L 11 VG 6/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 119 VG 162/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 VG 6/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Zur Auslegung der Begriffe „leichte“, „mittelgradige“ und „schwere“ soziale Anpassungsschwierigkeiten können die vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales am Beispiel des „schizophrenen Residualzustandes“ entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden (vgl. Urteil des Senats vom 23. September 2015 - L 11 SB 35/13, juris; unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 und vom 8./9. November 2000).
  2. Nach dem Schutzzweck des OEG darf es nicht in der Hand von sorgeberechtigten Eltern, die dem Gewalttäter familiär und durch gleich gelagerte Interessen eng verbunden sind, liegen, ihr Kind als Opfer einer Gewalttat von zügiger Entschädigung nach dem OEG auszuschließen (vgl. BSG, Urteil vom 28. April 2005 - B 9a/9 VG 1/04 R; hier verneint).
  3. Eine einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auslösende zurechenbare Beratungspflichtverletzung einer anderen Behörde ist anzunehmen, wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die andere Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt aufgrund eines bestehenden Kontaktes der aktuelle „Ansprechpartner“ des Berechtigten ist und sie - die Behörde - aufgrund der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage besteht (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2016 - B 9 V 6/15 R).
  4. Das Jugendamt ist weder im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren der Versorgungsverwaltung „arbeitsteilig“ eingeschaltet noch mit dieser materiell-rechtlich eng verknüpft. Etwaige Beratungsfehler des Jugendamtes sind der Versorgungsverwaltung daher nicht zuzurechnen.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Januar 2022 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Kostenentscheidung des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil bleibt hiervon unberührt.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt wegen in der Kindheit erlittenen sexuellen Missbrauchs eine Versorgungsrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 (statt 50) ab dem 1. Januar 2010 (statt ab dem 1. März 2012).

 

Die im Januar 2007 geborene Klägerin wurde an nicht näher bestimmbaren mindestens zwei Tagen im Januar 2010 und im Januar 2011 Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren leiblichen Vater, indem dieser es zuließ, dass die Klägerin beim Baden in der Badewanne den Penis des Vaters mit den Händen und dem Mund berührte und an seinem Penis nuckelte. Der Vater der Klägerin wurde durch Urteil des Amtsgerichts K vom 22. Februar 2012 wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Dem genannten Urteil ist zu entnehmen, dass der Vater der Klägerin zu ihr seit Ende Januar 2011 keinen Kontakt mehr hatte.

 

Am 7. März 2012 ging bei dem damals zuständigen Land  ein Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ein. Das Land  zog die Akten des Amtsgerichts K bei und veranlasste eine versorgungsärztliche Begutachtung am Wohnort der Klägerin. Nachdem diese Untersuchungstermine nicht wahrgenommen hatte, versagte das Land  Leistungen nach § 1 OEG mit Bescheid vom 30. Oktober 2014, nahm aber die Ermittlungen wieder auf, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Einladungen ohne Verschulden der Klägerin nicht bei ihr angekommen waren. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurde eine Stellungnahme des Verfahrensbeistandes für das Amtsgericht T – Familiengericht – vom 15. Juni 2015 aktenkundig, wonach der Kontakt zwischen der Klägerin und dem Vater Anfang Januar 2011 abbrach und die Mutter den Vater am 28. Januar 2011 wegen des Verdachtes auf sexuellen Missbrauch anzeigte. Das Land  holte bei der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. R ein Gutachten vom 24. November 2015 ein, das diese nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstellte und in dem sie zu der Einschätzung gelangte, dass ursächlich auf den sexuellen Missbrauch eine somatoforme autonome Funktionsstörung, emotional bedingte Schlafstörungen und eine emotionale Störung des Kindesalters mit Trennungsangst zurückzuführen seien. Der GdS betrage 40.

 

Dem vorgenannten Gutachten folgend stellte das Land  mit Bescheid vom 28. Januar 2016 fest, dass die Vorfälle in der Zeit von Januar 2010 bis Januar 2011 in K einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG darstellten und die Klägerin durch diese Gewalttaten eine gesundheitliche Schädigung erlitten habe. Hervorgerufen worden seien durch diese Angriffe als Schädigungsfolgen eine somatoforme autonome Funktionsstörung, Schlafstörungen und eine emotionale Störung des Kindesalters mit Trennungsangst. Diese Schädigungsfolgen bedingten einen GdS von 40. Der Anspruch auf eine Beschädigtenversorgung bestehe ab dem 1. März 2012. Den gegen die Höhe des GdS gerichteten Widerspruch wies das Land  mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 2016 zurück.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 2. Dezember 2016 Klage erhoben, mit der sie neben der Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und Leistungen nach einem GdS von 100 bereits ab dem 1. Januar 2010 geltend gemacht hat.

 

Das Sozialgericht hat Befundberichte bei dem Kinderarzt Dr. D, dem Kinderarzt Dr. P und dem Haus- und Kinderarzt S eingeholt. Zu diesen Befundberichten hat das Land  eine fachärztliche Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B vom 17. November 2017 zu den Gerichtsakten gereicht. Im Anschluss daran hat das Sozialgericht Befundberichte bei dem Allgemeinmediziner Dr. D, bei dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. B, bei der Akademie für Psychotherapie und bei V Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik eingeholt und Befunde bei dem V Klinikum  und bei dem S Klinikum  beigezogen. Die Klägerin hat eine Patientenkarteikarte von Dr. D zu den Gerichtsakten gereicht.

 

Vor dem Sozialgericht hat am 5. November 2018 ein nicht-öffentlicher Erörterungstermin stattgefunden.

 

Die Klägerin hat Berichte und Befunde zu den Gerichtsakten gereicht und zwar unter anderem einen Bericht der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin F, einen Bericht der Allgemeinmedizinerin Dr. H vom 12. Oktober 2018, ein Anschreiben der International Psychoanalytic University  vom 26. April 2017 (Ablehnung einer Kurzzeittherapie, da diese nicht ausreiche) sowie einen Therapiebericht Heileurythmie und eine zusammenfassende Beurteilung des kunsttherapeutischen Verlaufs. Das Land  hat zu den ihm vorgelegten Befunden weitere Stellungnahmen der Neurologin und Psychiaterin Dr. B vom 24. Januar 2019 und vom 22. Februar 2019 zu den Gerichtsakten gereicht.

 

Das Sozialgericht hat bei der Assistenzärztin und wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters  Dr. K unter Supervision der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie PD – später Prof. - Dr. W ein kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten vom 4. Dezember 2019 eingeholt, das diese nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27. September und 5. Dezember 2019, testpsychologischer Untersuchung der Klägerin durch die Psychologin N am 7. November 2019 sowie Exploration der Mutter der Klägerin am 27. September, 7. November und 5. Dezember 2019 erstellt hat und in dem sie zu der Einschätzung gelangt ist, bei der Klägerin lägen folgende Diagnosen vor:

 

  • Somatisierung,
  • Angst und depressive Störung, gemischt,
  • posttraumatische Belastungsstörung,
  • isolierte Rechtschreibstörung,
  • durchschnittliche Intelligenz (inhomogenes Testprofil),
  • Neurodermitis,
  • sexueller Missbrauch (innerhalb der Familie),
  • psychische Störung/abweichendes Verhalten eines Elternteils,
  • abweichende Elternsituation,
  • Verlust einer liebevollen Beziehung,
  • mäßige soziale Beeinträchtigung.

 

Die posttraumatische Belastungsstörung sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch den sexuellen Missbrauch verursacht worden. Auch die Somatisierungsstörung und die Angst und depressive Störung seien durch den sexuellen Missbrauch verursacht oder zumindest wesentlich verschlimmert worden. Da es sich bei der Neurodermitis um eine Erkrankung mit hohen psychosomatischen Anteilen handele und der Erkrankungsbeginn zeitlich eng mit dem sexuellen Missbrauch zusammenfalle, sei auch insoweit ein ursächlicher Zusammenhang möglich. Die isolierte Rechtschreibstörung sei nicht ursächlich auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen. Der GdS betrage für die Somatisierungsstörung 60, für die Angst und depressive Störung, gemischt, 40 und für die posttraumatische Belastungsstörung 40, der Gesamt-GdS 50.

 

Das Land  hat zu dem Gutachten eine Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B vom 4. Juni 2020 zu den Gerichtsakten gereicht, die Einwände gegen das Gutachten formuliert hat. Die Höhe des GdS werde nicht nachvollziehbar trotz mäßiger sozialer Beeinträchtigung zu hoch bewertet. Dies gelte namentlich für den Einzel-GdS von 40 für die Angst und Depression, gemischt, denn für diese Diagnose würden eher milde Symptome aus Angst und depressiven Symptomen zugrunde gelegt. Hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung würden im Befund außer Albträumen keine Symptome beschrieben, wobei sich die Albträume auch nicht auf das schädigende Ereignis bezögen, sondern auf die Angst, die Mutter zu verlieren oder selbst schwer zu erkranken oder zu sterben. Im Vergleich zu Befundbeschreibungen aus November 2015 sei es außerdem durch Therapie und Persönlichkeitsentwicklung zu einer Verbesserung der Symptome gekommen.

 

Auch die Klägerin hat Einwände gegen das Gutachten erhoben und Fragen an die Sachverständige formuliert. Zudem hat sie einen Lehrfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen, eine ärztliche Stellungnahme zur Vorlage bei der Schule vom Kinder- und Jugendpsychiater Dr. B vom 20. November 2020, einen Arztbrief der Frauenärztin E vom 23. November 2020 und einen Arztbrief des St. J Krankenhaus  über eine ambulante Behandlung der Klägerin vom 16. August bis 18. September 2020 zu den Gerichtsakten gereicht.

 

Zu den Stellungnahmen der Beteiligten und den neu eingereichten Befunden hat das Sozialgericht bei der Sachverständigen Dr. K eine ergänzende Stellungnahme vom 25. Januar 2021 eingeholt, in der die Sachverständige erklärt hat, es hätten sich Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung ergeben. Neben Albträumen, die inhaltlich nicht mit dem schädigenden Ereignis zusammenhängen müssen, seien Missempfindungen im Genitalbereich ohne somatisches Korrelat und Erregungszustände und Ängste in spezifischen Situationen (Alleinsein mit Männern, Gespräche über Väter) festgestellt worden. Seit 2015 sei es zu keiner wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes gekommen, was auf das Fehlen einer dringend indizierten Langzeittherapie zurückzuführen sei. Die beschriebene Symptomatik begleite die Klägerin seit einem Großteil ihrer Kindheit, sie sei erheblich beeinträchtigt und ein Leidensdruck sei deutlich zu erkennen.

 

Zuständigkeitshalber wird seit dem 1. Januar 2021 der jetzige Beklagte im Passivrubrum geführt.

 

Der Beklagte hat eine Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Fachärztin für Pädiatrie W vom 11. Februar 2021 zu den Gerichtsakten gereicht, die einen GdS von 40 für angemessen gehalten hat.

 

Zur Frage von Einzel- und Gesamt-GdS hat das Sozialgericht eine weitere Anfrage an Dr. K gerichtet. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 6. Mai 2021 hat die Sachverständige erklärt, mit den vorgeschlagenen Einzel-GdS habe sie den höheren Anteil der Somatisierungsstörung an der Gesamtbeeinträchtigung zum Ausdruck bringen wollen. Es könne aber auch ein Gesamt-GdS von 60 vertreten werden.

 

Die Klägerin hat zuletzt vor dem Sozialgericht die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Identitätsstörung, einer Angststörung, einer Zwangsstörung, multipler Allergien, einer Neurodermitis, eines chronischen Schnupfens und eines chronischen Bronchialasthmas als Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 100 seit dem 1. Januar 2020 beantragt.

 

Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 18. Januar 2022 unter entsprechender Änderung des angefochtenen Bescheides festgestellt, dass die psychische Gesundheitsstörung der Klägerin Schädigungsfolge des sexuellen Missbrauchs durch den Vater im Zeitraum von Januar 2010 bis Januar 2011 ist und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 50 ab dem 1. März 2012 zu gewähren bei einer Kostenquote von 1/7. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die psychische Gesundheitsstörung, die sie durch den sexuellen Missbrauch erlitten habe, äußere sich nach dem Gutachten der Sachverständigen in den Diagnosen Somatisierungsstörung, Angst und depressive Störung, gemischt, und posttraumatische Belastungsstörung. Identitäts-, Angst- und Zwangsstörung könnten nicht als Schädigungsfolgen festgestellt werden, weil allen Diagnosen gemein sei, dass es sich um psychische Gesundheitsstörungen handele. Der GdS betrage 50, denn bei der Klägerin liege eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor. Weitere Schädigungsfolgen lägen nicht vor. Multiple Allergien, ein chronischer Schnupfen und ein chronisches Bronchialasthma würden von der Sachverständigen als Schädigungsfolgen nicht in Betracht gezogen. Zudem ergebe sich aus der Patientenkartei der behandelnden Kinderarztpraxis, dass die Klägerin schon vor dem sexuellen Missbrauch immer wieder wegen Infekten der oberen Atemwege, Husten und Bronchitis behandelt worden sei. Dass die Neurodermitis nach Einschätzung der Sachverständigen möglicherweise Schädigungsfolge sei, reiche nicht. Zudem habe die Mutter in einer Klinik von insoweit seit dem ersten Lebensjahr bestehenden Beschwerden berichtet. Eine in Betracht zu ziehende Verschlimmerung sei nicht wahrscheinlich. Die Versorgung beginne nach § 60 Abs. 1 Satz 1 bis 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erst ab dem 1. März 2012. Die Klägerin habe den Versorgungsantrag erst am 7. März 2012 und damit mehr als ein Jahr nach der letzten Tat gestellt, so dass Leistungen erst ab dem Antragsmonat gewährt werden könnten. An einer früheren Antragstellung sei die Klägerin nicht gehindert gewesen, wobei hinsichtlich des Verschuldens auf ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin abzustellen sei. Die vorgetragenen Gründe für die verspätete Antragstellung – Unkenntnis, Fürsorge für die Klägerin, deren Genesung, vordringlichere Auseinandersetzungen im Straf- und Familienverfahren – stünden einem Verschulden nicht entgegen. Auch der persönliche Eindruck, den die Mutter der Klägerin im Erörterungstermin am 5. November 2018 vermittelt habe, stehe dieser Einschätzung nicht entgegen.

 

Gegen das ihr am 26. Januar 2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 9. Februar 2022 Berufung eingelegt, mit der sie begehrt, den Beklagten über die erstinstanzliche Stattgabe hinaus zu verurteilen, ihr Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 70 schon ab dem 1. Januar 2010 zu gewähren. Das Verschulden des gesetzlichen Vertreters sei einem Gewaltopfer nicht zuzurechnen, wenn ein (anderer) gesetzlicher Vertreter zugleich der Täter sei oder dem Gewalttäter familiär oder durch gleichgelagerte Interessen eng verbunden sei. Ein die Zurechnung von Verschulden des gesetzlichen Vertreters ausschließender schutzwürdiger Interessenkonflikt liege auch dann vor, wenn eine dem Gewalttäter eng verbundene Person, der die Rechtsordnung ein Zeugnisverweigerungsrecht zugestehe, durch die Antragstellung zivilrechtliche Schadenersatzansprüche auslösen würde. Die Klägerin bezieht sich unter anderem auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. April 2005 (B 9a/9 VG 1/04 R). Sollte § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG einer früheren Leistung entgegen stehen, sei dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) europarechtswidrig (C-129/19). Die Bildung des Gesamt-GdS sei ausgehend von den von der Sachverständigen angenommenen Einzel-GdS nicht schlüssig, es ergebe sich ein Gesamt-GdS von 70. Die Klägerin hat einen Arztbrief der S Klinik R über eine stationäre Behandlung vom 31. August bis 27. Oktober 2022 zu den Gerichtsakten gereicht.

 

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Senat bei der Fachärztin für Kinder-, Jugendpsychiatrie, -psychotherapie Dr. G ein kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten vom 2. Dezember 2024 eingeholt, das diese nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 5. September 2024 (Online-Exploration mit der Mutter am 6. August 2024) erstellt hat und in dem sie zu der Einschätzung gelangt ist, bei der Klägerin lägen eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Somatisierungsstörung und Angst und depressive Störung, gemischt, vor, die wesentlich durch den sexuellen Missbrauch verursacht worden seien. Der GdS betrage 40, es sei vertretbar, im Zeitraum von 2019 bis 2022 von einem GdS von 50 auszugehen.

 

Mit Schriftsatz vom 22. April 2025 hat die Klägerin eine ausführliche Stellungnahme ihrer Mutter zu den Gerichtsakten gereicht.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Januar 2022 abzuändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides des Landes  vom 28. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2016 zu verurteilen, ihr eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 70 schon ab dem 1. Januar 2010 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er meint, die von der Klägerin zitieren Entscheidungen zum nicht zurechenbaren Verschulden des gesetzlichen Vertreters seien auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist im streitigen Umfang zutreffend. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Landes  vom 28. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2016 in der Fassung, wie er sie durch das erstinstanzliche Urteil erfahren hat, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf eine Beschädigtenrente nach einem höheren GdS als 50. Sie hat auch keinen Anspruch auf Leistungen vor dem 1. März 2012.

 

Dabei ist hier nach § 142 Abs. 2 Satz 1 des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch noch das OEG in Verbindung mit dem BVG anzuwenden, weil der Antrag der Klägerin vor dem 1. Januar 2024 gestellt und nicht bestandskräftig beschieden worden ist. Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R – juris). Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht, wobei lediglich die Möglichkeit eines Zusammenhangs oder ein zeitlicher Zusammenhang nicht genügen. Nach der im Versorgungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ist ferner zu beachten, dass nicht jeder Umstand, der irgendwie zum Erfolg beigetragen hat, rechtlich beachtlich ist, sondern beachtlich im vorgenannten Sinne sind nur die Bedingungen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg diesen wesentlich herbeigeführt haben.

 

Dass hier tätliche Angriffe – im Januar 2010 und im Januar 2011 – sowie eine Schädigung vorliegen, steht fest. Der Senat hat aufgrund der Verurteilung des Beklagten von einer psychischen Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge auszugehen. Die konkrete Bezeichnung der Schädigungsfolgen ist nicht streitig, so dass sich der Senat dazu nicht äußern muss. Für die Bemessung des GdS geht der Senat mit dem Sozialgericht und den Sachverständigen Dr. K und Dr. G von einer Somatisierungsstörung, Angst und depressiven Störung, gemischt, und einer posttraumatischen Belastungsstörung aus.

 

Der GdS ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 30 Abs. 1 und 31 Abs. 2 BVG zu bestimmen. Gemäß § 30 Abs. 1 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen, seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1). Bei der Beurteilung des GdS ist auf die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zurückzugreifen. Einzel-GdS sind entsprechend den Vorgaben der Anlage zu § 2 VersMedV in Zehnergraden jeweils für Funktionsbeeinträchtigungen anzugeben. Für die Bildung des Gesamt-GdS bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdS bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdS von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdS von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV.

 

Die Bewertung der hier maßgeblichen Schädigungsfolgen richtet sich nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV. Danach sind

 

leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdS von 0 bis 20,

                         

stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen)  mit einem GdS von 30 bis 40 und

                         

schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 80 bis 100 zu bewerten.

 

Zur Auslegung der Begriffe „leichte“, „mittelgradige“ und „schwere“ soziale Anpassungsschwierigkeiten können die vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales am Beispiel des „schizophrenen Residualzustandes“ entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden (vgl. Urteil des Senats vom 23. September 2015 - L 11 SB 35/13, juris; unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 und vom 8./9. November 2000). Danach werden

 

  • leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn z.B. Berufstätigkeit trotz Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne wesentliche Beeinträchtigung möglich ist (wesentliche Beeinträchtigung nur in besonderen Berufen, z. B. Lehrer, Manager) und keine wesentliche Beeinträchtigung der familiären Situation oder bei Freundschaften, d. h. keine krankheitsbedingten wesentlichen Eheprobleme bestehen,
  • mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen bei einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen Veränderung, die zwar eine weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt; als weiteres Kriterium werden erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung genannt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte,
  • schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn die weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist; als weiteres Kriterium werden schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- oder Bekanntenkreis bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis benannt.

 

Das Sozialgericht ist wie ursprünglich auch die Sachverständige Dr. K von einem GdS von 50 ausgegangen, Dr. K hat in einer ergänzenden Stellungnahme einen GdS von 60 für vertretbar gehalten. Dr. G hat schließlich einen GdS von nur 40 angenommen. Dass die Einzel- und Gesamt-GdS-Bildung von Dr. K nicht den skizzierten versorgungsmedizinischen Grundsätzen entspricht, bedarf keiner weiteren Erörterung.

 

Bei Annahme stärker behindernder Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit kann kein höherer GdS als 40 vorliegen. Aber auch bei Annahme einer schweren psychischen Störung ist der GdS von 50 maximal, weil mit der Sachverständigen Dr. G von grundsätzlichen leichten, tendenziell mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten auszugehen ist. Die schwere psychische Störung würde sich auch bei dieser Betrachtungsweise eher im Grenzbereich zu einem GdS von 40 bewegen. Dabei geht der Senat durchaus von erheblichen Teilhabebeeinträchtigungen aus. Hier sind die der Somatisierungsstörung zuzuordnenden Schmerzen, insbesondere Bauch- und Kopfschmerzen zu nennen. Daneben bestehen Ängste und Panikattacken – zuzuordnen der Diagnose Depression und Angst, gemischt – etwa dergestalt, dass Angst vor einer schweren Erkrankung besteht, aber auch Ängste, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Weiter zu benennen sind Ein- und Durchschlafstörungen, die auf Schmerzen wie auch Albträumen – diese sind am ehesten der posttraumatischen Belastungsstörung zuzuordnen – beruhen. Dieser Diagnose sind auch Ängste vor Männern zuzuordnen. Gleichwohl ist anzuerkennen, dass die Klägerin durchaus schulische Erfolge aufzuweisen hat. So hat sie die mittlere Reife als Jahrgangsbeste gemacht, zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. G hat sie die 12. Klasse eines Gymnasiums besucht mit dem Ziel Abitur nach der 13. Klasse. Hobbys bestehen in Form von Lesen, Zeichnen, Hörspiele hören. Angaben zum sozialen Rückzug variieren durchaus. In der Begutachtung durch Dr. K hat sie von vielen Freunden jedenfalls in guten Phasen berichtet. Gegenüber Dr. G hat die Klägerin geäußert, die beste Freundin wohne in B, in Bad K habe sie keinen wirklichen Freundeskreis. Insgesamt ist dem Gutachten eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Stadt Bad K, der naturwissenschaftlichen Schule, den Lehrern und Mitschülern zu entnehmen. Einen sozialen Rückzug, der erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung hervorruft, kann man dem aber nicht entnehmen. Es bestehen Kontakte außer zur Mutter auch zum Halbbruder und zu Onkeln und Tanten. Bei dieser Sachlage ist die Einschätzung von Dr. G nachvollziehbar, die von leichten, tendenziell mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ausgeht. Dann aber ist ein höherer GdS als 50 nicht möglich und zwar auch nicht bei Annahme einer schweren psychischen Störung.

 

Der Klägerin steht die Beschädigtenrente nicht vor dem 1. März 2012 – dem Antragsmonat – zu. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat, hier also mit März 2012. Verzögert sich die Antragstellung um längstens ein Jahr nach Eintritt der Schädigung, so ist das nach § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG unschädlich: Versorgung ist in diesem Fall auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten. Aus dieser Vorschrift allein kann die Klägerin nichts für sich herleiten, weil die Schädigung spätestens im Januar 2011 eingetreten, die Jahresfrist also - vor Antragstellung – im Januar 2012 abgelaufen war. Nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verlängert sich die Jahresfrist um den Zeitraum, während dessen der Beschädigte ohne sein Verschulden verhindert war, Versorgung zu beantragen. Diese Regelung greift aber vorliegend nicht.

 

Bei der Prüfung, inwiefern hinsichtlich der verspäteten Antragstellung ein unverschuldetes Hindernis vorlag, ist nicht auf die Klägerin abzustellen, weil diese auch im März 2012 das 15. Lebensjahr nicht vollendet hatte und daher im Sinne von § 36 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) handlungsunfähig war, sondern auf ihre personensorgeberechtigte Mutter (vgl. § 2, §§ 1626 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches <BGB>), die insoweit auch ihre gesetzliche Vertreterin war (vgl. § 1629 Abs. 1 Satz 3 BGB). Soweit sein gesetzlicher Vertreter die rechtzeitige Antragstellung unterlassen hat, muss sich der Berechtigte die dadurch verursachten Folgen entsprechend der in § 27 Abs. 1 Satz 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) getroffenen Regelung sowie den zu § 67 Abs. 1 Satz 2 SGG von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zurechnen lassen. Von dem Grundsatz, dass dem Minderjährigen ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters bei der verspäteten Antragstellung zuzurechnen ist, hat das BSG dann eine Ausnahme gemacht, wenn ein Gewalttäter als alleiniger gesetzlicher Vertreter des minderjährigen Hinterbliebenen seines Opfers für dieses keinen Versorgungsantrag nach dem OEG stellt (Urteil vom 23. Oktober 1985 - 9a RVg 4/83, juris). Es darf sich nicht nachteilig auf den Versorgungsanspruch eines Gewaltopfers auswirken, dass sein gesetzlicher Vertreter den Widerspruch zwischen seinen Eigeninteressen (als Täter unentdeckt zu bleiben) und den Interessen der von ihm gesetzlich vertretenen Hinterbliebenen zu Lasten letzterer löst. In einem solchen Fall lässt sich das pflichtwidrige Unterlassen des Vertreters dem Vertretenen ausnahmsweise nicht zurechnen.

 

In der von der Klägerin angeführten Entscheidung des BSG hat dieses den vorgenannten Rechtsgrundsatz erweitert (Urteil vom 28. April 2005 - B 9a/9 VG 1/04 R, juris): Nach dem Schutzzweck des OEG darf es auch nicht in der Hand von sorgeberechtigten Eltern, die dem Gewalttäter familiär und durch gleich gelagerte Interessen eng verbunden sind, liegen, ihr Kind als Opfer einer Gewalttat von zügiger Entschädigung nach dem OEG auszuschließen. Das BSG hat insoweit ausgeführt:

„Die Eltern stehen in einem Interessenkonflikt. Einerseits darf die Tat nicht offenbar werden, weil damit zumindest - auch eigener - empfindlicher Ansehensverlust verbunden wäre und dem gewalttätigen Familienangehörigen Kriminalstrafe bis zum Freiheitsentzug droht. Andererseits müssten sie in Erfüllung ihrer Pflichten dem Kind gegenüber für dieses einen Versorgungsantrag stellen und hätten dabei grundsätzlich Tat und Täter anzugeben. Auch nach Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen kann eine solche Konfliktlage fortbestehen. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn es den persönlichen Interessen der Eltern (oder des personensorgeberechtigten Elternteils) zuwiderläuft, an der vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens irgendwie mitzuwirken; sei es, dass dabei auch eine Vernachlässigung eigener elterlicher Aufsichts- und Fürsorgepflichten ans Licht kommen kann, sei es, weil ein entsprechendes Vorgehen, insbesondere auch eine Antragstellung nach dem OEG, zum Bruch der ihnen wichtigen Beziehungen zu dem straffällig gewordenen Familienangehörigen führen könnte. Räumen Eltern in einer solchen Situation ihren eigenen und den damit eng verflochtenen Interessen des Gewalttäters den Vorrang ein, so scheitern sie zwangsläufig bei der Erfüllung ihres, auch grundgesetzlich statuierten Auftrags (Art 6 Abs 2 Satz 1 GG), für ihr Kind zu "sorgen". Dem kindlichen Gewaltopfer ist ein solches tatbestimmtes und täterbezogenes Versagen ihrer gesetzlichen Vertreter im Rahmen des § 60 Abs 1 BVG nicht als Verschulden anzulasten.“

 

In seinem konkreten Fall hatte das BSG angenommen, die personensorgeberechtigte Mutter der Klägerin habe über den Beginn der strafrechtlichen Ermittlungen hinaus in einem Konflikt der beschriebenen Art gestanden. Sie habe ein starkes Interesse gehabt, nichts zur Aufklärung der Missbrauchshandlungen ihres Ehemannes beizutragen; auch nicht durch einen Antrag auf Entschädigung der Klägerin nach dem OEG und dadurch ausgelöste Ermittlungen einer weiteren Behörde. Zum einen habe sie den Vorwurf einer Verletzung ihrer mütterlichen Pflichten fürchten müssen, weil sie die innerfamiliäre Straftat nicht verhindert habe. Zum anderen habe sie die eheliche Gemeinschaft mit dem Täter offensichtlich nicht gefährden wollen. Das habe sich schon aus ihrer Verhaltensweise ergeben: Sie habe ihren Ehemann während der Untersuchungshaft häufig besucht und lebe seit seiner Freilassung wieder mit ihm zusammen.

 

Der Senat kann nicht ansatzweise erkennen, inwieweit der vom BSG entschiedene auf den vorliegenden Fall zu übertragen sein könnte. So hat die Mutter der Klägerin im Rahmen der Begutachtung durch Dr. R im Verwaltungsverfahren angegeben, der Vater der Klägerin habe ihr, der Mutter, schon während der Schwangerschaft erklärt, einen jugendlichen autistischen Jungen sexuell missbraucht zu haben; dies und andere Verhaltensweisen des Vaters hätten sie bewogen, sich noch während der Schwangerschaft zu trennen. Ein normales Zusammenleben mit dem Vater habe nie bestanden. Zwar ist der Vater in die Nähe der Klägerin gezogen, die von ihrer Mutter im Alter von etwas über zwei Jahren regelmäßig zum Vater gegeben wurde. Nachdem die Klägerin ihr die Tat eröffnet hatte, brach der Kontakt zum Vater ab, die Mutter erstattete noch im Januar 2011 Anzeige. Bei dieser Sachlage ist ein starkes Interesse daran, nichts zur Aufklärung der Missbrauchshandlungen ihres Ehemannes beizutragen, ebenso wenig erkennbar wie der Wunsch, eine ohnehin nicht bestehende eheliche Gemeinschaft mit dem Vater der Klägerin erhalten zu wollen. Der Vorwurf einer Verletzung ihrer mütterlichen Pflichten stand nie im Raum, weil die Mutter umgehend nach der ersten Kenntnisnahme von den hier in Rede stehenden Taten alle notwendigen straf- und familienrechtlichen Maßnahmen ergriffen hat.

 

Auch die von der Klägerin in der Berufungsbegründung in Bezug genommene Entscheidung des BSG vom 30. September 2009 (B 9 VG 3/08 R, juris) ist nicht einschlägig. Danach liegt ein die Zurechnung von Verschulden des gesetzlichen Vertreters ausschließender Interessenkonflikt auch dann vor, wenn eine dem Gewalttäter eng verbundene Person durch die Antragstellung (als materiell-rechtliche Voraussetzung von Versorgungsansprüchen nach dem OEG) zivilrechtliche Regressansprüche des Kostenträgers des OEG (§ 5 Abs. 1 OEG in Verbindung mit § 81a Abs. 1 Satz 1 BVG) gegen den Schädiger auslösen würde. Auch in diesem Falle besteht ein vom Schutzzweck des OEG erfasstes tat- und täterbestimmtes eigenes Interesse des gesetzlichen Vertreters, keinen Antrag nach dem OEG zu stellen. Schutzwürdig ist dieser Interessenkonflikt jedoch nur bei Personen, die dem Gewalttäter hinreichend eng verbunden sind. Nur diesem Personenkreis gesteht die Rechtsordnung durch ein Zeugnisverweigerungsrecht (§ 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 der Zivilprozessordnung) als Ausnahme von der allgemeinen öffentlich-rechtlichen Zeugnispflicht einen Schutz zu, nichts offenbaren zu müssen, was zu Konfliktlagen führen könnte. Die Mutter der Klägerin hatte kein Zeugnisverweigerungsrecht. Sie war mit dem mittlerweile verstorbenen Vater der Klägerin auch während des hier maßgeblichen Jahreszeitraums weder verheiratet noch verlobt.

 

Als gesetzliche Vertreterin der Klägerin wäre die Mutter verpflichtet gewesen, deren Interessen wahrzunehmen. Zu ihren objektiven Betreuungspflichten hätte es gehört, rechtzeitig (innerhalb der Jahresfrist des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG) einen Versorgungsantrag nach dem OEG zu stellen. Dass diese Möglichkeit bestand, mag ihr nicht bekannt gewesen sein, auch ist sie wohl hierüber insbesondere vom Jugendamt nicht in Kenntnis gesetzt worden. Es liegen aber keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Mutter im Hinblick auf ihren Geisteszustand, ihr Alter, ihren Bildungsstand und/oder ihre Geschäftsgewandtheit subjektiv nicht in der Lage gewesen wäre, die nach den Umständen des Falles zu erwartende zumutbare Sorgfalt bei der Antragstellung zu beachten. Auch ein Entschuldigungsgrund ist nicht ersichtlich. Der Ausnahmecharakter der erweiterten Rückwirkung des Antrags nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gebietet eine enge Handhabung (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 16. März 2016 - B 9 V 6/15 R, juris). Allein das fehlende Wissen um einen möglicherweise bestehenden Anspruch nach § 1 OEG stellt keinen Anwendungsfall von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG dar, weil jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt als bekannt gelten.

 

Auch kann die Klägerin unter dem Gesichtspunkt eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht so gestellt werden, als sei ein Antrag früher gestellt worden. Zwar kann sich nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auch aus einem fehlerhaften Verhalten anderer Behörden ergeben, welches sich der zuständige Leistungsträger zurechnen lassen muss. Einer anderen Behörde als der für Entscheidung über die Leistung befugten Stelle kann eine Beratungspflicht, deren Verletzung zu einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gegen den zuständigen Leistungsträger führen kann, dann obliegen, wenn die andere Behörde vom Gesetzgeber im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren „arbeitsteilig“ eingeschaltet ist. Ebenso muss sich ein Leistungsträger das Fehlverhalten derjenigen Behörde zurechnen lassen, deren Funktionsnachfolge er angetreten hat. Eine zurechenbare Beratungspflichtverletzung wird von der Rechtsprechung des BSG auch dann angenommen, wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die andere Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt aufgrund eines bestehenden Kontaktes der aktuelle „Ansprechpartner“ des Berechtigten ist und sie - die Behörde - aufgrund der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage besteht (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2016 - B 9 V 6/15 R, juris). Als einzige Behörde, die zeitnah mit dem Fall der Klägerin betraut worden ist, kommt hier das Jugendamt in Betracht. Das Jugendamt war aber weder im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren der Versorgungsverwaltung „arbeitsteilig“ eingeschaltet noch mit dieser materiell-rechtlich eng verknüpft. Insbesondere bestand nach Lage der Akten bis zur Antragstellung am 7. März 2012 keinerlei Kontakt zwischen der Versorgungsverwaltung und dem Jugendamt. Damit kommt es auf die Frage, ob das Jugendamt eine Beratungspflicht hinsichtlich einer Antragstellung nach dem OEG gegenüber der Mutter der Klägerin verletzt haben könnte, nicht an. Die Jugendämter sind grundsätzlich nicht mit der Bearbeitung von Anträgen nach dem OEG befasst. Über solche Anträge entscheidet allein die Versorgungsverwaltung. Auch an der Vorbereitung solcher Entscheidungen sind die Jugendämter nicht beteiligt.

 

Die von der Klägerin schließlich angeführte Entscheidung des EuGH vom 16. Juli 2020 (C-129/19 – juris) hat mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun. Darin hat der EuGH insbesondere entschieden, Artikel 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 sei dahin auszulegen, dass eine pauschale Entschädigung, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie festgelegt wird, ohne die Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer zu berücksichtigen, und daher keinen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt. So würde – so der EuGH weiter - ein Mitgliedstaat sein Ermessen, das ihm durch Artikel 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 eingeräumt wird, überschreiten, wenn seine nationalen Bestimmungen für die Opfer vorsätzlicher Gewalttaten eine in Anbetracht der Schwere der Folgen der begangenen Tat für diese Opfer rein symbolische oder offensichtlich unzureichende Entschädigung vorsähen. Es geht also im Kern um die Höhe der Entschädigung, die „gerecht und angemessen“ sein muss. Aussagen zu etwaigen Antragsfristen enthält die Entscheidung nicht. Es ist vorliegend auch nicht so, dass durch den Verlust von 14 Anspruchsmonaten die der Klägerin – möglicherweise lebenslang - zustehende Entschädigung nicht mehr als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann. Daher greifen auch die Erwägungen der Klägerin im Schriftsatz vom 22. Juli 2025 zur unionsrechtskonformen Auslegung von § 60 Abs. 1 BVG nicht durch.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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