaft gesetzlich unfallversichert.

Am 20. Juni 2014 war er auf einem Flug von S1 nach P1 (A1, Griechenland) und zurück eingesetzt (Flug Nr. X3 xxxx/xxxx). Der Flug wurde mit der Boeing 737-xxx mit der ACR (Aircraft Registration Nr.) D-AHFR durchgeführt. Der Kläger litt nach seinen späteren Angaben bereits auf dem Hinflug unter Kopfschmerzen und Druck auf den Ohren, auf dem Rückflug begannen die Augen zu tränen und zu brennen und es traten Gedächtnisstörungen, eine verlangsamte Wahrnehmung und Reaktion, Sprachstörungen (Lallen), Taubheit im Gesicht, extreme Müdigkeit und Schwäche, Kribbeln in den Händen, ein bitterer Geschmack im Mund sowie Gleichgewichtsstörungen auf. Ähnliche Symptome in unterschiedlicher Ausprägung lagen auch bei drei weiteren Flugbegleitern vor, den Zeuginnen S2, L1 und S3. Nach der Landung in S1 wurden die vier betroffenen Flugbegleiter von Sanitätern versorgt und in die F1-klinik (F2) transportiert. Der Kläger und die Zeugin S3 wurden stationär aufgenommen und am folgenden Tag wieder entlassen.

Die Beklagte erfuhr nach Aktenlage am 25. Juni 2014 von dem Vorfall (vgl. Aktenvermerk von diesem Tage).

Im „Zwischenbericht“ des Durchgangsarztes M1 vom 25. Juni 2014 (eingegangen bei der Beklagten am 1. Juli 2014) ist ausgeführt, dass der Kläger weiterhin unter stechendem Kopfschmerz, Müdigkeit, Kraftlosigkeit und Lichtempfindlichkeit leide und deshalb in die BG-Unfallklinik T2 überwiesen worden sei. Ausweislich des Durchgangsarztberichts vom 30. Juni 2024 bestand laborchemisch initial eine leichte Alkalose (Erhöhung des pH-Werts im Blut) und eine Mydriasis (Weitung der Pupillen). Als Erstdiagnose war „unklare Geruchsexposition – Fume event“ angegeben. Nach dem Zwischenbericht der F1-klinik vom 30. Juni 2014 (eingegangen bei der Beklagten am 3. Juli 2024) hatten bei der Einlieferung am 20. Juni 2014 eine laborchemisch gesicherte leichte Alkalose und eine Mydriasis vorgelegen. Als Diagnosen waren ein „Fume Event (Inhalationstrauma unbekannter Genese)“ und ein vorbestehender Diabetes mellitus genannt. Auch bei der Nachkontrolle am 23. Juni 2014 bestand eine Alkalose (vgl. den entsprechenden Laborbefund mit einem pH-Wert von 7,432).

Die betriebliche Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 28. Juni 2014 ging am 9. Juli 2014 bei der Beklagten ein. Danach hatte der Kläger bei einem „Fume Event“ ein „aerotoxisches Syndrom“ erlitten.

Die Beklagte beauftragte ihren Technischen Aufsichtsdienst (TAD) mit einer Untersuchung. In dem entsprechenden Bericht vom 24. Juli 2014 gab K1 an: „Während des Rückflugs (…) trat plötzlich ein ungewöhnlicher Geruch in der Flugzeugkabine auf, der offensichtlich massive Gesundheitsstörungen verursachte“. Es habe ein „Smoke- and Smell-Event“ vorgelegen. Was sich genau ereignet habe, sei nicht zufriedenstellend in Erfahrung zu bringen gewesen, sondern „absolut unklar“. Der Arbeitgeber habe mitgeteilt, über Gesundheitsstörungen bei den Fluggästen sei nichts bekannt. Die Maschine sei nach dem Vorfall ohne Befund untersucht worden, dabei seien Wischproben genommen worden. In der ergänzenden Stellungnahme vom 12. September 2014 übermittelte der TAD (S4) die Ergebnisse der Untersuchungen der Wischproben vom Tag des Vorfalls sowie von mehreren anderen Tagen davor und danach. Danach hatten die Ergebnisse für alle untersuchten Trikresyl- und Tri-Butylphosphate immer nahe an bzw. unter der Bestimmungsgrenze des Analyseverfahrens gelegen. Die am Tag nach dem Vorfall (21. Juni 2014) entnommene Probe sei allerdings nicht mittels Standardverfahrens untersucht worden, eine quantitative Bestimmung sei unterblieben. Bei dieser Untersuchung seien Spuren von Tributylphosphat nachgewiesen worden. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Abteilungsleiter der IFA sei von einer Konzentration unter der Bestimmungsgrenze des Ursprungsverfahrens auszugehen (vgl. im Einzelnen die Angaben in dem Analysebericht Nr. 1776 vom 23. Juli 2014).

Mit Bescheid vom 15. September 2014 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Eine Einwirkung auf den Körper des Klägers sei nicht nachgewiesen. Die physischen Bestandteile, die am Tag des Ereignisses den Geruch verursacht haben sollen, hätten nicht identifiziert werden können. Nach den Untersuchungen seien an dem Flugzeug keine technischen Mängel festzustellen gewesen. Ferner sei ein Zusammenhang zwischen der fraglichen Inhalation unbekannter Gase am 20. Juni 2014 und den bei dem Kläger aufgetretenen Gesundheitsschäden nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen.

Der Kläger erhob am 22. September 2014 Widerspruch. Im Widerspruchsverfahren behauptete er (Schriftsatz vom 15. Januar 2015), auf dem Flug sei es zu einer Dampf-Gas-Entwicklung gekommen, durch die giftige Gase und Öle in der Kabine verteilt worden seien, ein entsprechender Geruch sei wahrgenommen worden. Er verwies darauf, dass auch seine Kollegen ähnliche Symptome entwickelt hätten und dass bereits die F1-klinik ein „Fume Event“ diagnostiziert habe. Auf der Unfallanzeige des Arbeitgebers sei ein „aerotoxysches Syndrom/Fume Event“ angegeben worden. Des Weiteren zitierte der Kläger aus einer Studie, wonach „aerotoxische Syndrome“ als Folge der Kontamination der Kabinenluft mit Kühl- und Schmiermitteln seit Jahrzehnten regelmäßig aufträten und auf einen Konstruktionsfehler nahezu aller seit 1960 in Dienst gestellten Flugzeuge beruhten, nicht aber auf konkreten bzw. akuten technischen Defekten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sowohl nach der Unfallanzeige als auch nach den ärztlichen Berichten seien nur Symptome geschildert worden, aber keine konkrete, bewusst wahrgenommene äußere Einwirkung. Auch bei der Untersuchung der Maschine nach dem Ereignis seien keine Mängel und bei den entnommenen Wischproben auch keine „relevanten Gefahrstoffkonzentrationen“ erhoben worden.

Hiergegen hat der Kläger am 5. März 2015 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Er hat - ausdrücklich - vorgetragen, während des Fluges sei nie ein besonderer Geruch wahrgenommen worden, der Vorfall sei geruchlos gewesen (S. 2 Klagebegründung vom 19. März 2015). Er hat bemängelt, dass die Wischproben erst nach einem Tag genommen worden seien, dies hätte sofort nach der Landung bei geschlossenen Türen geschehen müssen. Ferner hat er diverse Merkblätter und Veröffentlichungen zu aerotoxischen Syndromen, „Fume- and Smell Events“ (FUSE) und insbesondere der Wirkung von Tributylphosphat vorgelegt.

Auf Nachfrage des SG hat der Arbeitgeber, die T1 GmbH, die Auskunft vom 27. Mai 2015 vorgelegt. Er hat mitgeteilt, nach den dortigen Erkenntnissen sei es auf dem fraglichen Flug X3 xxxx/xxxx nicht zu einem Fume Event oder einem ähnlichen Ereignis gekommen. Aus den Wischproben ließen sich keine Rückschlüsse im Hinblick auf die aufgetretenen Erkrankungserscheinungen ziehen, da keine Grenzwerte erreicht oder gar überschritten worden seien. Später hat der Arbeitgeber ferner den - von der Zeugin L1 gefertigten - „Cabin Report“ zur Akte gereicht. Auch darin wurde nur von einer Verschlechterung des Gesundheitszustands der Kabinen-Crew während des Rückflugs berichtet, aber keine Einwirkungen durch Gerüche oder Gase.

Das SG hat medizinische Unterlagen beigezogen. Im ärztlichen Abschlussbericht von S5 vom 10. Oktober 2014 über die Behandlung vom 21. September bis 12. Oktober 2014 im Haus der Gesundheit in R1 wird ausgeführt, es handle sich um einen klassischen Fall eines aerotoxischen Syndroms, hervorgerufen durch neurotoxische Gase in der klimatisierten Atemluft des Flugzeugs. Nach dem Entlassungsbericht der Spezialklinik N1 in R2 vom 20. Mai 2015 über den Aufenthalt vom 7. bis 26. April 2015 war der Kläger seit dem Vorfall arbeitsunfähig erkrankt, als Diagnose war unter anderem ein „Komplexes Beschwerdebild im Sinne eines Chronic-Fatigue- und Fibromyalgie-Syndroms in Folge eines Fume Events“ genannt. Die B1-Klinik in S6 attestierte dem Kläger bei der Entlassung aus einer psychosomatischen Rehamaßnahme vom 24. November bis 24. Dezember 2015 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit als Flugbegleiter, aber ein vollschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Nachdem der Kläger eine Begutachtung durch H1 angeregt hatte, hat das SG von Amts wegen bei dieser Ärztin das Gutachten vom 30. Juni 2017 erhoben. Die Sachverständige hat darin ausgeführt, dass bei sog. Fume Events Messungen schwierig seien, da es sich um eine diskontinuierliche Schadstoffquelle handele. Deshalb sei in solchen Fällen nicht die Luftmessung, sondern das Humanbiomonitoring wesentlich, um eine Schadstoffbelastung nachzuweisen. Nötig sei eine Untersuchung von Blut oder Urin in einem sehr engen zeitlichen Fenster nach einem Ereignis. Vorliegend seien jedoch keine entsprechenden Untersuchungen durchgeführt worden. In dem relevanten Zeitfenster sei bei dem Kläger nur eine Alkalose dokumentiert. Diese Veränderung könne auch bei Erkrankungen des Atemsystems, die zu einer beschleunigten Atmung aufgrund einer Luftnot führen, beobachtet werden. Bei der jetzigen Untersuchung hätten sich bei dem Kläger Hinweise auf eine Sauerstoffaufnahmestörung ergeben. Anamnetisch liege zudem eine ausgeprägte Erschöpfung und schnelle Ermüdbarkeit sowie ein erhöhter Ruhepuls vor. Diesbezüglich sei eine kardiologische Abklärung zu empfehlen. Testpsychologisch seien punktuelle kognitive Einschränkungen nachgewiesen. Da eine Depression als Ursache ausgeschlossen worden sei, sei am ehesten von einer Hirnleistungsstörung im Sinne einer toxischen Enzephalopathie auszugehen. Weiterhin liege eine „Small Fiber Neuropathie“ (Polyneuropathie der kleinen vegetativen und sensiblen Nervenfasern) vor. Diese könne zwar auch durch außerberufliche Faktoren, insbesondere den beim Kläger vorliegenden Diabetes mellitus Typ I, verursacht worden sein. Allerdings fehle es an anderen belegten diabetischen Spätfolgen. Insgesamt sah H1 mehrere Gründe für die Annahme, dass die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers mit einer Kabinenluftkontamination zusammenhingen: Die Symptomatik habe sich in zeitlicher Nähe zu dem Ereignis entwickelt und sie stehe in plausibler Übereinstimmung mit den Erkenntnissen aus ähnlichen Behandlungsfällen. Es seien auch andere Crewmitglieder mit korrespondierenden Beschwerden betroffen und es seien differentialdiagnostisch keine Hinweise auf eine außerberufliche Genese vorhanden.

Währenddessen war in dem Parallelverfahren einer der anderen Flugbegleiterinnen, der Zeugin S3, das Urteil des SG Freiburg vom 13. Juni 2017 ergangen (S 9 U 1210/15). Darin war die Beklagte verurteilt worden, in Bezug auf die Zeugin S3 das Ereignis vom 20. Juni 2014 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Das SG Freiburg hatte ausgeführt, aus einer Gesamtschau aller Indizien ergebe sich hinreichend sicher eine Einwirkung durch einen Schadstoff. Als Indizien hat das SG Freiburg hier insbesondere genannt: das regelmäßige Auftreten von Fume Events seit den 1950-er Jahren, die Ähnlichkeit der Symptome der Klägerin zu den typischen Symptomen bei solchen Ereignissen, das Auftreten fume-event-typischer Symptome bei vier Flugbegleitern desselben Fluges in unterschiedlicher Ausprägung wegen des unterschiedlichen Standorts der Kollegen in der Maschine entsprechend dem Aufbau des Belüftungssysstems und der Nachweis von Spuren eines Schadstoffs in der Wischprobe. Aus der später beigezogenen Akte jenes Verfahrens ergibt sich, dass das SG Freiburg in der Verhandlung am 13. Juni 2017 die Zeugin S3 als dortige Klägerin umfangreich angehört und H1 (die hiesige Sachverständige) als sachverständige Zeugin vernommen hatte. Die Zeugin S3 hatte dort unter anderem angegeben, auch einzelne Passagiere hätten über Kopfschmerzen oder ungewöhnlichen Ohrdruck geklagt, bei zweien von ihnen habe man den Blutdruck gemessen, der - wie bei ihr und dem hiesigen Kläger - erhöht gewesen sei. Ferner habe der Kläger ihr nach dem Auftreten der Symptome mitgeteilt, er habe einige Zeit zuvor bei einer Veranstaltung die typischen Symptome eines Fume Events kennengelernt, es seien dieselben wie jetzt aufgetreten. Sie - die Zeugin S3 habe hierbei erstmals überhaupt den Begriff „Fume Events“ gehört.

Die Beklagte hat zu H2 Gutachten die Stellungnahme des M2 und des C1 vom 18. Juli 2017 vorgelegt: Darin wird ausgeführt, trotz vielfältiger wissenschaftliche Forschungen zu dem Phänomen FUSE seien bisher Noxen in gefährdenden Konzentrationen nicht gefunden worden. Das sog. „Aerotoxische Syndrom“ sei keine anerkannte Diagnose. Auch im konkreten Fall sei keine schädigende Einwirkung nachgewiesen. Wegen der 2014 bereits geänderten Rezeptur der Turbinenöle sei eine Exposition gegen Trikresylphosphat auszuschließen. Wegen des Fehlens von Gerüchen seien auch alle anderen potentiell schädigenden Substanzen als Ursache ausgeschlossen, da sie allesamt in gefährdenden Konzentrationen geruchlich auffällig seien. Da im konkreten Fall eine relativ kurze Expositionszeit (Hin- und Rückflug) in Rede stehe, hätte ein schädigender Effekt nur bei einer höheren Konzentration der schädigenden Einwirkung eintreten können. Eine so hohe Konzentration wäre bemerkt worden. Entsprechend hätten die Wischproben nur Spuren unterhalb der Bestimmungsgrenze ergeben. Grundsätzlich sei es in Ausnahmefällen vorstellbar, dass es durch - das geruchlose - Kohlenmonoxid zu Gesundheitsbeschwerden komme. Beim Kläger sei jedoch der im F3-stadt bestimmte CO-Hb-Wert von 1,4 unauffällig gewesen. Seine Alkalose könne durch eine beschleunigte Atmung in Zusammenhang mit Stress begründet sein. Zudem begünstigten die Druckverhältnisse im Flugzeug eine Hyperventilation. Die Small Fiber Neuropathie könne durch den Diabetes verursacht sein und ein Nachweis für eine toxisch bedingte Hirnleistungsstörung liege nicht vor. Weiterhin sei nicht beachtet worden, dass auch ein sog. Nocebo-Effekt vorliegen könne.

Sodann hat das SG die Zeuginnen L1 und S3 schriftlich vernommen. Beide haben im Wesentlichen die Symptome bei dem Kläger (und bei sich) bestätigt, aber keine Angaben zu Gerüchen oder sonstigen merklichen Einwirkungen oder zu Beschwerden anderer Insassen des Flugzeugs gemacht (Aussagen vom 28. November und vom 10. Dezember 2018).

Mit Schreiben an die Beklagte vom 25. Juli 2019 hat der behandelnde HNO-Arzt des Klägers, M3, den Verdacht auf die Berufskrankheit (BK) Nr. 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) angezeigt und mitgeteilt, der Kläger sei weiterhin arbeitsunfähig erkrankt.

Die Beklagte hat die aktualisierte Stellungnahme von M2 und C1 vom 6. Januar 2020 vorgelegt. Darin wird unter anderem ausgeführt, zwischenzeitlich seien auch während laufender Messungen der Zusammensetzung der Kabinenluft in Flugzeugen Fume Events geschildert worden, jedoch habe sich dabei nie eine gefährdende Konzentration von Organophosphaten und leichtflüchtigen Verbindungen (VOC) gezeigt

Am 4. Februar 2020 hat die Sachverständige, H1, zu den Ausführungen der Beratungsärzte vom 18. Juli 2017 Stellung genommen. Sie hat ausgeführt, zahlreiche Untersuchungen belegten, dass Verunreinigungen der Kabinenluft auftreten könnten. Das Heranziehen von Grenzwerten aus dem Gefahrstoffbereich sei nicht ohne weiteres zulässig, da sie sich auf Herstellungsprozesse beziehen. Auch seien Messungen bei unauffälligen Flügen nicht geeignet, um eine fehlende Belastung zu belegen. Die Ansicht der Beklagten, dass es keine Kabinenluftkontamination durch Organophosphate oder andere leicht flüchtige Stoffe gebe, sei nicht nachvollziehbar. Es gebe auch auffällige Ergebnisse aus dem Humanbiomonitoring. Stoffspezifsche Symptome seien bei Kabinenluftzwischenfällen nicht zu erwarten, da die infrage kommenden Quellen (Öle, Kerosin, Hydraulikflüssigkeit) aus einer Vielzahl unterschiedlicher Stoffe und Stoffgruppen beständen. Es könne auch nicht von einem Nocebo-Effekt ausgegangen werden. Dieser könne nachweisbare Funktionsstörungen wie die Reduzierung der Nervenfaserdichte der Haut (i.S. einer Small Fiber Neuropathie) nicht erklären.

Diesen Ausführungen ist die Beklagte unter Vorlage der weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme von M2 und C1 vom 2. März 2020 entgegengetreten.

Der Kläger hat u.a. noch ein vom Facharzt D1 am 1. November 2016 für die A2 ausgestelltes Attest über die Fluguntauglichkeit des Klägers vorgelegt. Ferner hat er ein Attest des H3 vom 23. Oktober 2020 zu den Akten gereicht. H3 hat hierin ausgeführt, der Kläger leide unter den Folgen eines Kerosin-Verdampfungssyndroms.

In dem Parallelverfahren der Zeugin S3 hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 16. November 2021 (L 9 U 3232/17) das Urteil des SG Freiburg vom 13. Juni 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Aus der später beigezogenen Akte jenes Verfahrens ergibt sich: Die Berichterstatterin des 9. Senats hatte in einem Erörterungstermin am 15. Januar 2019 die dortige Klägerin, die Zeugin S3, sowie M2 und C1 von der Beklagten als sachverständige Auskunftspersonen angehört. Die Zeugin S3 hatte dort auf Nachfrage klargestellt, dass sie selbst während des Fluges nichts gerochen oder gesehen und keine technischen Auffälligkeiten bemerkt habe. Die beiden Auskunftspersonen haben zu der bisherigen Forschung zu Fume Events, der Technik der Wischproben, den früher und heute noch in Betracht kommenden Stoffen (TCP, TBP, TBPP, VOC) und ihren Geruchseigenschaften („…Geruch nach alten Socken (…) betrifft (…) Turbinenöle, also TCP“), den Anzeichen einer Vergiftung durch (geruchloses) CO und möglichen Ursachen einer Alkalose Angaben gemacht. Ferner haben sie über ihre Versuche berichtet, in Zusammenarbeit mit H1 deren (allgemeine) wissenschaftliche Arbeit zu möglichen Ursachen der Fume-Event-Symptomatik zu verifizieren (Humanbiomonitoring, Resonanzuntersuchungen). Ferner hatte der 9. Senat bei dem Arbeitgeber (H4) die weitere Auskunft vom 4. Juni 2020 eingeholt. Danach hätten nach dem fraglichen Flug - nur - die vier eingesetzten Flugbegleiter über Gesundheitsstörungen geklagt, nicht aber die Piloten oder Passagiere. Einen Eintrag im Technical Logbook gebe es nicht, jedoch einen Pilotenreport (Pirep) und einen anschließenden Wartungsauftrag des Flottenchefs zur Überprüfung des Flugzeugs, diese haben keine Fehler ergeben, insbesondere habe auch die Überprüfung des Druckventils, das bei einer Fehlfunktion Druckschwankungen verursachen könne, keine Fehler ergeben. Beigefügt war ein „Event Printout“ über die Pilotenmeldung und die anschließenden Untersuchungen bis zum 21. Juni 2014. In dem Urteil vom 16. November 2021 hatte der 9. Senat des LSG ausgeführt, es könne dahinstehen, ob ein Gesundheitserstschaden (der Zeugin) nachgewiesen sei, jedenfalls fehle es an dem nötigen Vollbeweis für eine schädigende, insbesondere toxische Einwirkung. Eine Störung des Flugzeugs sei nicht nachzuweisen. Die Indizien, die für das Vorliegen eines Fume Events sprächen, reichten entgegen der Ansicht des SG nicht aus, um eine Einwirkung nachzuweisen. Insbesondere seien keine Gerüche, kein Rauch und keine anderen Auffälligkeiten (z.B. keine bläulichen Aerosole) wahrgenommen worden. Die Wischprobe, die eine nur geringe Überzeugungskraft habe, beweise ebenfalls nicht die Existenz schädigender Stoffe während des Fluges. Eine Einwirkung durch das geruchlose CO scheide aus, da der CO-Wert im Blut der Zeugin unmittelbar nach Ankunft in der Klinik nicht erhöht gewesen sei. Auch für eine Unterversorgung mit Sauerstoff, die zu einer Hyperventilation hätte führen können, die aber allein im hinteren Teil des Flugzeugs aufgetreten wäre, gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Im Übrigen hat sich der 9. Senat umfangreich mit der Forschungslage zu diversen Stoffen als möglichen Ursachen von Fume Events auseinandergesetzt (S. 20 ff. Urteil).

Die Zeugin S3 hatte Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil des LSG erhoben, aber später wieder zurückgenommen (Auskunft des Bundessozialgerichts vom 14. Juni 2022).

Nachdem das SG die Akte des Parallelverfahrens eingeführt hatte, hat der Kläger ergänzend vorgetragen, einzelne Passagiere hätten der Zeugin S3 gesagt, dass es im hinteren Teil des Flugzeugs komisch rieche. Die Zeugin S3 - und auch der Kläger - hätten selbst keine Gerüche wahrnehmen können, weil ihre Nasen verstopft gewesen seien.

Mit Schriftsatz vom 14. April 2022 hat der Kläger noch ein von ihm und der Zeugin S3 unterschriebenes Schreiben mit dem Datum 12. November 2016 vorgelegt, wonach man sich während des Fluges gegenseitig durch Messungen des Blutdrucks überwacht habe, die Werte seien erhöht gewesen. Ferner hat er das Protokoll einer vom Arbeitgeber veranlassten Besprechung der gesamten Crew mit weiteren Mitarbeitern und Arbeitnehmervertretern vom 18. August 2014 („Debriefing Incident“) vorgelegt, in dem die Einzelheiten des Fluges geschildert waren. Darin ist u.a. festgehalten, der Kapitän („CPT“) habe angemerkt, dass er während des Fluges eine „andere Wahrnehmung in Bezug auf das Befinden der Crew“ gehabt habe, jedoch habe die CDC („Chef de Cabin“) bei einer Kontrolle „Symptome festgestellt“, weshalb die Flughöhe verringert worden sei. In dem Protokoll war ferner festgehalten, dass die Crew Auffälligkeiten, insbesondere Gerüche, verneinte.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2022 ergänzend ausgeführt, die Anmerkung in dem ersten Untersuchungsbericht des TAD vom 16. Juli 2014, es sei ein ungewöhnlicher Geruch aufgetreten, sei eine Spekulation gewesen, vielmehr habe auch der Aufsichtsbeamte ausgeführt, es sei unklar, was sich ereignet habe.

Das SG hat noch bei der Arbeitgeberin nachgefragt, ob dort Informationen zu gesundheitlichen Beschwerden von Passagieren oder zu Meldungen zu Geruchseinwirkungen vorlägen. Die Arbeitgeberin hat diese Anfrage nicht beantworten können (Schreiben vom 12. Oktober 2023).

Der Kläger hat noch mehrfach angeregt, das Technical Logbook, nicht näher bezeichnete „Notfallprotokolle“ und den Stimmenrecorder des Flugzeugs beizuziehen, um nachzuweisen, dass es „zu keinem geruchslosen Vorfall“ gekommen sei. Ferner hat er noch vortragen lassen, nach seiner Kenntnis habe es „schon des Öfteren Probleme mit dem (…) Flugzeug, insbesondere am Vortag des streitgegenständlichen Fluges“ gegeben (vgl. Schriftsatz vom 20. Oktober 2023).

Mit Urteil auf Grund mündlicher Verhandlung vom 1. Februar 2024 hat das SG Stuttgart die Klage abgewiesen. Es fehle bereits am Vollbeweis einer schädigenden Einwirkung auf dem Flug am 20. Juni 2014. Eine Störung des Flugzeugs sei nicht nachzuweisen. Auch unter Würdigung der Wischprobe sei eine Einwirkung durch ölbasierte Stoffe nicht anzunehmen. Insbesondere sei es während des Fluges auch nicht zu einem Austreten von Rauch oder bläulichen Aerosolen gekommen, Gerüche seien nicht wahrgenommen worden. Die Erklärung des Klägers, er und die Zeugin S3 hätten wegen verstopfter Nasen nichts riechen können, sei nicht nachvollziehbar, denn die Nasen könnten ja erst nach der angeschuldigten Einwirkung zugeschwollen sein. Der Hinweis in dem Untersuchungsbericht, es sei zu Gerüchen gekommen, sei eine Mutmaßung, die dort selbst in Zweifel gezogen werde und die keiner der Flugbegleiter je bestätigt habe, vielmehr sei von Anfang an vorgetragen worden, es habe keine Gerüche gegeben. Eine Einwirkung durch CO sei durch die Blutgasuntersuchung in der F1-klinik ausgeschlossen worden. Ergänzend hat das SG ausgeführt, bei dem Kläger sei bei der Erstuntersuchung kein einziger pathologischer Befund erhoben worden, der Rückschlüsse auf eine Vergiftung oder eine schädigende Einwirkung über die Atemwege zuließen. Festgestellt worden sei nur eine Alkalose; diese Erkrankung könne aber durch eine beschleunigte Atmung im Zusammenhang mit Stress hervorgerufen werden, hierbei sei zu beachten, dass der Kläger erst kurze Zeit vor dem angeschuldigten Ereignis auf einer Veranstaltung über die typischen Symptome nach einem Fume Event informiert worden sei. Danach seien auch psychischer Stress und der sogenannte Nocebo-Effekt als Ursachen nicht auszuschließen. In rechtlicher Hinsicht hat das SG noch ausgeführt, es komme auch keine Beweiserleichterung für den Kläger in Betracht, da weder eine Beweisvereitelung durch die Beklagte noch ein Beweisnotstand beim Kläger vorlägen.

Gegen dieses Urteil, das ihm am 26. Februar 2024 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 26. März 2024 Berufung zum LSG Baden-Württemberg erhoben. Er vertieft seinen Vortrag zu den Indizien, die für ein Fume Event sprächen, insbesondere auf das zeitgleiche Auftreten ähnlicher Symptomatiken bei der gesamten Crew. Ferner gibt er an, er habe deshalb so spät während des Prozesses davon berichtet, dass Passagiere Gerüche wahrgenommen hätten, weil ihm - und der Zeugin S3 - die Wichtigkeit dieser Tatsache nicht bekannt gewesen sei. Der Kläger meint, auch aus den späteren ärztlichen Bescheinigungen und dem Gutachten von H1 ergebe sich der Nachweis einer schädigenden Einwirkung. Er bemängelt auch, das SG habe die atypische Sondersituation in einem abgeriegelten, umschlossenen Raum außer Acht gelassen.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 1. Februar 2024 und den Bescheid der Beklagten vom 15. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Februar 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Ereignis vom 20. Juni 2014 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Auf Bitte des Senats hat die Beklagte in ihrer Berufungserwiderung allgemeine Ausführungen dazu gemacht, unter welchen Voraussetzungen sie normalerweise Fume und Smoke Events als Arbeitsunfälle anerkennt. Nötig sind danach intensive unangenehme Gerüche mit Belästigungs- oder Reizwirkung und dadurch verursachte akute Beschwerden wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Bislang seien jedoch nur Arbeitsunfälle mit diesen kurzfristigen Beschwerden anerkannt worden. Für längerfristig bestehende Symptome sei regelmäßig keine geeignete Einwirkung zu erkennen. Ferner hat die Beklagte umfassend zum gegenwärtigen Forschungsstand über Fume Events und die dafür möglicherweise verantwortlichen Stoffe Stellung genommen. Sie hat dazu unter anderem die Abschlussberichte einer weiteren Studie des Instituts für Prävention und Arbeitsmedizin der DGUV („Humanbiomonitoring bei fliegendem Personal nach Fume and Smell Events in Verkehrsflugzeugen“ - FUSE II - vom 10. März 2022) und die „Allgemeine Stellungnahme“ des TAD der Beklagten vom 28. Juni 2022 zur Gesamtheit aller angezeigten Fume and Smoke Events im Bereich der Unfallversicherung vorgelegt. Sie hat ausgeführt, auch weitere laufende Studien auf europäischer Ebene hätten bislang keine weitreichenden Erkenntnisse erbracht. Zu der ergänzenden Frage des Senats, ob die Folgen von Fume and Smoke Events Gegenstand von Beratungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Berufskrankheiten“ beim BMAS gewesen seien, hat die Beklagte ergänzend zwei Schreiben des BMAS vom 19. Juni 2023 und vom 18. März 2024 an andere Landessozialgerichte vorgelegt. Darin wird mitgeteilt, weiterhin lägen keine ausreichend aussagekräftigen Hinweise auf bestimmte Stoffe als Ursache von FUSE vor, ferner sei das aerotoxische Syndrom weiterhin kein abgrenzbares definiertes Krankheitsbild. Insgesamt bestehe auch nach Abschluss der FUSE-II-Studie erheblicher weiterer Forschungsbedarf.

Der Senat hat am 26. Juni und am 29. August 2024 Hinweise zur Sach- und Rechtslage gegeben und dabei u.a. gefragt, ob konkrete Beweisantritte in Bezug auf eine stoffliche Einwirkung während des Fluges möglich seien.

Wegen des Vortrags der Beteiligten im Übrigen und der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Akten der Beklagten, des SG Stuttgart und des Senats verwiesen, insbesondere auf die Berichte und Stellungnahmen des TAD unmittelbar nach dem Vorfall, die späteren Auskünfte des Arbeitgebers, die schriftlichen Aussagen der Zeuginnen L1, S7 und S3, das Gutachten von H1 samt ergänzender Stellungnahme sowie die Sitzungsprotokolle und die beiden Urteil in dem Parallelverfahren der Zeugin S3.

Entscheidunqsqründe

Die Berufung des Klägers ist statthaft (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG), aber nicht begründet. Das SG hat seine Klage zu Recht abgewiesen.

Sie ist zwar als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) statthaft und zulässig. Insbesondere ist ein Versicherter nicht auf die gerichtliche Feststellung eines Arbeitsunfalls oder sonstigen Versicherungsfalls (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) beschränkt, sondern kann wahlweise auch eine entsprechende behördliche Feststellung durch Verwaltungsakt begehren. Die entsprechende - formellrechtliche - Grundlage für diesen Anspruch wird in § 102 SGB VII gesehen (BSG, Urteil vom 15. Mai 2012 – B 2 U 31/11 R –, Rn. 18, juris). Jedoch ist seine Klage unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, das Ereignis vom 20. Juni 2014 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder dem Tod führen. in Arbeitsunfall setzt mithin voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; mit umfangreichen weiteren Nachweisen BSG, Urteil vom 30. März 2023 – B 2 U 3/21 R -, Rn. 11, juris). Für die Anerkennung eines Arbeitsunfalles müssen die versicherte Tätigkeit, die hierbei stattgefundene Einwirkung auf den Körper und der Gesundheitserstschaden mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein (Vollbeweis). Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Einwirkung und dem Gesundheitserstschaden sowie dem Gesundheitserstschaden und fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der „wesentlichen Bedingung“. Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Insoweit reicht es aus, dass eine Verursachung bzw. ein Ursachenbeitrag wahrscheinlich sind. Dies ist regelmäßig im Rahmen eines Indizienbeweises festzustellen, der geführt ist, wenn nach wertender Entscheidung die gewichtigere Summe der Umstände für einen Zusammenhang spricht. Sofern an der Entstehung des Schadens auch andere, ggfs. nicht versicherte Umstände mitgewirkt haben, ist in einer zweiten Prüfungsstufe zu entscheiden, ob der versicherte Beitrag wegen seiner besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat (vgl. hierzu insbesondere BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 -, juris).

Für die Feststellung der im Vollbeweis zu sichernden Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls (versicherte Verrichtung, Einwirkung, Gesundheitserstschaden) und für jene Indizien, die für einen Wahrscheinlichkeitszusammenhang zwischen diesen Voraussetzungen sprechen, trägt der Versicherte die (materielle) Beweislast. Lässt sich dieser Beweis nicht führen, geht dies zu Lasten des Versicherten (BSG, Urteil vom 27. Oktober 2009 - B 2 U 23/08 R, juris). Der Versicherungsträger ist insoweit nur für die gegen einen Wahrscheinlichkeitszusammenhang sprechenden Umstände beweispflichtig.

Gemessen an den vorstehenden Voraussetzungen ist das Ereignis vom 20. Juni 2014 in Bezug auf den Kläger nicht als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Der Senat muss dabei nicht entscheiden, ob bei dem Kläger überhaupt ein fassbarerer Gesundheitserstschaden im Vollbeweis gesichert ist, der mit einer eventuellen Einwirkung auf seinen Körper während seiner Arbeitsschicht am Tag des Ereignisses zusammenhängen könnte.

In ständiger Rechtsprechung weist das BSG darauf hin, dass auch ein möglicher Gesundheitserstschaden durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (z. B. ICD-10) unter Verwendung der dortigen Schlüssel exakt bezeichnet werden muss (BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 – B 2 U 9/20 R –, Rn. 21, juris). Nur eine anerkannte Krankheit (oder Behinderung) kann einen solchen Schaden darstellen. Eine Krankheit im Rechtssinne ist nicht jede körperliche Regelwidrigkeit. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird (funktioneller Krankheitsbegriff, vgl. BSG Urteil vom 27. Juni 2017 – B 2 U 17/15 R –, Rn. 22, juris). Bloße Symptome oder körperliche Veränderungen ohne pathologische Bedeutung reichen dafür nicht aus. So ist eine bloße Schreckreaktion, die nicht das Ausmaß einer (behandlungsbedürftigen) akuten Belastungsreaktion (F43.0 ICD-10 GM) erreicht, keine Schädigung (Keller, in: Hauck/​Noftz SGB VII, 6. EL 2024, § 8 SGB 7, Rn. 13). Das Gleiche gilt für einen akuten Schmerz ohne fassbare somatische, insbesondere neurologische Veränderung (LSG Baden-Würt­temberg, Urteil vom 16. Januar 2013 – L 6 U 2874/12 –, Rn. 28, juris).

Es ist zweifelhaft, ob das „aerotoxische Syndrom“ ein anerkanntes Erkrankungsbild ist. Ob es eine eigenständige Diagnose darstellt (verneinend: Hessisches LSG, Urteil vom 30. November 2021 – L 3 U 246/15 –, Rn. 52, juris, BT-Drs. 19/6044, S. 20 f.; Römer in: Hauck/Noftz SGB VII, 2024, § 9 SGB 7, Rn. 210; vgl. auch LSG Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13. Dezember 2022 – L 15 U 391/18 –, Rn. 63, juris), kann ebenso offenbleiben wie die Frage, ob die vom Kläger vorgetragenen Symptome, d.h. Kopfschmerzen und Druck auf den Ohren, Schwindelgefühle, Gedächtnisstörungen, „verlangsamte Wahrnehmung“, Taubheit im Gesicht, „Müdigkeit und Schwäche“, Kribbeln in den Händen, bitterer Geschmack im Mund und eingeschränkte Fähigkeit zu zielführenden Entscheidungen, sowie die in den Durchgangsarztberichten genannten Befunde Alkalose und Mydriasis einen Gesundheitsschaden darstellen.

Denn vorliegend fehlt es bereits, darin folgt der Senat dem SG, am Vollbeweis einer schädlichen Einwirkung auf den Körper des Klägers auf dem Hin- oder Rückflug am 20. Juni 2014.

Eine Einwirkung durch einen Gefahrstoff - hier in Form eins sog. Fume Events - kann nicht ohne weitergehende Nachweise angenommen werden. Wie aus den von der Beklagten im Berufungsverfahren zu den Akten gereichten aktuellen allgemeinen Stellungnahmen ihrer Präventionsabteilung vom 28. Juni 2022 zu entnehmen ist, berichtet fliegendes Personal immer wieder von Zwischenfällen an Bord von Flugzeugen, vor allem beim Start, die mit unangenehmen Gerüchen und gelegentlich sogar auch sichtbarem Rauch verbunden sind. Diese Fume and Smell-Events gehen gelegentlich auch mit gesundheitlichen Beschwerden (unter anderem Erschöpfung, Übelkeit oder Konzentrationsstörungen) einher, die seit vielen Jahren Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Überlegungen sind. Eine allgemeingültige Erkenntnis, dass und welche toxischen Stoffe in die Kabine eindringen, besteht bislang nicht. Bislang bestehen lediglich Verdachtsmomente, aber kein gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisstand (vgl. auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13. Dezember 2022 – L 15 U 391/18 –, Rn. 55, juris). Diese Einschätzung teilen nicht nur die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Auch das Landesarbeitsgericht Köln hat z.B. ausgeführt, nachdem die technischen Ursachen und chemischen und medizinischen Wirkmechanismen eines Fume and Smell-Events ungeklärt seien, müssten sie dem allgemeinen Lebensrisiko von Personen zugerechnet werden, die ein Verkehrsflugzeug benutzen, sei es als Passagiere oder sei es als Mitglieder der Crew (Urteil vom 11. Januar 2018 – 7 Sa 356/17 –, Rn. 38, juris).

Die materielle Beweislast für eine solche Einwirkung liegt beim Versicherten. Gefordert ist der Vollbeweis im Sinne einer an Sicherheit grenzenden Überzeugung (§§ 128 SGG, 286 ZPO). Allerdings sind in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung verschiedene Fallgruppen einer Beweiserleichterung anerkannt. Ein seltener Fall ist die Beweisvereitelung durch den Gläubiger, also den Sozialleistungsträger, oder seine Erfüllungsgehilfen (vgl. § 162 BGB). Ebenso wird eine Beweiserleichterung bei einer unverschuldeten Beweislosigkeit eines Versicherten angenommen. Bei Arbeitsunfällen sind das meist Unfälle, die tödlich (oder mit der Vernehmungsunfähigkeit des Versicherten) enden und/oder für die es keinerlei Zeugen oder sonstige Beweismittel geben kann (vgl. Urteil des Senats vom 27. Juni 2022 - L 1 U 377/21 -, Rn. 31, juris). In diesen Fällen kann das Gericht seine Überzeugung auf Grund weniger bzw. schwacher Indizien bilden, wenn auch keine Contra-Indizien vorliegen. Diese Überzeugungsstufe ähnelt der Figur der Glaubhaftmachung aus dem Sozialen Entschädigungsrecht, vgl. § 117 Abs. 1 SGB XIV, auch wenn formal nicht das Beweismaß abgesenkt wird.

Eine solche Beweiserleichterung kommt nach Ansicht des Senats in diesem Verfahren nicht in Betracht. Sie könnte anzunehmen sein, wenn eine Einwirkung durch einen geruchlosen und unsichtbaren Stoff angeschuldigt würde. Hier ist nur ein mittelbarer Beweis möglich, etwa durch den Nachweis eines solchen Stoffes oder seiner Abbauprodukte im Körper. Geht es dagegen um einen sicht- oder riechbaren Stoff, wie ihn der Kläger anschuldigt, besteht kein Anlass für eine Beweiserleichterung: Der Kläger kann selbst Angaben machen, ob es auf dem Flug zu intensiven, unangenehmen Gerüchen (oder Rauchentwicklungen oder dgl.) gekommen ist, und ein solcher Vortrag ist im Prinzip durch Vernehmung der Kollegen und der Passagiere als Zeugen einem (direkten) Beweise zugänglich.

Vor diesem Hintergrund ist die Einwirkung durch einen Stoff auf den Körper des Klägers auf dem Flug am Tag des Ereignisses nicht im Vollbeweis nachgewiesen.

Bereits ganz allgemein fehlen Indizien dafür, dass ein unerwünschter Stoff in die Kabine gelangt ist. Eine Störung des Flugzeuges lag nicht vor. Nach der Auskunft der Arbeitgeberin vom 4. Juni 2020 wurde das Flugzeug auf technische Mängel überprüft. Die Untersuchungen erbrachten keinen Fehler. Auch eine Störung des Druckventils wurde ausgeschlossen. Selbst wenn das Flugzeug später – wie der Kläger vorträgt – außer Dienst genommen sein sollte, hilft dies für den hier maßgeblichen Flug daher nicht weiter. Durch die am Tag nach dem Ereignis durchgeführte und durch das Institut für Arbeitsschutz der deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) ausgewerteten Wischprobe konnte lediglich Tributylphosphat (TBP) in Spuren nachgewiesen werden. Die Aussagekraft dieser Wischprobe ist gering, da die Resultate von Wischproben keine hinreichenden Rückschlüsse auf eine Gefährdung zulassen und durch Wartungspersonal über Kleidung und Handschuhe Öl in geringen Mengen auf Oberflächen gelangen kann. Bei TBP handelt es sich zudem um einen schwerflüchtigen Stoff, so das keine Aussage darüber getroffen werden kann, ab welchem Zeitpunkt er sich im Flugzeug befand. Der Nachweis einer schädigenden Menge von TBP in der Atemluft bei den konkreten Flügen lässt sich hierdurch nicht führen (vgl. LSG Baden-Württemberg vom 16. November 2021 - L 9 U 3232/17 -, in dem Parallelverfahren der Zeugin S3). Dementsprechend folgt der Senat auch nicht den Ausführungen von H1, die für eine Kabinenluftkontamination auf Erkenntnisse aus ähnlichen Behandlungsfällen abstellt, ohne überhaupt konkrete Stoffe zu benennen.

Konkret für sicht- oder riechbare Stoffe fehlt es an belastbaren Indizien. Es kam bei dem Flug nicht zum Austreten von Rauch oder bläulichen Aerosolen aus denen auf das Austreten bestimmter Stoffe geschlossen werden könnte. Auffällige Gerüche sind - zumindest in größerem Umfang - ebenfalls nicht aufgetreten. Der Kläger selbst hat eine solche Einwirkung, obwohl sie offenkundig wesentlich ist und nach einer gesundheitlichen Beeinträchtigung wie hier auch kaum vergessen wird, seit dem Unfall nicht vorgetragen. Auch die Kollegen, die in den verschiedenen Verfahren beim SG Freiburg, beim LSG und beim SG Stuttgart als Zeugen vernommen wurden, haben nichts dergleichen ausgesagt. Nach dem Flugprotokoll der T1 über die fraglichen Flüge hatte die Crew sogar auf Nachfrage irgendwelche Geruchseinwirkungen verneint. Die Angabe des Klägers vor dem SG, nicht er, aber ein Passagier habe einen Geruch angegeben, war so vage (und vom Hörensagen), dass das SG in der Tat nicht verpflichtet war, deswegen in Ermittlungen von Amts wegen einzusteigen. Zwar macht der Kläger nunmehr geltend, die Zeugin S3 könne bestätigen, dass Passagiere einen komischen Geruch wahrgenommen hätten. Allerdings hat die Zeugin dies selbst insbesondere im Erörterungstermin in ihrem Berufungsverfahren vor dem LSG nicht angegeben, obwohl dort ausführlich thematisiert wurde, dass es beim Austritt bestimmter Stoffe zu einer Geruchsbelästigung kommen müsse, dies es jedoch nicht gegeben habe. Vor diesem Hintergrund bedurfte es auch keiner Anforderung / Auswertung des Stimmrekorders. Da die Wahrnehmung eines Geruchs durch die Crew nicht geltend gemacht wurde, bleibt unklar, was sich hieraus überhaupt ergeben soll. 

Eine Geruchseinwirkung ist - nur - in dem Bericht des PD vom 24. Juli 2014 erwähnt. Dass dieser kurze Hinweis nicht als Beweis ausreicht, hat das SG zutreffend dargelegt. Aus dem weiteren Bericht ergibt sich, dass es sich nur um eine Vermutung handelte, die aus der Annahme eines FUSE herrührte, aber keiner der Befragten einen Geruch beschrieben hatte. K1 hatte im weiteren Verlauf des Berichts selbst ausgeführt, es sei „absolut unklar“, was sich ereignet habe. Er habe es nicht zufriedenstellend in Erfahrung bringen können. Dementsprechend ist in dem Protokoll des Arbeitgebers vom 18. August 2014 („Debriefing Incident“) nach einer Besprechung der gesamten Crew mit weiteren Mitarbeitern und Arbeitnehmervertretern ausdrücklich angegeben, dass es laut Crew keinen Geruch und auch sonst keine Auffälligkeiten (mit Ausnahme der aufgetretenen körperlichen Beschwerden bei einzelnen Passagieren und Crewmitgliedern) gegeben hatte.

Hinsichtlich einer Einwirkung durch geruch- und farblose Stoffe liegen gar keine Anhaltspunkte vor. Da der in der F1-klinik festgestellte Co-Hb Wert des Klägers unauffällig war, kann auch eine Einwirkung durch Kohlenmonoxid ausgeschlossen werden. Da kein sogenanntes Humanbiomonitoring durchgeführt wurde, gibt es keine Hinweise auf unerwünschte Substanzen im Körper des Klägers.

Letztlich ist das einzige Indiz für eine schädliche Einwirkung das Auftreten von körperlichen Beschwerden insbesondere beim Kläger und seinen Kolleginnen. Eine solche Häufung ist ungewöhnlich. Das SG Freiburg hat dies in dem Parallelverfahren der Zeugin S3 ausreichen lassen, um sich von einer Einwirkung zu überzeugen. Dem kann sich der Senat allerdings, wie auch der 9. Senat im Berufungsverfahren gegen jenes Urteil des SG Freiburg, nicht anschließen.

Noch deutlicher als bei der Prüfung des Klageanspruchs am Maßstab des Prüfungsschemas „Arbeitsunfall“, wie es sich aus der Rechtsprechung des BSG ableiten lässt (vgl. oben S. 13; kritisch dazu: Ricke SGb 2024, 582, 583), wird das Fehlen der Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs, wenn man der These folgt, dass der Unfall der „Vater des Arbeitsunfalls“ ist (Ricke SGb 2024, 582, 584). Denn wenn das Geschehen eines Unfalls eine logisch zwingende Priorität für die Feststellung eines Arbeitsunfalls ist, steht am Anfang der Prüfung die Frage, ob und ggf. welchen Unfall der Kläger erlitten hat.

Die insoweit erforderliche „äußere Einwirkung“ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII) auf den Körper des Klägers ist weder ersichtlich noch erwiesen worden. Dass bei ihm am fraglichen Tag erhebliche Gesundheitsstörungen aufgetreten sind, wird von Senat gesehen und nicht in Abrede gestellt. Die gesundheitlichen Probleme, die beim Kläger am 20. Juni 2014 aufgetreten sind, lassen aber nicht auf das Vorliegen eines Unfallereignisses schließen. Vielmehr gibt es versicherte Personen, die einen Gesundheitsschaden, aber keinen Unfall erleiden (Ricke, SGb 2024, 582, 584). Worin der „Unfall“ oder die äußere Einwirkung auf den Kläger liegen könnte, ist weder konkretisiert noch gar nachgewiesen worden.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.



 

Rechtskraft
Aus
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