L 8 R 2569/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 539/24
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 2569/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 15.08.2024 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Der im Jahr 1967 geborene Kläger hat den Beruf des Feinblechners erlernt. Seit der Beendigung der Ausbildung im Jahr 1987 arbeitete er bis 1998 im erlernten Beruf. Anschließend übte er unterschiedliche Tätigkeiten für verschiedene Arbeitgeber aus. Zuletzt war er seit 2019 als Bestattungsordner bei der Stadt L1 beschäftigt. Von Mai 2021 bis September 2022 erhielt er Krankengeld. Das Landratsamt L1 hat mit Bescheid vom 22.05.2018 beim Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 aufgrund der Funktionsstörungen Depression, psychovegetative Störung, Schlafapnoe-Syndrom, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Polyneuropathie, Schwerhörigkeit beidseits und Schwindel festgestellt.

Der Kläger durchlief vom 06.04.2022 bis 11.05.2022 eine stationäre Maßnahme zur Rehabilitation in der Klinik A1 in I1. Der Entlassungsbericht führte folgende Diagnosen auf: Rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig mittelgradige Episode), Diabetes mellitus Typ 2, gemischte Hyperlipidämie, obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, Spondylose an mehreren Lokalisationen der Wirbelsäule, Lumboischialgie und Adipositas Grad 2 durch übermäßige Kalorienzufuhr. Die Arbeit als Bestattungsordner und leichte bis mittelschwere Tätigkeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts könnten noch mindestens 6 Stunden täglich ausgeübt werden.

Der Kläger beantragte am 13.09.2022 eine Rente wegen Erwerbsminderung. Er gab an, sich seit dem Jahr 2012 wegen Depressionen, Schwindelattacken, Epilepsie, Panikattacken, Atemnot, Schlaflosigkeit, einem Bandscheibenvorfall, Albträumen und Verkrampfungen für erwerbsgemindert zu halten.

Die Beklagte holte ein Gutachten bei der L2 ein, die den Kläger am 24.04.2023 untersuchte. L2 diagnostizierte eine Anpassungsstörung mit Somatisierung. Eine EEG-Untersuchung habe keine epilepsietypischen Potentiale ergeben. Die Grundstimmung des Klägers sei ausgeglichen gewesen und der Antrieb habe unauffällig gewirkt. Psychomotorisch sei der Kläger ruhig gewesen. Konzentration, Auffassung Gedächtnis und Merkfähigkeit hätten keine Störungen gezeigt. Die Kraft des Klägers sei beidseits unauffällig gewesen, die Geh- und Stehversuche sicher und Sensibilität sowie Koordination ungestört. Der Kläger habe erklärt, seit 2012 an verschiedenen Arbeitsplätzen unter Mobbing zu leiden. Er sei deswegen bis zum Bundesarbeitsgericht gegangen. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes (sowie die Tätigkeit als Bestattungsordner) könnten noch mindestens 6 Stunden täglich ausgeübt werden. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die psycho-mentale Belastbarkeit.

Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 05.07.2023 ab.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erhob hiergegen am 19.07.2023 Widerspruch. Er trug zur Begründung mit Schreiben vom 10.10.2023 vor, dass abgesehen davon, dass überhaupt keine sozialmedizinischen Ermittlungen durchgeführt worden seien, sich schon dem Entlassungsbericht der Klinik A1 I1 eine quantitative Leistungsminderung entnehmen lasse. Es bestünden gravierende psychische Probleme.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers reichte einen Befundbericht des Epilepsiezentrums K1 vom 13.09.2023 der S1 ein. Darin wurde der Kläger als freundlich zugewandt und affektiv schwingungsfähig beschrieben. Es liege keine schwere depressive Episode vor. Im EEG hätten sich keine epilepsietypischen Muster gezeigt. Der Kläger habe berichtet, dass erstmals im September 2022 nachts ein Ereignis aufgetreten sei, welches seine Ehefrau als epileptischen Anfall identifiziert habe. Es sei laut Ehefrau noch ein weiteres Ereignis aufgetreten. Der Kläger nehme deshalb ein Medikament ein, welches er gut vertrage. Seit einer Höherdosierung sei es zu keinen weiteren Ereignissen gekommen. Im Bericht findet sich die Einschätzung, dass leider zeitnah zu den Ereignissen kein Blutzucker gemessen worden sei. Bei den nächtlichen Anfällen sei eine Hyperglykämie in Erwägung zu ziehen. Diagnostisch sei „am ehesten“ von einer fokalen Epilepsie unklarer Ätiologie mit nicht bewusst erlebten Anfällen auszugehen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.2024 als unbegründet zurück. Zur Begründung verwies sie auf die durchgeführten Ermittlungen.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am 07.03.2024 Klage am Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Der Sachverhalt sei medizinisch nicht ausreichend aufgeklärt worden, weil die behandelnden Ärzte nicht hinreichend angehört worden seien. Das von der Beklagten eingeholte psychiatrische Gutachten sei ohne ausreichende Anamnese und lasse auch sonst keine notwendigen Untersuchungen und Testungen des Klägers erkennen. Aufgrund einer weiteren Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes des Klägers bedürfe es schon in zeitlicher Hinsicht einer aktuellen Einschätzung, welche auch bestätigen werde, dass es bislang zu fehlerhaften Prognosen für eine Rückkehr in den allgemeinen Arbeitsmarkt gekommen sei. Der Kläger sei wegen der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen erwerbsgemindert.

Das SG hat die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen befragt.

Die T1 hat in ihrer Stellungnahme vom 13.05.2024 erklärt, dass eine leichte körperliche Tätigkeit bezogen auf die internistischen Erkrankungen denkbar wäre. Da der Schwerpunkt der Einschränkungen durch psychiatrische sowie neurologische Erkrankungen verursacht werde, werde darum gebeten, die Stellungnahme des behandelnden Psychiaters einzuholen.

Der K2, der den Kläger wegen Rückenbeschwerden behandelt, ist in seiner Antwort vom 13.05.2024 von einem uneingeschränkten quantitativen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ausgegangen.

Die S1 vom Epilepsiezentrum K1 hat in ihrer Aussage vom 14.05.2024 ausgeführt, den Kläger nur ein einziges Mal behandelt zu haben. Zur quantitativen Leistungsfähigkeit könne sie sich daher nicht äußern.

Der B1 hat in seinem Schreiben vom 07.06.2024 erklärt, dass ihm eine Einschätzung zur Leistungsfähigkeit schwerfalle, da die psychischen Beeinträchtigungen in erster Linie mit wiederkehrenden Konflikten am Arbeitsplatz zusammenhingen und sich dieses Muster über die Jahre immer wieder wiederholt habe. Dabei spielten sicherlich auch Persönlichkeitsfaktoren eine Rolle. Kurzfristig könne es möglich sein, dass der Kläger nochmals eine leichte Tätigkeit über 6 Stunden täglich verrichte, allerdings sei wegen des bisherigen Verlaufs
davon auszugehen, dass sich bereits nach kürzerer Zeit erneut erhebliche Arbeitsplatzprobleme einstellen würden.

Das SG hat mit Schreiben vom 14.06.2024 darauf hingewiesen, dass die eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen den mit der Klage geltend gemachten Anspruch nicht stützen würden. Die Einschätzung von B1, wonach der Kläger persönlichkeitsbedingt zu Arbeitsplatzkonflikten neige, begründe keine Notwendigkeit weiterer Ermittlungen von Amts wegen.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schreiben vom 03.07.2024 ausgeführt, dass der Kläger seit dem Jahr 2013 unter Mobbing leide. Trotz rechtlicher Schritte des Klägers habe es keine Gerichtsverhandlungen hierzu gegeben. Am 15.06.2024 habe er erneut einen starken epileptischen Anfall erlitten. Er habe sich deswegen bei seiner Hausärztin gemeldet und das Epilepsiezentrum kontaktiert, um einen Überwachungsplatz zu beantragen. Er hat einen Bericht von B1 vom 28.07.2023 vorgelegt, in welchem dieser den Verdacht auf epileptische Anfälle geäußert hatte, sowie einen Bericht von K2 vom 18.06.2024.

Mit Schreiben vom 26.07.2024 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass der Kläger sich derzeit in stationärer Behandlung im Epilepsiezentrum K1 befinde und die Epilepsie unklarer Ätiologie zusammen mit den weiteren Gesundheitsstörungen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Klägers führe.

Das SG hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 15.08.2024 abgewiesen. Im Vordergrund stünden beim Kläger Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem Fachgebiet (Anpassungsstörung mit Somatisierung, Verdacht auf ein epileptisches Anfallsleiden). Dagegen träten die Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und internistischem Fachgebiet zurück und seien für die Beurteilung des Leistungsvermögens nicht von entscheidender Bedeutung. Dies ergebe sich aus den insoweit überstimmenden Einschätzungen aller vom Gericht befragter behandelnder Ärzte des Klägers. Die Erkrankungen auf nervenärztlichem Gebiet führten nicht zu einem in zeitlicher Hinsicht eingeschränkten Leistungsvermögen. Diese Feststellung stütze sich auf das schlüssige, nachvollziehbare und widerspruchsfreie Gutachten von L2, den damit übereinstimmenden Entlassungsbericht der Klinik A1 und die hiermit harmonierenden Aussagen der behandelnden Ärzte des Klägers im Gerichtsverfahren.

Ein Nachweis über die Zustellung des Gerichtsbescheids an den Prozessbevollmächtigten des Klägers liegt nicht vor.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am 26.08.2024 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) unter Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens eingelegt. Im Schriftsatz vom 03.07.2024 sei darauf hingewiesen worden, dass sich der Zustand des Klägers nicht gebessert, sondern sehr verschlechtert habe. Es sei ein weiterer schwerer epileptischer Anfall am 15.06.2024 ärztlich dokumentiert. Am 11.06.2024 sei ein weiterer Bandscheibenvorfall mit Schmerzen und Taubheitsgefühl im linken Bein und Verschlechterung der Beschwerden beim Sitzen, beim Liegen und beim langen Stehen diagnostiziert worden. Des Weiteren bestehe der Verdacht auf Frozen shoulder beidseits. Ein MRT beider Schultern stehe derzeit aus. Der Kläger rege daher eine weitere medizinische Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht an und behalte sich darüber hinaus die Stellung eines Antrages nach § 109 SGG bei gleichzeitiger Benennung eines Arztes seines Vertrauens vor. Soweit es der Beklagten nicht gelinge, für den Kläger eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu benennen, werde sie aufgefordert, den vorliegenden Anspruch anzuerkennen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 15.08.2024 sowie den Bescheid der Beklagten vom 05.07.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.02.2024 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger auf dessen Antrag vom 13.09.2022 Rente wegen Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Be-stimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt

            die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sowie die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid verwiesen. Für Versicherte, die ab dem 02.01.1961 geboren worden seien, sei die eingeschränkte Leistungsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit (dem sogenannten Bezugsberuf) nicht mehr von Bedeutung. Nach der Übergangsvorschrift (§ 240 SGB VI) komme eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nur noch für Versicherte in Betracht, die vor dem 02.01.1961 geboren worden seien. Für eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ergäben sich keine Anhaltspunkte, insofern sei auch die Nennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich.

Die Beklagte hat auf Anforderung des Senats einen aktuellen Versicherungsverlauf eingereicht.

Der Senat hat S2 mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens nach § 109 SGG beauftragt. In seinem am 11.02.2025 erstellten Gutachten hat S2 eine mäßig ausgeprägte Polyneuropathie diagnostiziert. Der psychische Befund sei unauffällig gewesen. Insbesondere habe er keine Hinweise auf das Vorliegen einer Depression gefunden. Der Kläger sei noch in der Lage, leichte Tätigkeiten 6 Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schreiben vom 19.03.2025 einen Befundbericht der Z1 vom 20.02.2025 über eine Behandlung des Klägers in der Notaufnahme des Klinikums L1 mit der Diagnose a. e. (am ehesten) idiopathische (ohne erkennbare Ursache) Fazialisparese rechts eingereicht und eine ergänzende Stellungnahme von S2 nach § 109 SGG beantragt.

S2 hat auf Antrag des Klägers zum Befundbericht vom 20.02.2025 mit Schreiben vom 01.05.2025, eingegangen bei Gericht am 12.05.2025, ergänzend Stellung genommen. Er hat ausgeführt, dass die Nervus facialis Lähmung als in der Regel vorübergehende Funktionsstörung auf die Erwerbsfähigkeit keine Auswirkung habe, insofern ändere sich auch die von ihm abgegebene Bewertung deswegen nicht.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtakten beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 05.07.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.02.2024 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, da zur Überzeugung des Senats nach eigener Prüfung und Würdigung des Sach- und Streitstoffs (vgl. § 157 SGG) eine rentenberechtigende Erwerbsminderung nicht festgestellt werden kann.

Ob dem Grunde nach Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit besteht, richtet sich nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der Normfassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.04.2007 (BGBl. I S. 554, 555). Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Über den Wortlaut des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI hinaus ist voll erwerbsgemindert, wer zwar noch drei bis unter sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein kann, aber nicht über einen entsprechenden leidensgerechten Arbeitsplatz verfügt (zur sog. Arbeitsmarktrente wegen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts vgl. BSG, Beschluss des Großen Senats vom 10.12.1976 – GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – juris, Rn. 72 f., 79; BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 22). Auf nicht absehbare Zeit besteht eine Einschränkung, wenn sie sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt (zu § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO vgl. BSG, Urteil vom 23.03.1977 – 4 RJ 49/76 – juris, Rn. 16 a.E.).

Der Eintritt der Erwerbsminderung unterliegt dem Vollbeweis. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG, Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – juris, Rn. 26, dazu auch im Folgenden). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Dies bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, a.a.O., m.w.N.). Kann sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Erwerbsminderung eingetreten ist, hat derjenige, der daraus Ansprüche ableitet, das Risiko der Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsache im Sinne einer objektiven Beweislast zu tragen.

Nach diesen Maßstäben steht für den Senat aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der Kläger in der Lage ist, zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wenigstens 6 Stunden täglich zu verrichten. Zwar liegen bei ihm gesundheitliche und daraus resultierende funktionelle Einschränkungen vor. Diese mindern seine berufliche Leistungsfähigkeit jedoch nur in qualitativer Hinsicht, schränken sein Restleistungsvermögen aber nicht auch quantitativ auf weniger als 6 Stunden täglich ein. Diese Überzeugung stützt der Senat auf das neurologisch-psychiatrischen Gutachten des Sachverständigen S2 vom 11.02.2025 sowie seine ergänzende Stellungnahme vom 01.05.2025 und das beklagtenseits eingeholte und für den Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertbare Gutachten der Psychiaterin L2 vom 24.04.2023.

Beim Kläger bestehen insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet eine Angststörung mit Somatisierung. Der Senat entnimmt dies dem schlüssigen und überzeugenden Sachverständigengutachten von L2 vom 24.04.2023. Hieraus resultieren zur Überzeugung des Senats qualitative Leistungseinschränkungen des Klägers, indem Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit, das Umstellungs- und Anpassungsvermögen, mit Verantwortung für Personen und Menschen, Publikumsverkehr, Überwachung und Steuerung komplexer Arbeitsgänge zu vermeiden sind. Auch diese Einschränkungen entnimmt der Senat den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen L2. Bei Beachtung der genannten Einschränkungen ist der Kläger noch ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten zu verrichten.

L2 hat in ihrem Gutachten vom 24.04.2023 im psychiatrischen Befund keine Störungen von Sprechverhalten, Bewusstsein, Orientierung, Auffassung, Konzentration, Psychomotorik oder Affektivität, keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen feststellen können. Der neurologische Befund war unauffällig. Das Gangbild war harmonisch. Die Untersuchung der Wirbelsäule ergab keinen Klopf- oder Druckschmerz und keinen paravertebralen Schmerz. Eine Einschränkung des Leistungsvermögens für leichte Tätigkeiten auf unter 6 Stunden ist nach dem Gutachten von L2 weder durch kognitive Einschränkungen noch durch schwerwiegende psychiatrische Befunde festzustellen. Eine höhergradige Antriebsminderung bzw. ein schwerwiegender sozialer Rückzug liegen nicht vor. Der Kläger verfügt im familiären Bereich noch über ausreichende soziale Kontakte und ist auch noch zu einer eigenständigen Alltagsstrukturierung in der Lage. L2 kommt auf der Grundlage dieser Befunde schlüssig zur Annahme eines vollschichtigen Leistungsvermögens für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Bestattungsordner sowie für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.

Diese sozialmedizinische Beurteilung wird gestützt durch das Gutachten des Wahlsachverständigen S2. Dieser führt im psychiatrischen Befund seines Gutachtens vom 11.02.2025 aus, dass weder eine Bewusstseins- oder Orientierungsstörung, noch eine hirnorganische Störung, noch mnestische Defizite oder eine psychomotorische Verlangsamung während der mehrstündigen Untersuchung feststellbar waren. Die Stimmung des Klägers war nach Haltung, Bewegung, Mimik, Sprechtempo und Prosodie (Ausdrucksmerkmale beim Sprechen) regelrecht heiter. Der Affektausdruck war mittellebhaft, das affektive Schwingungsvermögen regelrecht. Eine affektive Herabgestimmtheit oder eine Antriebshemmung lagen nicht vor. Die kognitiven Leistungen zeigten sich in den testpsychologischen Untersuchungen als weitgehend normentsprechend. Im Bereich der Schilderung der psychischen und körperlichen Beschwerden zeigte sich dagegen eine ausgeprägte Tendenz, Symptome und Missempfindungen zu bejahen, so dass diesen Angaben keine diagnostische Spezifität zukommen konnte. S2 kommt befundgestützt und überzeugend zum Ergebnis, dass bei unauffälligem psychiatrischem Befund die diagnostischen Kriterien für eine psychiatrische Diagnose, insbesondere eine depressive Störung, nicht erfüllt sind. Insofern hat sich im Vergleich zum Befund bei L2 eine Besserung eingestellt. Die von L2 noch diagnostizierte Angststörung mit Somatisierung war bei der Untersuchung durch S2 nicht mehr fassbar. Die Besserung wird auch durch die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung des Klägers im Massagestudio seiner Ehefrau seit September 2024 belegt. S2 kommt daher überzeugend zu der Einschätzung, dass der Kläger leichte Tätigkeiten arbeitstäglich 6 Stunden und mehr verrichten kann. Soweit der ambulant behandelnde B1 in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 07.06.2024 die Ansicht vertritt, dass bei der Verrichtung einer leichten Tätigkeit von 6 Stunden in kürzester Zeit Arbeitsplatzprobleme zum Tragen kämen, welche eine Weiterführung der Tätigkeit nicht möglich machten, überzeugt dies den Senat nicht. Trotz der wiederkehrenden Arbeitsplatzprobleme des Klägers zeigt die Beschäftigung des Klägers als Bürokraft im zeitlichen Umfang von 10 Stunden pro Woche im Massage-Studio seiner Ehefrau, dass dieser grundsätzlich zur Verrichtung von leichten Tätigkeiten in der Lage ist. Zudem hat B1 selbst auch mitgeteilt, dass seit dem 24.03.2023 eine gewisse Stabilisierung eingetreten sei, welche zur Verminderung der medikamentösen antidepressiven Therapie durch den Kläger geführt habe. Neue Befunde von erwerbsmindernder Relevanz enthält die Aussage von B1 nicht.

Der Bericht des Epilepsiezentrums K1 vom 13.09.2023 rechtfertigt ebenfalls nicht die Annahme einer Erwerbsminderung. Eine Epilepsie konnte nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. Als Alternative für das Anfallsereignis wurde auch eine Hypoglykämie bei Diabetes in Erwägung gezogen. Zudem ist dem Bericht zu entnehmen, dass es sei der Höherdosierung von Levetiracetam es zu keinen weiteren Ereignissen gekommen ist. Weitere Behandlungsberichte über die Epilepsie liegen nicht. Die behandelnde T1 konnte in ihrer sachverständigen Zeugenaussage vom 13.05.2024 gegenüber dem SG keine Verschlechterung des Diabetes mitteilen. Der K2 hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG lediglich qualitative Leistungseinschränkungen durch die LWS-Beschwerden mitgeteilt. Leichte Tätigkeiten seien noch ohne Gefährdung der Gesundheit 6 Stunden arbeitstäglich möglich. Die anlässlich der notfallmäßigen Vorstellung des Klägers am 20.02.2025 im Klinikum L1, Zentrale Notaufnahme, diagnostizierte idiopathische Fazialisparese rechts wurde durch die Gabe von Prednisolon behandelt und rechtfertigt auch nach der Ansicht des Gutachters S2 nicht die Annahme einer dauerhaften zeitlichen Leistungsminderung. Dies gilt auch für die Polyneuropathie, welche nach dem Gutachten von S2 die Verrichtung von leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht ausschließt.

Ob dem Kläger ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nicht erheblich. Denn die jeweilige Arbeitsmarktlage ist gemäß § 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI nicht zu berücksichtigen. Das Bundessozialgericht geht weiterhin vom Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes aus (BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 26). Es hält daran fest, dass Versicherte, die nur noch körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – wenigstens 6 Stunden täglich verrichten können, regelmäßig in der Lage sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig zu sein (vgl. BSG, a.a.O.; BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Im vorliegenden Fall ist der Kläger, wie vorstehend dargelegt, mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen trotz qualitativer Einschränkungen in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens 6 Stunden zu verrichten.

Ein Rentenanspruch ergibt sich auch nicht ausnahmsweise daraus, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts wegen eines nur eine Teilzeit erlaubenden Erwerbsvermögens oder wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw. einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung keine Tätigkeit finden würde (vgl. dazu nur BSG, Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 - GS 2/95, BSGE 80, S. 24 ff.; Urteil vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R -, Breith. 2005, S. 309 ff; Bay. LSG, Urteil vom 14.05.2009 – L 14 R 377/08 -, juris, alle m.w.N.). Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit in diesem Zusammenhang insbesondere auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die dem Versicherten dies nicht erlaubt, stellt eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, dass der Arbeitsmarkt trotz eines vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (BSG, Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 - GS 2/95 - juris). Eine Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass ein Versicherter gehindert ist, vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Meter mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Den Gutachten von L2 und S2 entnimmt der Senat eine ausreichend erhaltene Wegefähigkeit des Klägers. Die übrigen Leistungseinschränkungen des Klägers sind nicht außergewöhnlich, so dass ebenfalls keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und insbesondere das Sachverständigengutachten von S2 sowie das im Wege des Urkundsbeweises verwertbare Gutachten von L2 haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI, da er nicht vor dem 02.01.1961, sondern im Jahr 1967 geboren ist.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.



 

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