Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 16.03.2023 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 160.613,14 € festgesetzt.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen seine Verurteilung zur Zahlung von 160.613,14 € als Erstattungsanspruch für Sozialhilfeleistungen, die die Klägerin für Q. A. C., geb. 00.00.0000, (Leistungsberechtigter) im Jahr 2017 aufgewendet hat.
Bei dem Leistungsberechtigten besteht ein Fetales-Alkohol-Syndrom (FAS), das zu einer Intelligenzminderung, Impulskontrollstörungen und anderen massiven Verhaltensauffälligkeiten führt. In einem Befundbericht der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie Plaza vom 01.02.2015 wurde bei dem Leistungsberechtigten ein sprachgebundener IQ von 54 und ein nichtsprachgebundener IQ von 90 festgestellt. In einer psychologischen Intelligenzdiagnostik des V. I. M. und T. vom 09.12.2015 wurde ein Gesamt IQ von 81 gemessen.
Von 2015 bis 2023 wurde intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII in Form der Heimerziehung durch das Y. M. und T. gGmbH in der Z. „X.“ erbracht. Gleichzeitig erfolgte eine systemische Familientherapie durch die psychotherapeutische Praxis J.. Ab September 2016 wurde aufgrund zunehmender Aggressivität des Leistungsberechtigten zusätzlich ambulante Eingliederungshilfe (Schulbegleitung) durch die Fa. U. gGmbH erbracht. 2017 kamen „ambulante flexible Hilfen“ durch die pädagogische Praxis F. hinzu. Für die Leistungen an den Leistungsberechtigten wandte die Klägerin im Jahr 2017 abzüglich des angerechneten Kindergeldes der Kindesmutter insgesamt 160.613,14 € auf.
Eine IQ-Testung am 04.03.2019 in der Tagesklinik O. kam zu dem Ergebnis, dass bei dem Leistungsberechtigten ein IQ von 65 bestehe, weshalb die Klägerin für den Leistungsberechtigten eine Zuständigkeit des Beklagten nach dem SGB XII annahm.
Mit Schreiben vom 19.01.2021 meldete die Klägerin einen Erstattungsanspruch für die 2017 aufgewendeten Leistungen iHv 160.613,14 € bei dem Beklagten an. Weder hierauf noch auf die Aufforderung, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten, reagierte der Beklagte.
Am 30.12.2021 hat die Klägerin gegen den Beklagten bei dem Sozialgericht Duisburg Klage auf Zahlung von 160.613,41 € erhoben. Sie hat sich auf § 104 SGB X gestützt. Der Leistungsberechtigte sei 2017 gem. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII leistungsberechtigt nach dem SGB XII gewesen, da er mit einem IQ von 65 wesentlich geistig behindert gewesen sei. Der Beklagte sei dafür zuständiger Leistungsträger. Die Ausschlussfrist des § 111 SGB X sei gewahrt, da die Frist erst mit dem Ende der Gesamtmaßnahme beginne, die weiterhin andauere.
Die Klägerin hat beantragt:
„den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die in Sachen Q. A. C. in dem Zeitraum vom 01.01. bis zum 31.12.2017 entstandenen Aufwendungen iHv 160.613,14 € zu erstatten“.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist dem Zahlungsanspruch entgegengetreten und hat sich u.a. auf § 111 SGB X berufen. Aufgrund des Wechsels der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zur Eingliederungshilfe nach dem SGB IX sei die 2007 begonnene Gesamtleistung zum 31.12.2019 beendet worden (Bezugnahme auf BSG Urteil vom 28.01.2021 – B 8 SO 9/19 R). Die Leistungen ab dem 01.01.2020 seien als neue Leistung anzusehen. Der Erstattungsanspruch sei mit dem am 22.01.2021 bei dem Beklagten eingegangenen Schreiben nicht fristgemäß geltend gemacht worden.
Mit Urteil vom 16.03.2023, dem Beklagten zugestellt am 02.05.2023, hat das Sozialgericht den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Die Klägerin habe gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Erstattung von 160.613,14 €, die sie für die Unterbringung, die Integrationshilfe sowie die ambulanten Leistungen in 2017 an den Hilfeempfänger aufgewendet habe. Der Anspruch ergebe sich aus § 104 SGB X. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien erfüllt und der Erstattungsanspruch sei nicht nach § 111 SGB X ausgeschlossen. Die Ausschlussfrist stelle auf den Ablauf des letzten Tages ab, für den die Leistung erbracht wurde. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei der Lauf der Ausschlussfrist nicht durch das Inkrafttreten des Rechts der Eingliederungshilfe nach Teil 2 des SGB IX am 01.01.2020 in Gang gesetzt worden. Auf den Leistungsbegriff des § 111 SGB X wirke sich das Inkrafttreten des neuen Eingliederungshilferechts nicht aus.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten vom 12.05.2023. Der Beklagte bestreitet ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen das Bestehen eines IQ von nur 65 bei dem Leistungsberechtigten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 16.03.2023 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie meint ergänzend, der Leistungsberechtigte sei mit dem in der Klinik O. 2019 festgestellten IQ von 65 als geistig behindert iSd § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII anzusehen, woraus sich die Zuständigkeit des Beklagten als Eingliederungshilfeträger ergebe.
Der Senat hat zur Frage des IQ des Leistungsberechtigten im Jahre 2017 eine Stellungnahme des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie D. vom 29.12.2024 eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die übrige Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Klägerin, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, an die Klägerin 160.613,14 € zu zahlen. Der Beklagte schuldet diesen Betrag nicht.
Ein Erstattungsanspruch ergibt sich namentlich nicht aus § 104 SGB X. Zwar hat das Sozialgericht zutreffend ausgeführt, dass eine Leistungszuständigkeit nach § 14 Abs. 2 SGB IX eine nachrangige Zuständigkeit iSd § 104 SGB X begründen kann (BSG Urteil vom 04.04.2019 – B 8 SO 11/17 R). Unabhängig von dem vom Sozialgericht mit überzeugender Argumentation verneinten Fristablauf nach § 111 SGB X scheitert ein Erstattungsanspruch jedoch, weil der Beklagte nicht verpflichteter Leistungsträger iSd § 104 SGB X ist.
Gem. § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung) gehen die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem SGB XII vor. Davon abweichend gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, gem. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung) den Leistungen nach dem SGB VIII vor.
Der Leistungsberechtigte war 2017 nicht geistig behindert und eine solche Behinderung drohte auch nicht. Nach dem Diagnoseschlüssel ICD 10 F 70 (leichte Intelligenzminderung) besteht bei einem IQ im Bereich von 50 bis 69 eine leichte geistige Behinderung (hierzu nur Urteil des Senats vom 04.11.2021 – L 9 SO 190/19; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.02.2016 - L 20 SO 476/12). Diese Abgrenzung gilt auch für Menschen mit einem FAS (OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 29.09.2014 – 12 E 774/14). Dieses stellt trotz der hirnorganischen Beteiligung bei einem IQ von 70 und mehr eine seelische, nicht eine geistige Behinderung dar (dazu OVG Lüneburg Beschluss vom 14.02.2024 – 14 ME 128/23; OVG Saarland Beschluss vom 27.07.2022 – 2 B 107/22).
In seiner Stellungnahme vom 29.12.2024, die der Senat im Wege des Sachverständigenbeweises verwertet, hat der Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie D. ausgeführt, dass er das Testergebnis aus dem Jahr 2019 mit einem Gesamt-IQ 65 für falsch-niedrig und das Testergebnis des Jahres 2015 für zutreffend, zumindest zutreffender als das Ergebnis aus 2019 hält. Von den vorliegenden Testungen sei die Testung im Dezember 2015 als die zutreffendste zu betrachten. Da ein degenerativer hirnorganischer Prozess des Leistungsberechtigten nicht beschrieben sei, sei davon auszugehen, dass eine entsprechende gültige IQ-Testung 2017 ein ähnliches Ergebnis ergeben hätte, wie 2015. Das valide Ergebnis der IQ-Testung von Dezember 2015 liege mit einem Gesamt-IQ iHv 81 vor.
Der Senat folgt diesen Ausführungen. Der Arzt ist als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie kompetent für die Beantwortung der maßgeblichen Frage und setzt sich ausführlich und mit eingehender Begründung mit dem abweichenden Ergebnis aus 2019 auseinander. Der Beweiswert der Stellungnahme wird erhöht dadurch, dass der Arzt von einer anderen Einschätzung seines eigenen Hauses abweicht und damit seine besondere Neutralität unterstreicht.
Die Einwendungen der Klägerin erschüttern das Beweisergebnis nicht. Sie bezieht sich auf Hinweise des VG Düsseldorf im Rechtsstreit 19 K 7774/20, wonach es möglich sei, dass ein IQ Schwankungen unterliege. Auf Grund der sich zuspitzenden Probleme bei der Betreuung des Leistungsberechtigten und der altersbedingt wachsenden Anforderungen sei im streitgegenständlichen Zeitraum schon von einem niedrigeren IQ-Wert als dem im Dezember 2015 festgestellten Wert von 81 auszugehen, jedenfalls aber von einer drohenden geistigen Behinderung im Hinblick auf die mit dem Lebensalter steigenden Anforderungen. Die Fachkräfte der Einrichtung, die den Leistungsberechtigten täglich erlebt haben, seien bereits im Entwicklungsbericht vom 22.03.2017 von einer geistigen Behinderung ausgegangen. Aus der Sicht der Klägerin bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass zum Zeitpunkt der Testung im Februar 2019 eine unzureichende Medikation vorgelegen haben könnte.
Der Hinweis auf die Darlegungen des VG Düsseldorf verfängt indes nicht, weil sich diese gerade auch auf die Verneinung einer geistigen Behinderung beziehen. Der Umstand, dass ein IQ Schwankungen unterliegen kann, dürfte zutreffen, steht aber den Ausführungen von Herrn D. nicht entgegen. Der niedrige IQ bei der Testung am 04.03.2019 kann dennoch ein nicht repräsentativer Wert gewesen sein, der die tatsächlichen geistigen Fähigkeiten des Leistungsberechtigten nicht widerspiegelt. Insgesamt liegen bei dem Leistungsberechtigten zwar deutliche geistigen Einschränkungen vor, diese erreichen in der Gesamtschau der durchgeführten Feststellungen zum IQ jedoch nicht das Ausmaß einer geistigen Behinderung.
Bei dem Leistungsberechtigten lag auch keine drohende geistige Behinderung vor. Nach der in § 53 Abs. 2 SGB XII (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung) enthaltenen Legaldefinition sind von einer Behinderung bedroht Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Erforderlich ist eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 % (BVerwG Urteil vom 26.11.1998 – 5 C 38/97). Eine solche war nicht gegeben, denn nach den Ausführungen des Sachverständigen D. lagen kein degenerativer hirnorganischer Prozess und damit auch keine hohe Wahrscheinlichkeit vor, dass sich daraus eine geistige Behinderung entwickelt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 und 3 SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertentscheidung beruht auf § 197a Abs. 3 und Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Der Streitwert der Berufung entspricht dem Betrag, zu dessen Zahlung der Beklagte verurteilt worden ist.
Gründe, gem. § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben.