S 38 SO 96/23

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Lüneburg (NSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Lüneburg (NSB)
Aktenzeichen
S 38 SO 96/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
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3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
 
Leitsätze

Ein Erwachsenendreirad deckt nicht allein die Mobilität ab, sondern kann auch der eigenständigen und selbstbestimmten Lebensführung im Rahmen des Teilhabeziels Soziale Teilhabe dienen.

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18. November 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2023 verurteilt, die Kosten für ein Erwachsenendreirad im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Erwachsenendreirad im Rahmen der Eingliederungshilfe.

Die Klägerin ist schwerbehindert und leidet an Übergewicht sowie einer Angststörung mit Panikattacken. Beim Gehen ist sie auf einen Rollator angewiesen, wobei sie das Haus aufgrund ihrer Angsterkrankung in der Regel nicht oder nur mit ihrer qualifizierten Assistenz begleitet verlässt. In den letzten drei Jahren hat sie das Haus kaum verlassen. Ihr sind Pflegegrad zwei sowie ein Grad der Behinderung von 50 zuerkannt. Eine rechtliche Betreuerin ist ihr zur Seite gestellt. Fahrradfahren ist ihr aufgrund von Schwierigkeiten beim Halten des Gleichgewichts nicht möglich. Die Beklagte gewährt laufend Leistungen der qualifizierten Assistenz mit einer Stundenzahl von 52 im Quartal.

Am 13. Juli 2021 stellte die rechtliche Betreuerin einen formlosen Antrag auf Versorgung mit einem Erwachsenendreirad und begründete dies mit der Angststörung sowie der Unmöglichkeit für die Klägerin, alleine das Haus zu verlassen. Mit einem Dreirad hingegen wäre es dieser möglich, da ein solches ein größeres Maß an Sicherheit und Mobilität böte. Im Nachgang legte sie eine ärztliche Verordnung des Hausarztes sowie einen Kostenvoranschlag für ein Erwachsenendreirad, der einen Betrag in Höhe von 2199 € auswies, vor.

Im Rahmen der amtsmäßigen Ermittlungen holte die Beklagte die Stellungnahme der zuständigen Krankenkasse vom 30. September 2022 ein. Nach Auffassung dieser war die Klägerin mit ihrem Rollator bereits für den Bereich des Krankenversicherungsrechts ausreichend versorgt.

Mit Bescheid vom 18. November 2022 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie begründete dies damit, dass die Klägerin mit der gewährten qualifizierten Assistenz für 52 Stunden im Quartal ausreichend versorgt sei und damit die Aufgabe der Eingliederungshilfe, die Integration in die Gesellschaft und die soziale Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, erfüllt werde.

Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch mit der Begründung ein, dass sie sich mehr selbst Selbständigkeit in ihrem Alltag wünsche, in Bewegung kommen wolle, ihren Sohn und ihre Enkelkinder, die im Ort wohnten, besuchen und ihren Bewegungsradius vergrößern wolle, nachdem sie drei Jahre das Haus nicht verlassen habe. Ein Versuch, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, sei aufgrund der Angststörung gescheitert.

Das für die Erteilung des Widerspruchsbescheides zuständige Landesamt wies den Widerspruch mit Bescheid vom 19. Oktober 2023, der am 25. Oktober 2023 beim Prozessbevollmächtigten der Klägerin einging, als unbegründet zurück. Es verwies dabei auf die bereits stattgehabte Versorgung der Klägerin mit einem Rollator durch die Krankenkasse zur Herstellung der Mobilität und die Gewährung der qualifizierten Assistenz für 52 Stunden im Quartal, mit der Integration und Teilhabe an der Gesellschaft erfolgten. Auch die Einkäufe erledige die Klägerin mit ihrer qualifizierten Assistenz. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern die Klägerin bei Versorgung mit einem Dreirad eigenständig Einkäufe erledigen könne und welche Aktivitäten des öffentlichen kulturellen Lebens darüber hinaus mit einem Dreirad erreicht werden könnten.

Mit der am 24. November 2023 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat sie weiter ausgeführt, dass sie seit vier Jahren trockene Alkoholikerin sei und mit dem Dreirad Selbsthilfegruppen besuchen wolle. Darüber hinaus wolle sie den Frühstückstreff des sozialpsychiatrischen Dienstes und auch das offene Café der Arbeiterwohlfahrt (AWO) besuchen. Dort gäbe es jeweils Personen, die ihr auch ohne Rollator beim Hineingelangen in die Räumlichkeiten zu einer Sitzgelegenheit Unterstützung anbieten würden. Schließlich wolle sie auch ihren an Krebs erkrankten Sohn, der am gleichen Ort wohne, besuchen. Auch dort erhalten Sie vor Ort Unterstützung, um in die Wohnung zu gelangen.

Die Klägerin beantragt,

       wie erkannt.

Die Beklagte beantragt,

       die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid und darauf, dass sie eine schriftliche Entscheidung wünsche.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat die Kammer am 10. Juni 2025 mündlich verhandelt und dabei die Klägerin persönlich sowie deren qualifizierte Assistentin als Zeugin gehört. Auf das Sitzungsprotokoll wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem Erwachsenendreirad im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 8 SGB IX in Verbindung mit § 84 Abs. 1 SGB IX.

Die erforderlichen Voraussetzungen für diesen Tatbestand sind erfüllt.

Zunächst gehört die Klägerin unstreitig zum Leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe nach §§ 98, 99 SGB IX. Nach § 99 Abs. 1 SGB IX erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX Leistungen der Eingliederungshilfe, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann. Die Klägerin zählt angesichts ihrer Angsterkrankung mit Panikattacken und dem anerkannten Grad der Behinderung von 50 zum leistungsberechtigten Personenkreis. Sie ist angesichts dieser seelischen Beeinträchtigung in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft für länger als sechs Monate gehindert. Dieser Zustand weicht ohne Zweifel vom für das Lebensalter typischen Zustand ab.

Damit ist es Aufgabe der Beklagten, die Klägerin durch die Gewährung von Leistungen zur sozialen Teilhabe zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen, § 113 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Auch Hilfsmittel zählen zu den Leistungen zur sozialen Teilhabe, § 113 Abs. 2 Nummer 8 SGB IX. Das hier begehrte Erwachsenendreirad stellt ein solches Hilfsmittel dar. Mit diesem Erwachsenendreirad wird die Klägerin befähigt, sich selbstständig außerhalb ihres Wohnraums in ihren Sozialraum zu begeben, Selbsthilfegruppen zu besuchen, das offene Café der Arbeiterwohlfahrt, den Frühstückstreff des sozialpsychiatrischen Dienstes und auch ihren Sohn, der an Krebs erkrankt ist und im gleichen Ort wohnt. Eine Probefahrt hat gezeigt, dass die Klägerin sowohl in der Lage ist, dass Dreirad zu beherrschen als auch, es alleine zu nutzen. Gerade im Vergleich zu Taxifahrten bietet es den Vorteil, dass das Erwachsenendreirad vor der Tür abgestellt werden kann und damit jederzeit zur Verfügung steht, sollte die Klägerin von Angst ergriffen werden und den Wunsch verspüren, den aktuellen Aufenthaltsort zu verlassen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung anschaulich und überzeugend dargelegt, dass allein das Wissen, dass das Dreirad draußen vor der Tür stehe, ihr Sicherheit gebe und es ihr ermögliche, ruhig und in Gesellschaft vor Ort zu bleiben. Dabei ist es ihr sehr wichtig, Gruppen zu besuchen und in Kommunikation mit Menschen einzutreten. Es ist für die Kammer sehr deutlich geworden, dass die Klägerin ein kommunikativer Mensch ist, der das Bedürfnis nach Gesellschaft verspürt und durch ein Dreirad die Möglichkeit bekommt, der Einsamkeit zu entfliehen. Gerade das Inkommunikationtreten mit anderen Menschen ist anerkanntes Teilhabeziel, genauso wie bereits das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung als Teilhabeziele anerkannt sind (BSG, Urteil vom 19. Mai 2022 – B8 SO 13/20 R, kann 13). Die Klägerin ist derzeit gerade aufgrund ihrer Behinderung daran gehindert, dem Bedürfnis nach Kommunikation und Gesellschaft in gleicher Weise nachzugehen wie nicht behinderte Menschen. Sie hat daher Anspruch auf Übernahme der erforderlichen behinderungsbedingten Kosten, hier der Kosten zur Anschaffung eines Dreirades, um das Teilhabeziel zu verwirklichen.

Vorliegend sind die Kosten zur Überzeugung der Kammer auch erforderlich, da andere gleich geeignete Wege, das Ziel zu erreichen, nicht vorhanden sind. Dies ergibt sich für die Kammer zum Einen aus der Aussage der qualifizierten Assistentin im Rahmen der mündlichen Verhandlung, die einleuchtend und plausibel geschildert hat, dass Fahrdienste oder Taxiunternehmen der Klägerin nicht die gleiche Sicherheit gäben, da diese in der Regel nicht auf unbestimmte Zeit vor Ort während des Aufenthalts der Klägerin bei einem Frühstückstreff oder Café warteten. Zum anderen kann für die hier vielseitig angesprochene Freizeitgestaltung – Selbsthilfegruppen, Frühstückstreffs, offenes Café, Besuchsfahrten – auch nicht vollständig auf die Hilfe durch Familie, Freunde und Verwandte verwiesen werden. Denn bereits im Hinblick auf die Tageszeiten der angebotenen Treffs möchte die Klägerin flexibel sowohl vormittags als auch nachmittags das Haus verlassen können, sodass berufstätige Verwandtschaft oder Bekannte kaum in gleicher Weise flexibel zur Verfügung stehen können.

Zum anderen ist gerade die Selbstbestimmtheit und Eigenständigkeit vordergründiges Ziel der Eingliederungshilfe, also das Leben unabhängig von der Zeit und Hilfsbereitschaft anderer Menschen. Der behinderte Mensch soll nicht in die Rolle eines Bittstellers gedrängt werden, vgl. auch Art 19 UN-BRK. Die UN-BRK ist als Auslegungshilfe im nationalen Recht heranzuziehen (BVerfG vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18, Rz 40 nach juris). Nach Art 19 UN-BRK ermöglichen die Vertragsstaaten behinderten Menschen eine unabhängige Lebensführung.

Auch in diesem Licht betrachtet sind die personenzentrierten Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß § 104 Abs. 1 SGB IX an der Besonderheit des Einzelfalls zu messen und nach Abs. 2 ist Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen, soweit diese angemessen sind. Die Angemessenheit liegt vorliegend bereits darin begründet, dass ein gleich geeignetes Mittel zur Deckung des Bedarfs nicht vorhanden ist. Von einer Unangemessenheit kann darüber hinaus angesichts des vorgelegten Kostenvoranschlags nicht die Rede sein.

Die Entscheidung zu den Kosten ergibt sich aus §§ 193 Abs. 1, 183 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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