Zu den Anforderungen an den Nachweis psychischer Störungen als Unfallfolgen
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 11.05.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
Streitig ist, ob der Klägerin wegen der Folgen eines Wegeunfalls vom 02.02.2015 Verletztenrente zu gewähren ist.
Die Klägerin ist im Jahr 1965 in Kolumbien geboren und lebt seit 1999 in Deutschland. Ihren ersten Ehemann hat sie in Kolumbien durch eine Gewalttat verloren, ihre zweite Ehe wurde im Jahr 2006 geschieden. Sie hat drei Kinder.
Am 02.02.2015 erlitt die Klägerin gegen 7:50 Uhr auf dem Weg von ihrer Wohnung zu ihrer damaligen Arbeitsstelle in E bei Straßenglätte und einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h einen Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug. Die Klägerin zeigte sich nach dem Durchgangsarztbericht des Prof. Dr. K, Klinikum T, vom 05.02.2015 beim Eintreffen in den Schockraum deutlich vigilanzgemindert, eine verständliche verbale Antwort war nicht möglich. Prellmarken und Blessuren an Gesicht, Schädel und am übrigen Körper waren nicht ersichtlich. Nach der Anfertigung von Röntgen- und Kernspintomographieaufnahmen der Halswirbelsäule (HWS) sowie einer Computertomographie des Schädels konnten substantielle Verletzungen ausgeschlossen werden. Die Klägerin wurde am 05.02.2015 aus der stationären Behandlung unter Nennung der Diagnosen Commotio cerebri, Hochrasanztrauma und mittelgradige Trikuspidalinsuffizienz chronisch unklarer Ätiologie entlassen.
Bei einer Knochenszintigraphie zum Frakturausschluss am 13.02.2015 im Fachärztezentrum des Klinikums T kam es zu einer deutlichen Vigilanzminderung, die Klägerin verfiel in Panik und war nicht mehr ansprechbar, wobei eine somatische Genese weitgehend ausgeschlossen und daher von einem Stupor ausgegangen wurde. Nach neurologischer Untersuchung in der Notaufnahme des Klinikums erfolgte die Verlegung in das Bezirksklinikum G, wo sie vom 13.02.2015 bis 15.05.2015 stationär behandelt wurde. Im Entlassungsbericht wurde als Diagnose ein Verdacht auf eine dissoziative Bewegungsstörung, Differentialdiagnose Kontrastmittelunverträglichkeit, angegeben. Bei Aufnahme war die Klägerin wach und sprechfähig, jedoch bewegungsunfähig. Die Symptome bildeten sich über Nacht vollständig zurück. Die Klägerin gab an, dass sie so einen Zustand noch nie gehabt habe und dass auch keine psychiatrischen Vorerkrankungen bekannt seien.
In der Folgezeit erfolgten mehrfach Behandlungen wegen einer schmerzbedingten Rotationseinschränkung der HWS, Kopfschmerzen und Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich. Die behandelnden Orthopäden Dr. E und Dr. W vom Orthopädiezentrum B gingen von einem nicht verarbeiteten psychologischen Unfallschock aus und veranlassten eine psychiatrisch-neurologische Untersuchung. Der Neurologe Dr. J vom Neurozentrum P teilte mit Arztbriefen vom 06.05.2015 und 09.07.2015 die Diagnosen eines postkontusionellen Syndroms mit biokzipitalen Kopfschmerzen sowie HWS-Syndrom, Okzipitalisneuralgie links und leichte reaktive Depression bei subjektiver Konzentrationsstörung, allgemeiner Kraftlosigkeit und Abgeschlagenheit mit.
Der Orthopäde Dr. E berichtete der Beklagten mit Schreiben vom 11.12.2015, dass die Klägerin bis zum 27.10.2015 wegen der von chronischen Schmerzstörungen mit psychosomatischen Faktoren begleiteten Unfallfolgen HWS-Distorsionstrauma, Commotio cerebri und starker Kopfschmerzen auf Kosten der Beklagten behandelt worden sei. Danach laufe die Behandlung über die Krankenkasse.
Vom 27.11.2015 bis 04.12.2015 erfolgte eine stationäre Behandlung im Klinikum R wegen dissoziativen Stupors, chronischer Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren und Hypothyreose. Die Aufnahme sei nach einer Behandlung beim Osteopathen erfolgt. Dort habe die Klägerin während einer Manipulation an der HWS zu weinen begonnen und nicht mehr gesprochen. Eine Computertomografie des Schädels war unauffällig.
Eine Anfrage der Beklagten bei der Krankenversicherung der Klägerin ergab, dass diese im Jahr 2011/12 wegen einer depressiven Episode vier Wochen stationär in der Klinik A, C, behandelt worden war.
In der Folge holte die Beklagte Gutachten zur Zusammenhangsfrage ein.
Der Facharzt für Unfallchirurgie Dr. N kam im Gutachten vom 01.07.2016 zum Ergebnis, dass die Klägerin bei dem Unfall eine HWS-Distorsion erlitten habe, die eine drei- bis vierwöchige Behandlung nach sich gezogen habe und keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) begründe.
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L äußerte im Gutachten vom 12.09.2016 die Einschätzung, dass bei der Klägerin nur eine folgenlos ausgeheilte Gehirnerschütterung ohne MdE vorgelegen habe. Bei der Untersuchung hatte die Klägerin angegeben, nie eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung durchgemacht zu haben und auch nie in nervenärztlicher Behandlung gewesen zu sein.
Der Facharzt für Innere Medizin Dr. M stellte in seinem Gutachten vom 13.11.2016, ergänzt am 15.02.2017, fest, dass auf internistischem Fachgebiet keine Unfallfolgen vorlägen.
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B kam im Gutachten vom 11.01.2017 zu dem Ergebnis, dass aus psychiatrischer Sicht keine Unfallfolgen vorlägen. Die Beschwerden der Klägerin stünden im Zusammenhang mit einer histrionisch akzentuierten Primärpersönlichkeit, die eine Neigung zur Entwicklung dissoziativer Störungen habe und die mit großer Wahrscheinlichkeit bereits vor dem Unfall vorgelegen habe. Bei der Untersuchung habe eine schmerzbedingte Rotationshemmung des Kopfes nach links bestanden und die Nackenmuskulatur sei links deutlich verspannt gewesen. Den neuro-psychiatrischen Befund beschrieb der Sachverständige als komplett unauffällig. Auch bei der Untersuchung durch Dr. B hatte die Klägerin angegeben, niemals psychisch krank gewesen zu sein.
Mit Bescheid vom 19.04.2017 erkannte die Beklagte zwar den Unfall vom 02.02.2015 als Arbeitsunfall an, lehnte aber die Gewährung von Verletztenrente ab. Dies begründete sie damit, dass sich die Klägerin beim Unfall eine Gehirnerschütterung, eine Zerrung der HWS und eine vorübergehende Belastungsstörung zugezogen habe, die allesamt folgenlos ausgeheilt seien.
Dagegen legte der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 18.05.2017 Widerspruch ein und begründete diesen mit Schriftsatz vom 22.06.2017 damit, dass die Klägerin vor dem streitgegenständlichen Unfall keinerlei Beschwerden im Bereich der HWS und keine ausstrahlenden Schmerzen gehabt habe, sodass ein Zusammenhang mit dem Versicherungsfall vorliegen müsse.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Am 22.03.2018 hat die Klägerin, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Klage zum Sozialgericht (SG) München erhoben und eine Verletztenrente begehrt. Sie hat ihr Begehren im Wesentlichen damit begründet, dass sie immer wieder stark beeinträchtigende Schmerzen im Bereich der HWS und im Kopf habe, die vor dem Unfall nicht bestanden hätten.
Im Auftrag des SG hat der Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie Dr. R am 11.01.2019 ein Gutachten erstellt. Er ist darin zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin bei dem streitgegenständlichen Unfall eine Distorsion der HWS ohne gesicherte strukturelle Verletzung Grad I nach Erdmann / Grad I (bis II) nach Quebec Task Force, eine Commotio cerebri ohne intracerebrale Verletzungen und eine Thoraxprellung ohne strukturelle Verletzung, alles folgenlos ausgeheilt, erlitten habe. Eine MdE habe bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt bestanden.
Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Facharzt für Neurologie Prof. Dr. B1 vom Neurozentrum P, in dem die Klägerin nach dem Unfall behandelt worden war, am 23.09.2019 ein fachneurologisches Gutachten erstellt. Er ist nach ambulanter Untersuchung der Klägerin, bei der diese angegeben hatte, erst seit dem Unfallereignis immer wieder starke Depressionen zu haben, zu der Einschätzung gekommen, dass die Klägerin beim streitgegenständlichen Unfall eine Commotio cerebri sowie eine HWS-Distorsion erlitten habe, die - in Übereinstimmung mit den bisherigen Einschätzungen - anhaltende gesundheitliche Folgen nicht bedingt hätten. Zudem liege eine somatoforme Störung vor. Anders als der neurologisch-psychiatrische Gutachter Dr. B sehe er aber eine "längere depressive Reaktion, mittelschwerer Ausprägung (F43.21)" (S. 24 des Gutachtens), die mit "kognitiven Einschränkungen sekundär bei Depression (F06.7)" (S. 24 des Gutachtens) assoziiert sei. Das Unfallereignis vom 02.02.2015 qualifiziere sich mit seinem unvorhersehbaren Auftreten, seiner akut einsetzenden Gefahr für Leib und Leben als "auslösendes kausales Ereignis" für die sich seit dem Unfallereignis entwickelnde Depression. Die nach dem Unfallereignis eingetretenen zwei Episoden mit Stupor würden die Annahme einer durch das Unfalltrauma sich entwickelnden Depression stützen. Der Unfall habe die Klägerin in einer biografisch vulnerablen Lebensphase als alleinerziehende Mutter zweier Kinder, die sich eine familiäre und berufliche Basis in Deutschland aufzubauen versuche, getroffen. Vor diesem Unfall habe die Klägerin traumatische Erlebnisse wie den gewaltsamen Tod ihres ersten Ehemanns oder den Tod ihrer Mutter adäquat bewältigen können. Damit bestünden keine relevanten Vorerkrankungen oder unfallunabhängigen Faktoren. Grundlage der Depression sei eine Anpassungsstörung, die nicht länger als sechs Monate ab Beendigung des belastenden Ereignisses auftrete. Ohne das Unfallereignis wäre eine Anpassungsstörung nicht aufgetreten. Bei der Klägerin bestehe eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, sodass die MdE 30 v.H. betrage. Bei seinen Annahmen hat sich der Sachverständige im Wesentlichen auf die von ihm durchgeführten testpsychologischen Untersuchungen gestützt.
Zum Gutachten des Prof. Dr. B1 hat sich die Beklagte mit Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Prof. Dr. Dr. W1 vom 20.03.2020 geäußert, der Folgendes ausgeführt hat:
Das Vorliegen einer akuten Belastungsreaktion mit einer dissoziativen Symptomatik erscheine, wie im Gutachten des Dr. B, plausibel. Derartige Reaktionen seien in der amerikanischen psychiatrischen Literatur bei aus Südamerika stammenden Latinos gut bekannt und hätten auch als kulturspezifische Reaktion auf Stresssituationen in Lateinamerika Eingang in das DSM-5 gefunden. Dass es sich hierbei um eine Reaktion handle, die auch bei anderen Belastungssituationen auftrete, sei bei der Klägerin dokumentiert, so bei einer offensichtlich als bedrohlich erlebten Skelettszintigraphie und einer manuellen Therapie. Anhaltspunkte für eine posttraumatische Belastungsstörung bestünden nicht. Anhaltende psychische Unfallfolgen seien bei fehlender persistierender struktureller Schädigung nicht zu begründen, zumal auch bereits vor dem Unfall eine vulnerable Situation vorgelegen habe, wie sie bereits im Bericht der Klinik A über einen stationären Aufenthalt 2011/2012 sowie in einer ausführlichen biographischen Anamnese der Psychotherapeutin L1 vom 21.12.2018 beschrieben sei.
Der Stellungnahme beigefügt worden ist der Entlassungsbericht zur stationären Heilbehandlung vom 21.12.2011 bis 18.01.2012 in der Klinik A in C - genannt worden sind darin die Diagnosen psychovegetative Erschöpfung, Schlafstörungen, depressive Episoden, HWS-Syndrom, Kopfschmerzen und arterielle Hypertonie.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 11.05.2020 abgewiesen. Im Hinblick auf das Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Zugrundelegung der von der Beklagten eingeholten Gutachten auf chirurgischem, neurologischem und neurologisch/psychiatrischem sowie internistischem Fachgebiet, die im Rahmen des Urkundsbeweises verwertet würden, und den insoweit auch übereinstimmenden Gerichtsgutachten nach §§ 106 SGG und 109 SGG sei es bei der Klägerin zu keinen strukturellen Verletzungen gekommen. Dies ergebe sich bereits aus den zeitnah angefertigten Röntgen-, Kernspintomographie- und CT-Aufnahmen, die keine Verletzungen an der HWS und keinen pathologischen Befund im Bereich des Schädels gezeigt hätten, sodass alle Gutachter übereinstimmend und zutreffend zu dem Ergebnis gekommen seien, dass die Klägerin nur eine Zerrung an der HWS und eine Gehirnerschütterung erlitten habe. Soweit der Gutachter Prof. Dr. B1 in seinem neurologischen Gutachten zu dem Ergebnis gekommen sei, dass bei der Klägerin Unfallfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet verblieben seien, sei in Übereinstimmung mit den Einwendungen des Beratungsarztes Prof. Dr. Dr. W1 anzumerken, dass schon nicht schlüssig sei, wieso ein fachneurologisches Gutachten umfassend zu psychiatrischen Gesundheitsstörungen Stellung nehme. Entscheidend sei aber, dass dem Sachverständigen offensichtlich die Beurteilungskriterien in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht bekannt seien. So werde im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, ausdrücklich dargelegt, dass gerade auch bei psychischen Störungen ein zeitlicher Zusammenhang und das Fehlen des Nachweises von vor dem Unfall bestehenden psychischen Störungen nicht ausreiche, um einen Zusammenhang zu bejahen. Dennoch sehe er die jetzt vorliegende depressive Reaktion mittelschwerer Ausprägung als Folge des Arbeitsunfalls an. Allerdings beschreibe er auch, dass die Beschwerden nur durch den Unfall "ausgelöst" worden seien, was gerade nicht ausreiche, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zu bejahen. Im Gegenteil, gerade wenn Beschwerden nur durch ein Unfallereignis "ausgelöst" würden, sei die Wahrscheinlichkeit eines rechtlich wesentlichen Zusammenhangs zu verneinen.
Dagegen hat sich die anwaltlich vertretene Klägerin mit ihrer am 29.06.2020 eingelegten Berufung gewandt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass Gesundheitsschäden alle unmittelbar durch das Unfallereignis verursachten regelwidrigen Zustände des Körpers einschließt der Psyche seien. Vor diesem Hintergrund sei davon auszugehen, dass der Zustand der Klägerin nach dem Unfall auf das Unfallereignis zurückzuführen sei, sodass die im Gutachten des Prof. Dr. B1 festgestellte Erwerbsunfähigkeit vorliege und dementsprechend Verletztenrente zu gewähren sei.
Im Auftrag des Gerichts hat die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. Z am 07.08.2023 ein Gutachten erstellt. Darin ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass bei der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4), eine mittelgradige Depression (ICD-10 F32.1) und eine dissoziative Störung (ICD-10 F44) vorlägen, die aber nicht durch den streitgegenständlichen Unfall verursacht worden seien.
Im Einzelnen hat sie dies wie folgt erläutert: Bereits mehrere Jahre vor dem Unfallereignis seien bei der Klägerin die Diagnosen einer psychovegetativen Erschöpfung und einer depressiven Episode gestellt worden, zudem seien Schlafstörungen, Kopfschmerzen und ein HWS-Syndrom erwähnt worden. Es sei daher von einem Vorschaden in Form einer depressiven und somatoformen Störung auszugehen. Am Unfalltag seien als Erstschaden eine Gehirnerschütterung mit vorübergehender Bewusstseinsstörung, Verlangsamung und Kopfschmerzen sowie Schmerzen im Bereich der HWS festzustellen. Ein zusätzlicher dissoziativer Zustand könne nicht festgestellt werden. Darüber hinaus finde sich kein Anhalt für eine Gesundheitsstörung auf psychiatrischem Fachgebiet. Die bei der Klägerin im Verlauf diagnostizierten Erkrankungen seien nicht wesentlich durch den Unfall (mit)verursacht worden. Die unfallfremden Faktoren, die bereits vor dem Unfall gestellten Diagnosen und die Vulnerabilität der Klägerin sowie die im Verlauf nach dem Unfall hinzugetretenen psychosozialen Belastungen seien die überragende Ursache für die jetzt vorliegenden Gesundheitsstörungen.
Auf den vom Gericht mit Schreiben vom 14.08.2023 erteilten Hinweis auf die fehlenden Erfolgsaussichten der Berufung und die dabei erfolgte Anregung zur Berufungsrücknahme hin hat der Klägerbevollmächtigte am 26.10.2023 mitgeteilt, dass er zwar mit der Klägerin das Gutachten besprochen habe, diese aber alles auf den Unfall zurückführe.
Die Klägerin beantragt (Berufungsschriftsatz vom 29.06.2020):
Der Gerichtbescheid des Sozialgerichts München vom 11.05.2020 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Verletztenrente wegen einer MdE von mehr als 20 v.H. über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall vom 02.02.2015 hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen
Beigezogen worden sind die Akten des SG sowie die Verwaltungsakte der Beklagten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Der Senat kann gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu mit Schreiben vom 31.10.2023 und 31.12.2023 ihr Einverständnis erklärt haben. Anlass für eine mündliche Verhandlung bestand nicht.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, der Klägerin wegen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 02.02.2015 Verletztenrente zu gewähren.
Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Ein Anspruch auf Rente besteht gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 VII auch dann, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen (sog. Stützrente nach einer MdE von 10 v.H.). Nach § 56 Abs. 3 Satz 2 SGB VII wird bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit Teilrente geleistet, die in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt wird, der dem Grad der MdE entspricht. Dabei richtet sich die durch die Unfallfolgen bedingte MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. BSG, Urteile vom 02.05.2001, B 2 U 24/00 R, und vom 05.09.2006, B 2 U 25/05). Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (vgl. BSG, Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 24/00 - m.w.N.). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie den Umfang der Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen betreffen (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 25/05 R). Erst aus der Anwendung (medizinischer) Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (vgl. BSG, Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 24/00). Bei der Beurteilung der MdE sind die von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten. Diese sind zwar nicht bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2005, B 2 U 14/03 R).
Unfallfolgen sind die Gesundheitsschäden, die wesentlich durch den Gesundheitserstschaden eines Arbeitsunfalls verursacht worden sind oder die nach besonderen Zurechnungsnormen wie § 11 SGB VII dem Gesundheitserstschaden bzw. dem Arbeitsunfall zugerechnet werden (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R).
Der Gesundheitserstschaden wiederum ist eine den Arbeitsunfall selbst begründende Tatbestandsvoraussetzung (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R, und vom 24.07.2012, B 2 U 23/11 R). Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit) (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII), wobei Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse sind, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis (dem Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden sowie zwischen Gesundheitserstschaden und weiteren Gesundheitsschäden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009, B 2 U 18/07 R), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist, muss nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009, B 2 U 18/07 R) sowie auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsstörungen und Krankheiten ermittelt werden (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Gesichtspunkte für die Beurteilung sind neben der versicherten Ursache als solcher einschließlich Art und Ausmaß der Einwirkung u.a. konkurrierende Ursachen (nach Art und Ausmaß), der zeitliche Ablauf des Geschehens, das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Ist jedoch eine Ursache - allein oder gemeinsam mit anderen Ursachen - gegenüber anderen Ursachen von überragender Bedeutung, so ist/sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) wesentlich und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.1960, 2 RU 86/56). Eine Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als wesentlich anzusehen ist, wird auch als Gelegenheitsursache oder Auslöser bezeichnet (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
Hinsichtlich des Beweismaßstabs ist zu beachten, dass neben der versicherten Tätigkeit und dem schädigenden Ereignis auch das Vorliegen des Gesundheitserstschadens und des Folgeschadens (Unfallfolge) im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein muss (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 01.02.1996, 2 RU 10/95, vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, und vom 17.12.2015, B 2 U 8/14 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92). Für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge genügt hingegen die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 29/07 R). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt dagegen nicht (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Dabei existiert keine zwingende Regel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexen Krankheitsgeschehen zur Umkehr der Beweislast führen würde (vgl. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 17.12.2015, B 2 U 11/14 R).
Dies zugrunde gelegt gilt für das vorliegende Verfahren Folgendes:
Die Klägerin hat bei dem streitgegenständlichen Unfall - im Vollbeweis nachgewiesen - eine Distorsion der HWS ohne strukturelle Verletzung Grad I nach Erdmann / Grad I (bis II) nach Quebec Task Force, eine Commotio cerebri ohne intracerebrale Verletzungen und eine Thoraxprellung ohne strukturelle Verletzung erlitten. Diese Gesundheitserstschäden sind alle folgenlos ausgeheilt und können keine MdE begründen (zur HWS-Distorsion, auch HWS-Schleudertrauma genannt, vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 487 ff.).
Außerhalb des psychiatrischen Fachgebiets liegen damit unzweifelhaft keinerlei bleibenden Unfallfolgen vor. Der Senat stützt sich insofern auf die diversen im Verwaltungsverfahren und im erst- und zweitinstanzlichen gerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten des Dr. R, Dr. N, Dr. L, Dr. M und Dr. B. Deren Beurteilungen hinsichtlich der Frage des Vorliegens von Unfallfolgen werden auch von dem von der Klägerin gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Prof. Dr. B1 nicht angezweifelt; der gemäß § 109 SGG benannte Sachverständige hat Unfallfolgen lediglich auf psychiatrischem, nicht aber auf neurologischem Fachgebiet gesehen.
Auch auf psychiatrischem Fachgebiet liegen bei der Klägerin keine Unfallfolgen vor; die bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen sind nicht hinreichend wahrscheinlich durch den Arbeitsunfall vom 02.02.2015 verursacht.
Bei seinen Feststellungen stützt sich der Senat auf das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten der Prof. Dr. Z vom 07.08.2023, die den Sachverhalt samt den zuletzt vorgelegten medizinischen Befunden sehr eingehend gewürdigt und überzeugend bewertet hat.
Bei der Klägerin sind auf psychiatrischem Fachgebiet folgende Erkrankungen zu diagnostizieren: eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4), eine mittelgradige Depression (ICD-10 F32.1) und eine dissoziative Störung (ICD-10 F44).
Bei der Klägerin ist auf psychiatrischem Fachgebiet kein Gesundheitserstschaden in dem dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen, der geeignet wäre, die jetzt vorliegende psychiatrische Symptomatik rechtlich wesentlich kausal zu erklären.
Die Klägerin hat sich bei dem streitgegenständlichen Unfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, also im Beweismaßstab des Vollbeweises, neben einem HWS-Schleudertrauma Grad I nach Erdmann und einer Thoraxprellung eine Gehirnerschütterung mit vorübergehender Bewusstseinstrübung, Verlangsamung und Kopfschmerzen zugezogen. Ein zusätzlicher dissoziativer Zustand lässt sich hingegen nicht im Beweismaßstab des Vollbeweises feststellen. Für einen Gesundheitserstschaden auf psychiatrischem Fachgebiet findet sich kein Anhalt.
Der nachgewiesene Gesundheitserstschaden - HWS-Schleudertrauma Grad I nach Erdmann, Thoraxprellung, Gehirnerschütterung, alles ohne strukturelle Verletzungen - kann die bei der Klägerin jetzt vorliegenden Gesundheitsstörungen - somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4), mittelgradige Depression (ICD-10 F32.1), dissoziative Störung (ICD-10 F44) - nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursachen.
Für den Nachweis ereignisreaktiver psychischer Störungen werden als Anknüpfungstatsachen ein geeigneter objektiver Schweregrad des Unfallereignisses, der Nachweis einer Erstsymptomatik in geeignetem zeitlichen Zusammenhang oder der Nachweis einer Brückensymptomatik, der Nachweis einer Folgesymptomatik mit geeignetem klinischen Verlauf und der Nachweis eines insgesamt schlüssigen Bildes für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Trauma und psychischer Symptomatik gefordert.
Ausgehend davon, dass der Verkehrsunfall der Klägerin eine Anknüpfungstatsache darstellen kann, also potentiell geeignet ist, eine Gesundheitsstörung auf psychiatrischem Fachgebiet zu verursachen (vgl. BSG, Urteil vom 18.10.1995, 9/9a RVg 4/92), scheitert die Kausalität vorliegend daran, dass im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang nach dem Unfall keine relevante psychopathologische Symptomatik beschrieben worden ist. Insbesondere gibt es keine Hinweise auf eine akute Belastungsreaktion, die sich im engen zeitlichen Zusammenhang auf eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung entwickeln kann. Die dafür erforderlichen Symptome (Art von Betäubung, gewisse Bewusstseinseinengung, Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten, Desorientiertheit) erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und bilden sich oft innerhalb von Stunden zurück; für die Diagnose einer akuten Belastungsstörung muss die beschriebene Symptomatik sehr deutlich ausgeprägt sein. Hinweise auf einen derartigen Zustand der Klägerin gibt es nicht, geschweige denn, dass ein solcher Zustand im Vollbeweis nachgewiesen wäre. Der als vorübergehende Somnolenz beschriebene Zustand der Klägerin nach dem Unfallereignis ist der Beschreibung nach eher einer Gehirnerschütterung als einer peritraumatischen Dissoziation zuzuschreiben. Das Vorliegen einer akuten Belastungsreaktion bei der Klägerin nach dem Unfall ist damit nicht wahrscheinlich, geschweige denn sicher nachgewiesen. Neben dem Nachweis eines psychischen Erstschadens fehlen auch geeignete Brückensymptome sowie der Nachweis eines plausiblen klinischen Verlaufs.
Der Vollständigkeit halber, ohne dass es darauf wegen des fehlenden Gesundheitserstschadens auf psychiatrischem Fachgebiet noch ankommt, weist der Senat auf Folgendes hin:
Überragende Ursache für die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen sind unfallfremde Faktoren, nämlich die bei der Klägerin vorliegenden Vorschäden in Form einer psychovegetativen Erschöpfung und depressiven Episode, wie sie schon im Abschlussbericht zum stationären Aufenthalt in der Klinik A vom 21.11.2012 bis zum 18.01.2012 genannt worden sind, sowie die schon vor dem Unfall wiederholt genannten Schlafstörungen, Kopfschmerzen und ein HWS-Syndrom, also alles Gesundheitsstörungen, die auf eine biologische Vulnerabilität für die jetzt vorliegenden Gesundheitsstörungen hinweisen, sowie die im Verlauf nach dem Unfall hinzugetretenen psychosozialen Belastungen.
Dass die Beschwerden zeitlich nach dem Arbeitsunfall aufgetreten sind, bedeutet nicht, dass deshalb auch ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang bestünde. Allein mit einem zeitlichen Zusammenhang lässt sich ein im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung rechtlich wesentlicher Zusammenhang nicht begründen, selbst dann nicht, wenn - anders als hier - Alternativursachen nicht nachgewiesen sind (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
Sollte der streitgegenständliche Unfall einen Beitrag zum Auftreten der psychiatrischen Gesundheitsstörungen geliefert haben und der Unfall als Auslöser der Beschwerden gesehen werden, wie dies auch der von der Klägerin nach § 109 SGG benannte Sachverständige Prof. Dr. B1 formuliert hat, wäre der Unfall nur eine rechtlich unerhebliche Gelegenheitsursache (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 26/04 R, und vom 09.05.2006, B 2 U 26/04 R - jeweils m.w.N.). Dies entspricht auch im Ergebnis dem Umstand, dass die Anerkennung von depressiven Störungen als Unfallfolge regelmäßig nur als Reaktion auf anhaltende körperliche Schädigungsfolgen oder als Restsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung in Betracht kommt (vgl. Widder/Gaidzik, Neurowissenschaftliche Begutachtung, 3. Aufl. 2017, S. 607).
Sofern - als einziger Sachverständige - der von der Klägerin nach § 109 SGG benannte Sachverständige, der Facharzt für Neurologie Prof. Dr. B1, zu einem anderen Ergebnis gekommen ist, kann dies insbesondere aus den folgenden Gründen nicht überzeugen:
* Unabhängig von dem formalen Aspekt, dass der Gutachter Prof. Dr. B1 (lediglich) Facharzt für Neurologie, nicht aber für Psychiatrie ist, seiner Einschätzung aber ausschließlich psychiatrische und damit für den Bereich der Neurologie fachfremde Diagnosen zugrunde gelegt hat, hat Prof. Dr. B1 durch seine inhaltlichen Ausführungen auf psychiatrischem Fachgebiet gezeigt, dass ihm für die Beurteilung von Ursachenzusammenhängen zwischen Unfällen und psychiatrischen Gesundheitsstörungen die erforderliche Expertise fehlt. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Bereich psychischer Störungen ist eine exakte Einordnung der vom Gutachter festgestellten Gesundheitsstörungen in eines der gängigen Diagnosesysteme (ICD oder DSM) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen zwingend (vgl. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 26/04 R, vom 26.11.2019, B 2 U 8/18 R, und vom 28.06.2022, B 2 U 9/20 R). Dazu war der Sachverständige Prof. Dr. B1 aber nicht in der Lage. So hat er als Unfallfolgen u.a. folgende Diagnosen gestellt und klassifiziert: "längere depressive Reaktion, mittelschwerer Ausprägung (F43.21)" (S. 24 des Gutachtens) und "kognitive Einschränkungen sekundär bei Depression (F06.7)". Eine ICD-10-Diagnose "F43.21" existiert im ICD-10 aber nicht. Die ICD-10-Diagnose F06.7 wird im ICD-10 als "leichte kognitive Störung" beschrieben, wobei diese Diagnose - so die Vorgabe der ICD-10 - "nur in Verbindung mit einer körperlichen Krankheit gestellt und bei Vorliegen einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung aus dem Abschnitt F10-F99 nicht verwandt werden [sollte]." Diese Vorgaben hat Prof. Dr. B1 nicht beachtet. Nach seinen eigenen Ausführungen liegt bei der Klägerin keine körperliche Krankheit vor, wie dies bei der ICD-10-Diagnose F06.7 der Fall sein müsste. Zudem hat der Sachverständige übersehen, dass er mit den Diagnosen einer Anpassungsstörung (F43.2), einer "längeren depressiven Reaktion, mittelschwerer Ausprägung (F43.21)" und einer somatoformen Störung (F 45.0) drei weitere Diagnosen aus dem Abschnitt F10-F99 gestellt hat, die der ICD-10-Diagnose F06.7 entgegenstehen.
* Kritikwürdig an diesem Gutachten ist zudem, dass der Sachverständige seine Einschätzungen im Wesentlichen isoliert auf die Ergebnisse der von ihm durchgeführten testpsychologischen Verfahren gestützt hat. Den Umstand, dass testpsychologische Verfahren lediglich eine Selbstbeurteilung der Betroffenen darstellen und daher einer Validierung bedürfen, hat der Sachverständige nicht ansatzweise bedacht und vielmehr das Ergebnis der Selbstauskünfte der Klägerin ohne einen solchen Abgleich als zutreffend zugrunde gelegt (vgl. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 161). Auch hat Prof. Dr. B1 nicht beachtet, dass die von ihm durchgeführten testpsychologischen Verfahren ganz überwiegend keine Diagnosestellung zulassen. Einen standardisiert zu erhebenden klinischen psychopathologischen Befund enthält sein Gutachten hingegen nicht.
* Zudem ist der Sachverständige auch von der Angabe der Klägerin ausgegangen, dass sie vor dem streitgegenständlichen Unfall an keiner psychiatrischen Erkrankung gelitten hätte (S. 8 des Gutachtens: "Erst seit dem Unfallereignis habe sie immer wieder starke Depressionen."), eine Angabe, die die Klägerin in der Vergangenheit wiederholt gemacht hat. Diese Angabe der Klägerin ist aber nachweislich unrichtig, so ist sie wegen einer depressiven Erkrankung vier Wochen in den Jahren 2011/12 in stationärer Behandlung gewesen.
* Der Sachverständige hat seine Einschätzung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Klägerin erst nach dem Unfall an einer psychiatrischen Erkrankung erkrankt sei und dieser zeitliche Zusammenhang für einen Kausalzusammenhang spreche. Diese Argumentation ist unter zwei Gesichtspunkten falsch. Zum einen ist die Klägerin schon in der Vergangenheit an einer Depression und Schmerzen ohne somatisches Korrelat erkrankt und deswegen u.a. vom 21.12.2011 bis zum 18.01.2012 in der Klinik A in stationärer Behandlung gewesen. Zum anderen lässt sich mit einem bloß zeitlichen Zusammenhang kein rechtlich wesentlicher Zusammenhang im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung begründen (s.o.). Der Sachverständige hat zudem weder einen Bezug zu den unter dem Gesichtspunkt der rechtlich wesentlichen Kausalität zu fordernden - bei der Klägerin aber fehlenden - Anknüpfungstatsachen hergestellt noch hat er konkurrierende Ursachen diskutiert, die sich im Falle der Klägerin aufdrängen.
* Schließlich gibt es auch deutliche Hinweise darauf, dass dem Sachverständigen die Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherung hinsichtlich der Beurteilung der Kausalität nicht ausreichend bekannt sind. So spricht er wiederholt über den streitgegenständlichen Unfall als Auslöser der psychischen Erkrankung der Klägerin (S. 27 des Gutachtens: "auslösendes kausales Ereignis"; S. 29 des Gutachtens: "ausgelöste längere depressive Reaktion"), ohne deutlich zu machen, ob er den Unfall als Ursache bloß im Sinne einer nicht ausreichenden conditio sine qua non oder als rechtlich wesentlich im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ansieht.
Da der streitgegenständliche Unfall vom 02.02.2015 über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus keine bleibenden Unfallfolgen hinterlassen hat, besteht keine MdE wegen Unfallfolgen und damit auch kein Anspruch der Klägerin auf Verletztenrente.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.