L 12 AS 422/25 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 493/25 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 422/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund (SG) vom 18.03.2024 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 18.11.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2025 wird für den Zeitraum von Dezember 2024 bis Juni 2025 angeordnet.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten der Antragstellerinnen in beiden Rechtszügen.

 

Gründe:

I.

Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen einen Beschluss des SG, das ihren Eilantrag gerichtet auf die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) abgelehnt hat.

 

Die 00.00.0000 geborene Antragstellerin zu 1) ist belarussische Staatsangehörige und Inhaberin einer Aufenthaltserlaubnis, befristet bis zum 19.02.2026, die ihr die Erwerbstätigkeit erlaubt. Sie ist seit dem 03.02.2021 mit Q. L. verheiratet. Sie haben eine gemeinsame am 00.00.0000 geborene Tochter N., die Antragstellerin zu 2). Bei der Polizei T. wird Q. L. seit dem 30.01.2024 mit einer Vermisstenanzeige gesucht.

 

Die Antragstellerinnen bezogen zuvor Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter S. (Aufhebungsbescheid vom 18.06.2024 ab Juli 2024). Sie zogen im Juni 2024 von T. nach F. in die D.-straße und schlossen einen Mietvertrag mit J. über eine Wohnung mit zwei Zimmern, Küche, Bad ab 01.06.2024 zu 500 € Kaltmiete und 150 € Nebenkosten pauschal.

 

Bereits im Mai 2024 beantragten sie Leistungen nach dem SGB II vom Antragsgegner. Dieser bewilligte mit Bescheid vom 09.07.2024 Leistungen von Juli 2024 bis Juni 2025 i.H.v. monatlich zuletzt 1.696,52 €.

 

Am 26.09.2024 ging ein Schreiben beim Antragsgegner ein, der das Datum 18.09.2022 und als Absender den Namen Q. L. (wohnhaft C.-straße in T.) trug. Der angelbliche Verfasser teilte mit, dass er mit der Antragstellerin zu 1) verheiratet sei, er über ausreichendes Einkommen verfüge und seine Ehefrau gerne über ihre Verhältnisse lebe und eine Neigung habe, sich Sozialleistungen zu erschleichen, um sich Schmuck und teure Reisen leisten zu können. Sie habe in F. eine zusätzliche Wohnung angemeldet.

 

Der Ermittlungsdienst des Antragsgegners stellte im Rahmen einer Ortsbesichtigung am 12.11.2024 fest, dass die Klingeln am Haus D-Straße, F. mit „Familie E.“ und dem Namen „P. L.“ beschriftet war. Die dort angetroffene Antragstellerin zu 1) habe erklärt, dass das Haus von J. und seiner Mutter sowie ihr und ihrer Tochter bewohnt werde. Die Küche werde gemeinsam genutzt, sie verfüge über ein eigenes Bad und ein eigenes Schlafzimmer. Es gebe auch einen eigenen Hauszugang. Die Zubereitung der Mahlzeiten und das Einkaufen der Lebensmittel nehme sie selbst für sich und ihre Tochter vor. Der Ermittlungsdienst des Antragsgegners stellte im Rahmen einer weiteren Ortsbesichtigung am 10.12.2024 fest, dass man über einen Seiteneingang direkt in den Schlafraum gelange. Dieser sei mit einem Bett sowie einem Kinderbett, einem Kleiderschrank, einem Schreibtisch mit sehr gehobener PC-Ausstattung sowie einem niedrigen Wohnzimmerschrankwandunterteil mit Flachbildschirmfernseher ausgestattet. In diesem Raum seien – teilweise unterm Putz – auch Anschlüsse für eine Küchenzeile vorhanden. Die Antragstellerin zu 1) habe erklärt, der PC gehöre dem Sohn des Vermieters und in dem Kleiderschrank befänden sich ausschließlich dessen Kleidungsstücke; ihre Kleidung befände sich woanders – später konkretisiert auf das Schlafzimmer der Mutter des Vermieters. Im Flur befand sich ein Hochschrank mit Jacken und Kindersachen. Der Antragsgegner stellte fest, dass eine klare Lebensmitteltrennung im Kühlschrank nicht ersichtlich gewesen sei und Lebensmittel für klassisches Frühstück oder Abendbrot in Form von Butter oder Aufschnitt fehlten. Im Wohnzimmer habe sich ein rosafarbenes Kinderauto der Antragstellerin zu 2) befunden. Die Antragstellerin zu 1) habe erklärt, dieses mitbenutzen zu können und dass es auch nur ein gemeinsames Bad im Haus gebe. Nach Auffassung des Antragsgegners verfügten die Antragstellerinnen nicht über einen eigenen abgeschlossenen Bereich. Die Antragstellerin zu 1) habe angegeben, den Vermieter vorher nicht gekannt zu haben und der Kontakt über ein Mädchen zustande gekommen sei, weil der Vermieter bereits früher Menschen aus der Ukraine geholfen habe. Der Vermieter habe nach der Trennung von seiner Ehefrau die Absicht gehabt, das Haus umzubauen und eine Einliegerwohnung abzutrennen. Hierzu sei es bislang nicht gekommen. Sie glaube, dass ihr Ehemann von einer Familie U. ermordet worden sei, weshalb sie T. verlassen habe.

 

Die Antragstellerin zu 1) bezieht für die Antragstellerin zu 2) monatlich Kindergeld i.H.v. 250 €, ab 2025 € 255 € sowie Unterhaltsvorschuss i.H.v. 230 €, ab 2025 i.H.v. 232 €.

 

Mit „Ablehnungsbescheid“ vom 18.11.2024 hob der Antragsgegner die Leistungsbewilligung ab dem 01.12.2024 auf. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Hilfebedürftigkeit. Auf den eingereichten Kontoauszügen seien keine Mietzahlungen ersichtlich, dafür mehrere – nicht bekanntgegebene – Auslandsaufenthalte. Sie habe keine abgeschlossene Wohnung angemietet, weshalb davon auszugehen sei, dass sie zusammen mit Herrn E. und seiner Mutter wirtschafte und somit der Verdacht einer Bedarfsgemeinschaft bestehe. Es seien auch Zuwendungen von Herrn und Frau E. auf den Kontoauszügen ersichtlich.

 

Die Antragstellerinnen legten am 21.11.2024 Widerspruch ein. Es bestehe keine Bedarfsgemeinschaft. Sie seien hilfebedürftig und die Antragstellerin zu 1) sei eine alleinerziehende Mutter. Ihr Ehemann werde weiterhin vermisst. Sie sei dieses Jahr nach K. geflogen, weil sie dort ein Gerichtsverfahren wegen der Entführung ihres 0000 geborenen Sohnes V. durch ihren Exmann führe. Der weitere Auslandsaufenthalt sei eine viertägige Bustour nach Frankreich gewesen und ihr sei nicht klar gewesen, dass dies ein Problem darstelle. In beiden Fällen habe sie bei Freunden übernachtet. Ihre Tochter nehme sie mit, weil sie in Deutschland keine Betreuung habe. Die Fahrtkosten habe sie aus den SGB-II-Leistungen beglichen. Sie miete eine abgeschlossene Wohnung mit einem separaten Außeneingang. Sie nutze die Küche von Herrn E., weil sie sich keine eigene leisten könne und die Zimmereinteilung im Umbau sei. Sie erhalte keine Zuwendungen der Familie E.. Sie habe sich zum Einzug mehrfach Geld geliehen und in bar zurückgegeben. Herr E. sei Eigentümer des Hauses. Seine Mutter sei vor einem Monat eingezogen, weil ihre Wohnung aufgelöst worden sei. Herr E. sei überwiegend außer Haus. Sie sei in einer Notlage.

 

Der Antragsgegner wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.01.2025 als unbegründet zurück. Er ziehe zurück, dass keine Mietzahlungen auf den Kontoauszügen ersichtlich seien; diese seien direkt an den Vermieter überwiesen worden. Der eingereichte Grundriss der Unterkunft mit den angeblich von ihr bewohnten Räumlichkeiten sowie mit dem angeblich eigenständigen Seitenzugang im Haus weiche erheblich von der tatsächlich während der Begehung vorgefundenen Situation ab. Ein eigener, abgeschlossener Wohnbereich habe nicht festgestellt werden können. Es bestünden erhebliche Zweifel an einer Bedürftigkeit.

 

Der Vermieter kündigte das Mietverhältnis mit Schreiben vom 19.12.2024 zum 28.02.2025.

 

Die Antragstellerinnen haben am 24.01.2025 ein Rechtsschutzbegehren vor dem SG erhoben, zu welchem sie später klargestellt haben, dass es sich sowohl um eine Klage als auch einen Eilantrag handeln soll.

 

Die Leistungsbewilligung sei seit Dezember 2024 aufgehoben worden. Sie lebten in einer Wohngemeinschaft, seien aber auf Wohnungssuche. Der Ehemann und Vater Q. L. werde vermisst, es liege eine Vermisstenanzeige vor. Sie seien im Rückstand mit der Miete und gekündigt worden. Der Umbau zur Einliegerwohnung sei aufgrund der fehlenden Mietzahlungen des Antragsgegners gestoppt worden. Es bestehe eine Notlage, weil sie lediglich von Kindergeld und Unterhaltsvorschuss lebten. Im August 2025 habe die Antragstellerin zu 2) einen Kitaplatz, weshalb sie erst dann eine Stelle annehmen könne. In Deutschland seien sie mangels Verwandtschaft komplett auf sich allein gestellt. 

 

Der Antragsgegner hat dem entgegengehalten, die Antragstellerin zu 1) veröffentliche auch nach Einstellung der Leistungsgewährung (ab 01.12.2024) frei zugänglich diverse Bilder mit Anmerkungen auf Instagram. So z.B. am 04.02.2025 mit Hinweis auf einen am Donnerstag anstehenden Flug zusammen mit ihrer Tochter. Am 17.02.2025 sei ein Post mit dem Hinweis auf eine Fahrt in einen Schönheitssalon mit Botox-Behandlung erfolgt. Woher die entsprechenden finanziellen Mittel, vor allem die Auslandsaufenthalte mit Flug, stammten, erschließe sich nicht. Hierüber seien Nachweise, ebenso weitere Kontoauszüge und Nachweise über die Fonds-Rentenversicherung zu übersenden.

 

Das SG hat die Antragstellerinnen mit Verfügung vom 27.02.2025 u.a. aufgefordert vollständige Kontoauszüge und Lohnbescheinigungen der vergangenen vier Monate, Nachweise über erfolgte Reisen und Auslandsaufenthalte mit Erläuterung zur Finanzierung, Nachweise über Darlehen, Mietrückstände und Kündigungen einzureichen.

 

Das SG hat den Eilantrag mit Beschluss vom 18.03.2025 abgelehnt. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht worden, weil die angeforderten Unterlagen nicht eingereicht worden seien.

 

Die Antragstellerin hat im Anschluss mitgeteilt, dass sie die Bustickets nach G. direkt bezahlt und keine Belege habe. Die Flugtickets nach K. i.H.v. 416,50 € habe sie bezahlt. Ihre Reise über Minsk zu ihren Eltern hätten diese bezahlt. Ihre Freundinnen hätten vom 07.02.-12.02.2025 eine Reise nach K. organisiert und ihr 200 € geschenkt, damit sie sich etwas Gutes tun könne. Deshalb habe sie im Februar die Botox-Behandlung (100 €) sowie eine Zahnreinigung (94,86 €) gemacht. Die Rentenversicherung sei im September 2024 für die Tochter abgeschlossen worden und koste monatlich 75 €.

 

Gegen den am 21.03.2025 zugestellten Beschluss haben die Antragstellerinnen unter Beantragung von Prozesskostenhilfe am 26.03.2025 Beschwerde erhoben. Sie hätten alle Unterlagen eingereicht und befänden sich in einer Notlage. Die Antragstellerin zu 1) habe ihre belarussische Fahrerlaubnis übersetzen und ein Bußgeld i.H.v. 450 € zahlen müssen. Gelegentlich erhalte sie Unterstützung von ihrer Mutter; diese habe jedoch auch ihre eigene Familie und Geldüberweisungen nach Deutschland seien praktisch unmöglich. Sie habe wertvollen Schmuck verkaufen müssen. Die Familie E. habe sie nur zweimal unterstützt und sie habe auch Geld zurücküberwiesen. Eine Beitragsbefreiung für die FondsRente sei nicht möglich. Herr E. habe ihr in O. bei der Klärung persönlicher Angelegenheiten und dem Transport von Gegenständen geholfen. Die von Herrn E. veranlasste Überweisung diente ausschließlich dem Erwerb von Flugtickets für ihn selbst. Die eigenen Tickets habe sie selbst bezahlt. Der Überweisungsbetreff „Y." beziehe sich auf die Antragstellerin zu 2) und sei rein privater Natur. Das Klettergerüst habe Herr E. für seine drei leiblichen Kinder, die ihn am Wochenende besuchten, angeschafft.

 

Die Antragstellerinnen haben keinen Antrag gestellt.

 

Der Antragsgegner hat beantragt,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Es bestünden weiterhin Zweifel an der Bedürftigkeit. Trotz Einstellung der Leistungen werde die Zahlung der Fonds-Rente i.H.v. monatlich 75 € nicht eingestellt. Gleiches gelte für einen Dauerauftrag an das Amtsgericht Hagen i.H.v. 75 €. Die Antragstellerin werde durch die Mutter und die Familie E. unterstützt, was jedenfalls der Annahme eines Anordnungsgrundes entgegenstehe. Für Unterkunftskosten bestehe dieser ohnehin erst ab Erhebung einer Räumungsklage. Es bestehe auch der Verdacht, dass Herr E. die Antragstellerin im Herbst 2024 nach O. begleitet habe, da für diesen ein Visum gebucht worden sei. Die von Herrn E. bei seiner Überweisung verwendete Bezeichnung „Y.“ bedeute auf Deutsch „kleine süße Puppe“ und auf einen Menschen bezogen „Schatzi, Liebling, Schätzchen“. Es sei nicht nachvollziehbar, warum man sich in einer finanziellen Notlage einer Botoxbehandlung und einer Zahnreinigung unterziehe. Auf einem Instagramfoto der Antragstellerin zu 1) sei im Hintergrund ein Kletterturm für Kinder im Garten zu sehen. Es sei davon auszugehen, dass es sich um das Grundstück des Vermieters handele und die Antragstellerin zu 2) dieses nutze. In einem schlichten Mietverhältnis schaffe der Vermieter für das Kind seiner Mieterin kein derartiges Bauwerk in seinem Garten an. Dies untermauere das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft.

 

Die A. Krankenkasse hat die Antragstellerin zu 1) mit Schreiben vom 10.04.2025 zur Zahlung aufgefordert. J. hat mit Schreiben vom 22.04.2025 erklärt, dass sie in einer Wohngemeinschaft lebten und die Annahmen des Antragsgegners reine Fantasie seien.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

II.

Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des SG ist zulässig und begründet.

 

1. Das SG hat bereits verkannt, dass Antragstellerinnen des Eilverfahrens von Beginn an nicht nur die im Rubrum des SG genannte Antragstellerin zu 1), sondern auch ihre Tochter war. Dem steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin zu 1) vor dem SG nicht ausdrücklich ein Eilverfahren auch im Namen ihrer Tochter erhoben, sondern lediglich selbst unterschrieben hat. Denn diese Prozesshandlung ist der Auslegung zugänglich. Maßstab der Auslegung von Prozesserklärungen und des sich daraus ergebenden Begehrens ist der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten (vgl. BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 17/13 R – juris Rn. 18). Es ist der wirkliche Wille des Beteiligten zu erforschen. Dabei ist nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falls, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl. BSG Urteil vom 14.06.2018 – B 9 SB 2/16 R – juris Rn. 12). Diese Auslegung ergibt, dass die Durchsetzung des Leistungsanspruchs für die Antragstellerin und ihre Tochter bereits Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens war. Die Antragstellerin zu 1) wandte sich gegen einen Bescheid, mit dem der Leistungsanspruch für sie und ihre Tochter aufgehoben wurde. Die Antragstellerin zu 1) hat in ihrer Antragsschrift auch ausdrücklich darauf hingewiesen, alleinerziehend mit ihrer Tochter zu leben und sich in einer Notlage zu befinden. „Sie“ lebten nur von Kindergeld und Unterhaltsvorschuss. „Sie“ hätten kein Vermögen oder Einkünfte. „Sie“ seien auf sich alleine gestellt. Das Schreiben endet mit dem Aufruf, „Ihnen“ zu helfen. Alleine eine Auslegung des Antrags dahingehend, dass auch die Tochter von der Klage bzw. dem einstweiligen Rechtschutzgesuch umfasst sein sollte, entspricht dem interessengerecht ausgelegten Rechtsschutzbegehren der Antragsteller im vollem Umfang und war offenkundig. Da die subjektive Antragshäufung bereits bei Antragserhebung bestand, liegt keine an den Grundsätzen des § 99 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu messende Antragsänderung vor, die damit auch nicht von der Zustimmung des Antragsgegners abhängig gewesen ist. Das Rubrum wurde von Amts wegen berichtigt.

 

2. Darüber hinaus hat das SG ebenfalls das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerinnen grob verkannt. Der vom SG geprüfte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unstatthaft. Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die am gleichen Tag mit dem Eilantrag erhobene Anfechtungsklage gegen den zwar als Ablehnungsbescheid bezeichneten, in seinem Verfügungssatz jedoch eine Aufhebung regelnden Bescheid vom 18.11.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2025 hat gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist gegenüber dem Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung vorrangig, vgl. § 86b Abs. 2 S. 1 SGG. Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 18.11.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2025 würde die ursprüngliche Leistungsbewilligung in dem Bescheid vom 09.07.2024 für die Zeit von Dezember 2024 bis Juni 2025 i.H.v. monatlich 1.696,52 € wiederaufleben und damit dem Rechtschutzbegehren der Antragstellerinnen entsprochen.

 

3. Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses der Antragstellerin, die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse) mit dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners vorzunehmen. Die aufschiebende Wirkung ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für die Antragstellerin eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da § 39 Nr. 1 SGB II das Vollzugsrisiko bei Bescheiden, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben bzw. zurückzunehmen, grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Maßgebend ist, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (vgl. LSG NRW Beschluss vom 08.07.2022 – L 7 AS 752/22 B ER – juris, m.w.N.). Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 12 f.). Bei der Interessensabwägung ist neben den Erfolgsaussichten in der Hauptsache von besonderer Bedeutung, ob eine Dringlichkeit für das im Eilverfahren geltend gemachte Begehren vorliegt (LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 11.12.2017 – L 1 AS 4157/17 ER-B – juris Rn. 2).

 

Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage wird der Aufhebungsbescheid vom 18.11.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2025 in der vorliegenden Form voraussichtlich keinen Bestand haben, weshalb die für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu fordernden Erfolgsaussichten der anhängigen Klage bestehen und das Interesse der Antragstellerinnen an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage das Aussetzungsinteresse des Antragsgegners überwiegt.

 

Weder aus dem Aufhebungsbescheid vom 18.11.2024 noch aus dem Widerspruchsbescheid vom 17.01.2025 ergibt sich, auf welche Rechtsgrundlage der Antragsgegner seine Aufhebungsentscheidung stützen wollte. Da weder eine Anhörung noch Ausführungen zu den besonderen Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) in den Bescheiden vorhanden sind, geht der Senat davon aus, dass der Antragsgegner eine auf § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X gestützt Leistungsaufhebung vornehmen wollte. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft liegen jedoch nicht vor.

 

Mit Bescheid vom 09.07.2024 bewilligte der Antragsgegner für die Zeit von Juli 2024 bis Juni 2025 Leistungen nach dem SGB II. Dabei ging der Antragsgegner davon aus, dass die Antragstellerin zu 1) mit J. keine Bedarfsgemeinschaft bilde und berücksichtige auch dessen Einkommen und Vermögen nicht.

 

Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung lässt sich nicht feststellen, dass bezogen auf die für diese Annahme maßgeblichen Verhältnisse eine Änderung eingetreten ist. Weder dem Vorbringen des Antragsgegners noch dem sonstigen Akteninhalt sind Tatsachen zu entnehmen, die darauf schließen lassen, dass zwischen der Antragstellerin zu 1) und J. zwar am 09.07.2024 noch keine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II bestanden haben könnte, eine solche sich aber im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 18.11.2024 ergeben hätte.

 

Zur Bedarfsgemeinschaft gehört nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II als Partnerin des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Person, die mit der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Es müssen demnach drei Merkmale kumulativ gegeben sein: Bei den fraglichen Personen muss es sich um Partner handeln (1.), die in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben (objektive Voraussetzung, 2.), und zwar so, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (subjektive Voraussetzung, 3.) (vgl. BSG Urteil vom 12.10.2016 – B 4 AS 60/15 R – juris Rn. 25).

 

Das vom Gesetz geforderte subjektive Element – den nach verständiger Würdigung anzunehmenden wechselseitigen Willen der Partner, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen – wird nach § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II vermutet, wenn die Partner länger als ein Jahr zusammenleben. Bereits dies kann nicht festgestellt werden, da die Antragstellerinnen erst zum Juli 2024 in das Haus des J. eingezogen sind. Darüber hinaus muss das Vorliegen einer Partnerschaft und das Leben in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft gesondert festgestellt werden. Für eine solche Feststellung fehlt es bezogen auf eine Änderung der Umstände zwischen Erlass des Bewilligungsbescheides und Erlass des Aufhebungsbescheides an geeigneten Anknüpfungstatsachen.

 

Von dem Bestehen einer Partnerschaft ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG (Urteil vom 17.11.1992 – 1 BvL 8/87 – juris Rn. 92) auszugehen, wenn eine gewisse Ausschließlichkeit der Beziehung gegeben ist, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt. Zudem muss zwischen dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und dem Dritten die grundsätzliche rechtlich zulässige Möglichkeit der Heirat bzw. Begründung einer Lebenspartnerschaft nach dem Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft bestehen (vgl. BSG Urteil vom 23.08.2012 – B 4 AS 34/12 R – juris Rn. 20). Zum Charakter der Beziehung zwischen der Antragstellerin zu 1) und J. hat der Antragsgegner schlichtweg keine Feststellungen getroffen, sondern sich lediglich zu „Vermutungen“ über das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft geäußert. Dabei verkennt er, dass das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft das Ergebnis einer rechtlichen Würdigung aufgrund mehrerer Tatsachen ist. Angesichts dessen, dass die Ermittlungen des Antragsgegners anscheinend aufgrund des Schreibens des (ggf. vermissten) tatsächlichen Ehemannes der Antragstellerin zu 1) angestoßen wurden, hätte der Antragsgegner entsprechende Ermittlungen anstrengen müssen.

 

Der Begriff der „Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft“ wird gegenüber der (bloßen) Wohngemeinschaft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitglieder nicht nur vorübergehend in einer Wohnung leben, sondern einen gemeinsamen Haushalt in der Weise führen, dass sie aus einem „Topf“ wirtschaften. Davon ist auszugehen, wenn die Partner die Dinge des täglichen Bedarfs gemeinsam beschaffen, ge- und verbrauchen und die allgemein anfallenden hauswirtschaftlichen Arbeiten gemeinsam oder füreinander erledigen. Dies verlangt keinesfalls die Wahrnehmung der Alltagsaufgaben zu gleichen Teilen. Vielmehr reicht es aus, dass der Alltag aufeinander bezogen ist. Das gemeinsame Wirtschaften muss aber über die bloße Mitbenutzung von Bad, Küche und ggf. vorhandenen Gemeinschaftsräumen hinausgehen. Ebenso dürfte eine Wirtschaftsgemeinschaft nicht bereits deswegen anzunehmen sein, weil gelegentlich Einkäufe für den anderen miterledigt werden oder bestimmte Gegenstände trotz grundsätzlich getrennten Wirtschaftens gemeinsam beschafft werden, z.B. Milch für den Kaffee (Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 7 <Stand: 19.03.2024>, Rn 223). Hierfür gibt es keine objektiven Anhaltspunkte. Die Mitbenutzung von Wohnzimmer, Küche und Bad reicht – wie oben ausgeführt – nicht aus. Feststellungen dazu, ob die Antragstellerinnen mit J. gemeinsam Lebensmittel einkaufen, kochen, Reinigungsarbeiten durchführen und ähnliches, wurden nicht getroffen. Es handelt sich um Spekulationen des Antragsgegners, die von der Antragstellerin zu 1) bestritten werden. Entsprechende Feststellungen sind nicht möglich.

 

Ausgehend davon tragen die Feststellung des Antragsgegners die Aufhebungsentscheidung nicht. Der Antragsgegner hat in dem Aufhebungsbescheid vom 18.11.2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2025 ausgeführt, dass erhebliche „Zweifel“ an einer Hilfebedürftigkeit bestünden. Diese Begründung trägt nicht die Aufhebung der Leistungsbewilligung. Notwendig für die Verneinung der Hilfebedürftigkeit ist nicht nur das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, sondern auch, dass innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ausreichend zu berücksichtigendes Einkommen erzielt wird. Wie oben ausgeführt, fehlen jegliche Feststellungen zum Bestehen einer Wohn-und Wirtschaftsgemeinschaft und damit schon zum Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft. Feststellungen zur Höhe des Einkommens und Vermögens fehlen gänzlich. Der Antragsgegner hat es auch entgegen seiner Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X unterlassen, ein Auskunftsverlangen nach § 60 Abs. 4 S. 1 SGB II gegen J. einzuleiten um die entscheidungserheblichen Tatsachen zu ermitteln und stattdessen „Zweifel“ an der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerinnen angeführt. Auf Zweifel und damit bloße Vermutungen kann eine Aufhebungsverfügung jedoch nicht gestützt werden. Denn es kommt nicht darauf an, ob die Antragstellerinnen ihre Hilfebedürftigkeit darlegen können. Vielmehr ist der Antragsgegner im Rahmen einer Aufhebungssituation gehalten, die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen (vgl. BSG Urteil vom 25.06. 2015 – B 14 AS 30/14 R – juris Rn. 17 ff.). Der Antragsgegner trägt auch die objektive Beweislast für die belastende Aufhebungsentscheidung und ist bereits im vorherigen Verfahrensstadium verpflichtet, die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Norm, auf die er seine Verwaltungsentscheidung stützt, zu ermitteln und entsprechend festzustellen, damit sich der Leistungsberechtigte im Verfahren mit seiner Argumentation auf die die Entscheidung tragenden Gründe einrichten kann. In Situationen, in denen das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft bestritten wird und der Partner sich weigert die geforderten Auskünfte zu erteilen, steht die Möglichkeit zur Verfügung, sich an den Dritten selbst zu wenden (§ 60 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB II) und bei pflichtwidriger Erfüllung der Auskunftspflicht Schadensersatz zu verlangen oder Bußgelder zu verhängen, §§ 62 f. SGB II (a.a.O. Rn. 19 ff.). Ein Nachschieben von Gründen durch die Behörde ist in reinen Anfechtungssachen regelmäßig unzulässig, wenn das Gericht umfassende Ermittlungen durchführen müsste, die die Behörde ihrerseits unterlassen hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen mit einer wesentlich anderen Begründung bestand hätte. Erst wenn das Gericht das Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft, den Einstandswillen sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Herrn E. selbst ermittelt hätte, könnten die Grundlagen für die Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides festgestellt werden. Solange diese nicht feststehen, ist der angegriffene Aufhebungsbescheid offensichtlich rechtswidrig. Es ist im Rahmen einer Anfechtungsklage Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber, die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen (a.a.O. Rn. 25).

 

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen. Die Antragstellerinnen sind nicht anwaltlich vertreten und die von Ihnen damit begehrte Freistellung von Gerichtskosten ergibt sich bereits aus dem Gesetz, § 183 S. 1 SGG.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

 

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.

Rechtskraft
Aus
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