L 13 AS 152/23

Sozialgericht
SG Aurich (NSB)
1. Instanz
SG Aurich (NSB)
Aktenzeichen
S 55 AS 617/17
Datum
-
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 13 AS 152/23
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 

Das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 13. Juni 2023 wird aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Aurich vom 13. Juni 2023, mit dem seine überzahlte Leistungen in Höhe von 26.046,70 € betreffenden Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 2017 aufgehoben worden sind.

Die 1950 in Kasachstan geborenen, miteinander verheirateten Kläger standen u. a. im Streitzeitraum von Oktober 2007 bis Juli 2013 bei dem Beklagten im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), bis September 2009 in Bedarfsgemeinschaft mit ihrer 1985 geborenen Tochter. Sie bewohnten eine Mietwohnung in Leer, für die im Streitzeitraum eine Grundmiete von 253,38 € (ab Dezember 2009: 266,98 €, ab März 2011: 284,90 €), eine Betriebskostenvorauszahlung von 67,98 € (ab Oktober 2020: 59 €, ab November 2011: 68 €) und Heizkostenvorauszahlungen von anfänglich 74 € und zuletzt 105 € zu entrichten waren. Der Kläger zu 2.) versicherte in seinem für die Bedarfsgemeinschaft gestellten Erstantrag vom 14. März 2005 sowie in allen Folgeanträgen mit seiner Unterschrift die Richtigkeit der gemachten Angaben und verpflichtete sich, Änderungen, u. a. der Einkommensverhältnisse, unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen. Auch die Bewilligungsbescheide des Beklagten enthielten den Hinweis, dass jede Änderung in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die für den Anspruch erheblich sei, unverzüglich mitzuteilen sei. In dem Erstantrag war angegeben, dass die Klägerin zu 1.) Arbeitseinkommen erziele, welches in einer vorgelegten Einkommensbescheinigung des Restaurants „K. L.“ (nachfolgend als L. bezeichnet) vom 15. März 2005 mit gleichbleibend 400 € (brutto=netto) beziffert wurde. Mit Datum vom 23. März 2006 bescheinigte das L. ein auf den Betrag von 150 € verringertes Bruttoarbeitsentgelt ab April 2006. Nach einer weiteren Einkommensbescheinigung vom 23. August 2006 betrug das monatliche Bruttoarbeitsentgelt ab Juli 2006 100 €. Dieser Betrag wurde fortan als Brutto- und Nettoarbeitsentgelt bei der Leistungsberechnung berücksichtigt. In dem die Zeit ab September 2007 betreffenden Folgeantrag vom 6. August 2007 wurden in dem Abschnitt V („Einkommensverhältnisse der in der Bedarfsgemeinschaft aufgeführten Haushaltsangehörigen“) hinsichtlich der Klägerin zu 1.) keine Eintragungen vorgenommen, auch nicht zu ausdrücklich abgefragten Erwerbseinkünften. Vielmehr wurde die die Klägerin betreffende Spalte komplett durchgestrichen, während zu dem Einkommen der Tochter Angaben gemacht wurden. Der Abschnitt V des Vordrucks mit der Unterschrift des Antragstellers war mit der Überschrift versehen: „Bitte überprüfen Sie Ihre Angaben nochmals genau. Vermeiden Sie in jedem Fall unrichtige und unvollständige Angaben.“ Er enthielt die Versicherung der Richtigkeit der Angaben durch den Antragsteller und wiederum den Hinweis, dass künftige Änderungen, u. a. in den Einkommensverhältnissen, unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen seien. Die nachfolgenden, im Streitzeitraum gestellten Folgeanträge waren jeweils mit zwei Unterschriften (Kläger zu 1. und 2.) versehen. Zu dem Einkommen der Klägerin zu 1.) wurden durchgehend keine Angaben gemacht, entweder war die betreffende Spalte komplett durchgestrichen oder sie enthielt keine Eintragungen. In den neueren Antragsformularen war die Erzielung von Einkommen ausdrücklich zu verneinen oder zu bejahen. Sie enthielten zudem den Hinweis, dass Einkommen immer einzutragen sei, auch wenn keine Änderungen erfolgt seien. In den betreffenden Formularen, die die Kläger für die Bezugszeiten ab März 2011 vorlegten, wurde bei der Frage nach der Erzielung von Einkommen jeweils „nein“ angekreuzt.

 

Ungeachtet der Angaben der Kläger berücksichtigte der Beklagte im Streitzeitraum durchgehend das aus der letzten Einkommensbescheinigung ersichtliche Arbeitsentgelt von 100 €, wobei sich nach Abzug des Grundfreibetrags von 100 € kein Anrechnungsbetrag ergab. Offenbar aus Anlass eines zur Akte genommenen Zeitungsartikels über das L., in dem die Klägerin zu 1.) mit der Bildunterschrift „A. B. (Küche)“ abgebildet wurde, wurden die Kläger mit Schreiben vom 11. Dezember 2007 zur Vorlage einer Einkommensbescheinigung aufgefordert. In der daraufhin zu den Akten gelangten Bescheinigung (ohne Datum), in der als Ansprechpartnerin die Zeugin M. aufgeführt war, wurde ein gleichbleibendes monatliches Nettoarbeitsentgelt von 100 € bei einer regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit von 20 Stunden angegeben.

Bei der Leistungsberechnung im Streitzeitraum berücksichtigte der Beklagte neben den gesetzlichen Regelbedarfen die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft (Grundmiete und Betriebskosten), während er bei den Heizkosten nach einer Kostensenkungsaufforderung (Schreiben vom 26. Januar 2010) ab August 2010 Kürzungen wegen Unangemessenheit vornahm. Im Streitzeitraum erteilte er für die einzelnen Bewilligungszeiträume die folgenden Bescheide:

 

Bewilligungszeitraum                                     Bescheid

 

09/07 – 02/08                                                 Bewilligungsbescheid vom 6. August 2007

                                                                       Änderungsbescheid vom 21. November 2007

 

03/08 – 08/08                                                 Bewilligungsbescheid vom 13. Februar 2008

                                                                       Änderungsbescheid vom 19. Juni 2008

 

09/08 – 02/09                                                 Bewilligungsbescheid vom 21. August 2008

                                                                       Änderungsbescheid vom 8. September 2008

 

03/09 – 08/09                                                 Bewilligungsbescheid vom 10. Februar 2009

                                                                       Änderungsbescheid vom 9. April 2009

 

09/09 – 02/10                                                 Bewilligungsbescheid vom 12. August 2009

                                                                       Änderungsbescheid vom 24. September 2009

                                                                       Änderungsbescheid vom 11. November 2009

                                                                       Änderungsbescheid vom 26. Januar 2010

                                                                       Änderungsbescheid vom 28. Januar 2010

 

03/10 – 08/10                                                 Bewilligungsbescheid vom 19. Februar 2010

09/10 – 02/11                                                 Bewilligungsbescheid vom 4. August 2010

                                                                       Änderungsbescheid vom 12. August 2011

 

03/11 – 08/11                                                 Bewilligungsbescheid vom 31. Januar 2011

                                                                       Änderungsbescheid vom 12. August 2011

 

09/11 – 02/12                                                 Bewilligungsbescheid vom 12. August 2011

                                                                       Änderungsbescheid vom 14. November 2011

                                                                       Änderungsbescheid vom 11. Mai 2012

 

03/12 – 08/12                                                 Bewilligungsbescheid vom 16. März 2012

                                                                       Änderungsbescheid vom 11. Mai 2012

 

09/12 – 02/13                                                 Bewilligungsbescheid vom 28. August 2012

 

03/13 – 08/13                                                 Bewilligungsbescheid vom 13. Februar 2013

 

Mit Schreiben vom 15. Januar 2016 übersandte das Hauptzollamt Oldenburg dem Beklagten ein Konvolut mit Kopien handschriftlicher Listen, die von der Zeugin M. für den Zeitraum von September 2007 bis Juni 2013 geführt und in ihren Privaträumen in Rahmen einer Hausdurchsuchung aufgefunden worden waren. Es handelte sich um monatsweise geführte Aufstellungen (jeweils eine Seite für jeden Kalendermonat), wobei die beiden ersten bzw. die drei ersten Spalten mit „Kellner 1“, „Kellner 2“ oder „Theke“ sowie später mit „#1“, „#2“ und/oder „#3“ überschrieben waren und weitere Spalten verschiedene Vornamen, u. a. „A.“, als Überschriften hatten. Die in der Spalte „A.“ eingetragenen Einzelbeträge summierten sich auf Monatsbeträge zwischen 55 € und 1.322 €. Das Hauptzollamt wertete die in den einzelnen Spalten mit den Vornamen eingetragenen Beträge als ausgezahlte Schwarzlöhne und legte diese einer Lohnsteuernachforderung zugrunde, die von der Zeugin M. beglichen wurde. Aufgrund dieses Sachverhalts wurde die Zeugin M. wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt. Die Deutsche Rentenversicherung Bund erteilte auf der Grundlage dieser Listen einen an das Restaurant L. UG (haftungsbeschränkt), vertreten durch die Zeugin M. als Geschäftsführerin, adressierten Bescheid vom 9. Dezember 2016, mit dem Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 41.941,98 € für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis 30. Juni 2014 nachgefordert wurden. Die Anlage zu dem vom Senat im Berufungsverfahren angeforderten Bescheid enthält hinsichtlich der Klägerin zu 1.) eine Nachberechnung von Sozialversicherungsbeiträgen für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 30. Juni 2013, denen Barlöhne aus den Listen der Zeugin M. (Spalte „A.“) zugrunde liegen. Ein weiterer von der Deutschen Rentenversicherung Bund erteilter Nachforderungsbescheid vom 9. Dezember 2016 ist an die Mutter der Zeugin als damalige Inhaberin des Restaurants L. adressiert und betrifft Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 36.638,87 € für die Zeit vom 1. September 2007 bis 31. Dezember 2011. Die aus der Anlage ersichtliche Nachberechnung hinsichtlich der Klägerin zu 1.) bezieht sich auf den Zeitraum von Februar 2009 bis Dezember 2011 und auf Barlöhne, die wiederum aus den handschriftlichen Listen übernommen worden waren.

Nach vorheriger Anhörung (Schreiben vom 19. Februar 2016) erteilte der Beklagte die angefochtenen zwei Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 17. März 2016. Mit diesen korrigierte er – gestützt auf § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) – seine Leistungsbewilligungen für die Zeiträume von Oktober 2007 bis Januar 2008, Juli 2008 bis November 2010, Januar 2011 bis Februar 2011 sowie April 2011 bis Juli 2013 und hob seine für die betreffenden Leistungsmonate erteilten Bewilligungs- und Änderungsbescheide teilweise auf. Beigefügt waren Berechnungsbögen für die von der Teilaufhebung betroffenen Leistungsmonate, denen zu entnehmen war, dass der Beklagte die aus den handschriftlichen Aufzeichnungen der Zeugin M. ersichtlichen Monatsbeträge (Spalte „A.“) abweichend von den Nachforderungsbescheiden der Deutschen Rentenversicherung im Folgemonat als korrigiertes Erwerbseinkommen der Klägerin zu 1.) angerechnet hatte, soweit sich die Beträge auf über 100 € beliefen. Der Beklagte errechnete Überzahlungen von insgesamt 12.837,83 € (Klägerin zu 1.) und 12.875,30 € (Kläger zu 2.) und machte die Erstattung dieser Beträge geltend. Zur Begründung gab der Beklagte an, dass die Klägerin zu 1.) nach den „Gehaltslisten“ der Zeugin M. ein höheres Einkommen erzielt habe, als bisher zugrunde gelegt worden sei. Auf Vertrauensschutz könnten sich die Kläger nicht berufen, da sie in ihren Leistungsanträgen grob fahrlässig unrichtige Angaben gemacht hätten.

Die hiergegen mit der Begründung, das bei der Neuberechnung zugrunde gelegte Einkommen sei tatsächlich nicht erzielt worden, eingelegten Widersprüche wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. September 2017 zurück. Er stellte weiterhin auf die „Gehaltslisten“ der Zeugin M. ab, die Kläger hätten keine anderslautenden Nachweise vorgelegt.

Die Kläger haben am 20. September 2017 Klage erhoben und vorgetragen, dass die Klägerin zu 1.) seit 2003 mit Unterbrechungen eine geringfügige Beschäftigung als Küchenhilfe im L. ausgeübt habe. Die wöchentliche Arbeitszeit habe in den Jahren 2007 bis 2013 durchschnittlich sechs Stunden betragen, aufteilt auf drei Tage zu jeweils zwei Stunden. Der ausgezahlte Nettolohn habe in diesem Zeitraum durchgehend 100 € betragen, dies entspreche einem Stundenlohn von 4 €. Der Lohn sei jeweils in bar ausgezahlt worden, und zwar zu keinem Zeitpunkt mehr als 100 € monatlich. Gehaltsabrechnungen habe die Klägerin zu 1.) nach ihrer Erinnerung im Streitzeitraum nicht erhalten. Soweit sich der Beklagte auf handschriftliche Listen berufe, sei unklar, wer diese gefertigt habe und ob die darin aufgeführten Beträge tatsächlich an bestimmte Personen ausgezahlt worden seien. Die Listen könnten schon deshalb nicht richtig sein, weil die Klägerin zu 1.) vom 15. Juni bis zum 6. Juli 2009, vom 26. August bis 15. September 2011 und vom 15. August bis zum 13. September 2013 in Kasachstan gewesen sei. Insoweit hat die Klägerin zu 1.) Kopien ihres Reisepasses vorgelegt, wobei sich die beiden zuerst genannten Zeiträume anhand von Visa sowie Ein- und Ausreisestempel nachvollziehen lassen, während für den zuletzt genannten Zeitraum lediglich ein Visum vorhanden ist. Ferner ist vorgetragen worden, dass die Klägerin zu 1.) im Streitzeitraum ganz überwiegend als Mutter und Großmutter für ihre Familie im Einsatz gewesen sei, die Tätigkeit im L. habe zeitlich eine völlig untergeordnete Bedeutung gehabt.

Im Übrigen sei die Klägerin zu 1.) der deutschen Sprache nicht mächtig, dementsprechend habe sie auch die Formulare des Beklagten nicht lesen können. Diese seien von der Tochter ausgefüllt und ihr zur Unterschrift vorgelegt worden. Sowohl sie als auch die Tochter seien davon ausgegangen, dass alles seine Richtigkeit habe. Im Übrigen haben die Kläger die Berechnung der Leistungen für Unterkunft und Heizung beanstandet; der Beklagte habe zu geringe Beträge berücksichtigt, nach Aktenlage existiere keine Kostensenkungsaufforderung, eine solche hätten sie auch nie erhalten.

Der Beklagte hat auf eine Aussage der Zeugin M. in einem vor dem SG Oldenburg geführten Verfahren (S 39 AS 672/16) verwiesen. Diese habe dort eingeräumt, dass sie den Beschäftigten seit 2007 durchgehend höhere als die angemeldeten Löhne ausgezahlt habe. Auch habe die Zeugin bestätigt, dass die handschriftlichen Aufzeichnungen die tatsächlichen Lohnauszahlungen an die Beschäftigten wiedergäben.

Die Zeugin M. hat sich sowohl im vorliegenden Verfahren als auch in dem gegen die Kläger wegen Leistungsbetrugs geführten Strafverfahren auf ein Zeugnisverweigerungsrecht im Hinblick auf das seinerzeit noch gegen sie anhängige Strafverfahren berufen. Nach Vernehmung u. a. von zwei Mitarbeitern des O. hat das Landgericht Aurich die Kläger mit – gemäß § 267 Abs. 5 Strafprozessordnung abgekürztem – Urteil vom 26. Februar 2021 – 603 Cs 420 Js 5133/17 (414/17) – vom Vorwurf des Betrugs rechtskräftig freigesprochen, da die vorgeworfenen Taten nicht nachzuweisen gewesen seien. Die Strafakten sind zum vorliegenden Verfahren beigezogen.

Gegen die von dem Senat gehörte Zeugin N., bei der es sich um eine Arbeitskollegin der Klägerin zu 1.) handelte, war ebenfalls ein Strafverfahren wegen Betrugs anhängig, welches mit einem Freispruch endete. Das Protokoll der Hauptverhandlung in dem Verfahren der Zeugin N. und das Urteil haben die Kläger erstinstanzlich vorgelegt.

Mit Urteil vom 13. Juni 2023 hat das SG der Klage stattgegeben und die Bescheide des Beklagten vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 2017 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass dem Beklagten der Nachweis nicht gelungen sei, dass die Klägerin zu 1.) im Streitzeitraum höhere Einkünfte gehabt habe, als bei der Leistungsbewilligung berücksichtigt worden sei. Die in den Listen unter der Spalte „A.“ aufgeführten Beträge könnten nicht eindeutig der Klägerin zu 1.) zugeordnet werden. Zudem habe die Klägerin zu 1.) Urlaubsabwesenheiten für Zeiten nachgewiesen, für die in der betreffenden Spalte Eintragungen zu finden seien. Es könne sich insoweit auch nicht um Nachzahlungen handeln, da der Lohn nach dem Vortrag beider Beteiligten immer sofort in bar ausgezahlt worden sei. Die Aussage der Zeugin M. in dem Verfahren S 39 AS 672/16 des SG Oldenburg betreffe nicht die Klägerin zu 1.) und spreche daher nicht gegen das gefundene Ergebnis.

Gegen das ihm am 5. Juli 2023 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. August 2023 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, dass die in den handschriftlichen Listen der Zeugin M. enthaltenen Spalten mit Namensbezeichnungen eindeutig Personalkosten seien, sie seien teilweise auch ausdrücklich so bezeichnet. Zudem seien für die Zeiten der nachgewiesenen Urlaubsabwesenheiten der Klägerin zu 1.) auch tatsächlich keine Lohnzahlungen eingetragen. Denn die Listen seien von unten nach oben zu lesen, die letzte Zeile entspreche damit dem Monatsersten. Ferner spreche die Aussage der Zeugin M. vor dem SG Oldenburg sehr wohl für die Richtigkeit der Listen insgesamt. Bei lebensnaher Betrachtung könnten die Listen auch keinem anderen Zweck als der eigenen Übersicht der Zeugin über tatsächlich angefallene Personalkosten sowie erzielte Umsätze gedient haben.

Der Beklagte hat im Verhandlungstermin am 16. Juli 2025 im Hinblick auf Berechnungsfehler ein von den Klägern angenommenes Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass die Erstattungsbeträge hinsichtlich der Klägerin zu 1.) auf 9.188,49 € und hinsichtlich des Klägers zu 2.) auf 9.187,69 € reduziert werden.

Er beantragt,

das Urteil des SG Aurich vom 13. Juni 2023 aufzuheben und die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie sind weiterhin der Auffassung, dass die handschriftlichen Aufzeichnungen der Zeugin M. zum Nachweis der Erzielung höheren Einkommens nicht geeignet seien. Zudem hätten die im Strafverfahren gehörten Zeugen sowie eine weitere im Verfahren S 39 AS 672/16 gehörte Zeugin, bei denen es sich um Mitarbeiter/innen des O. gehandelt habe, übereinstimmend ausgesagt, dass die Aufzeichnungen inhaltlich falsch seien.

Die Klägerin zu 1.) ist in einem Erörterungstermin am 14. August 2024 persönlich gehört worden. Sie hat angegeben, dass ihre Arbeitszeiten immer unterschiedlich gewesen seien. Sie habe teilweise auf Abruf gearbeitet. Sie sei aber im Monat immer auf 100 € gekommen, ihre Chefin (die Zeugin M.) habe die Stunden im Blick gehabt. Das Geld sei auf ihr Konto überwiesen worden. Hieran hat die Klägerin zu 1.) in ihrer Anhörung im Verhandlungstermin am 11. Juni 2025 festgehalten und auch erneut bekräftigt, dass sie immer nur 100 € monatlich erhalten habe. Sie hat nunmehr angegeben, dass nicht die Zeugin M., sondern sie – die Klägerin – selbst darauf geachtet habe, dass der Betrag von 100 € nicht überschritten werde.

Die Zeugin M. ist in einem Beweisaufnahmetermin am 24. Januar 2025 vernommen worden. Sie hat bestätigt, dass sie die fraglichen Listen geschrieben habe und sie darin neben den Umsätzen (Spalten „Theke“/“Kellner“) die Gelder notiert habe, die sie an die Mitarbeiter tatsächlich ausgezahlt habe. Darin seien allerdings auch Trinkgelder enthalten gewesen. Soweit in den Listen der Name „A.“ aufgeführt sei, handele es sich um die Klägerin zu 1.). Das Geld sei täglich bei Schichtende in bar an die Mitarbeiter ausgezahlt worden. Die einzelnen Beträge seien auf Thekenzetteln (sog. Kellnerblöcke) festgehalten worden, auf denen auch die an der Theke erzielten Umsätze notiert worden seien. Teilweise seien die ausgezahlten Löhne auch auf Bierdeckel geschrieben worden. Notiert worden seien jeweils der Name des Mitarbeiters und der Auszahlbetrag. Anhand der Thekenzettel bzw. Bierdeckel, die nach ihrer Erinnerung jeweils monatsweise gesammelt worden seien, habe sie – teilweise erst zwei oder drei Monate später – die fraglichen Listen erstellt. Diese beträfen jeweils einen kompletten Monat und hätten der Aufzeichnung der wirtschaftlichen Entwicklung des Restaurants gedient. Sie könne nicht ausschließen, dass sie bei der Erstellung der Listen auch einmal einen Monat vertauscht habe oder einmal ein Thekenzettel gefehlt habe. Auf den Thekenzetteln sei auch nicht immer ein Datum eingetragen gewesen. Diese seien in einer Schublade oder im Kellnerportemonnaie verwahrt worden. Sie würde auch nicht unterschreiben, dass alles so stimme. Auf Nachfrage des Beklagten hat die Zeugin es für möglich gehalten, dass sie die Listen von unten nach oben geführt habe. Höchstwahrscheinlich habe sie diese anhand der Kassenberichte vom Monatsletzten „runtergeschrieben“. Dabei entspräche eine Zeile nicht unbedingt einem Tag. Der Zeugin sind die Einkommensbescheinigungen vom 23. Juni 2006 (Bl. 119 VA), 23. August 2006 (Bl. 128 VA) und die undatierte weitere Bescheinigung aus Dezember 2007 (Bl. 277 VA) vorgelegt worden. Hierzu hat sie ausgesagt, dass sie diese Bescheinigungen ausgefüllt bzw. vervollständigt und unterschrieben habe. Diese Bescheinigungen seien „natürlich falsch“ gewesen, sie habe „ja Schwarzgeld gezahlt“.

Der Senat hat im Verhandlungstermin am 11. Juni 2025 ehemalige Mitarbeiter/innen des O. als Zeugen vernommen (P. Q., R. S., T. U., V. W., X. Y., R. Z., AA. AB., AC. AD., AE. N.

 und AF. AG.). Die Zeugin M. ist im Fortsetzungstermin am 17. Juli 2025 erneut vernommen worden. Wegen der Angaben der Zeugen wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Der Senat hat neben den Verwaltungsakten die die Kläger betreffenden Strafakten der Staatsanwaltschaft Aurich sowie die Akte S 39 AS 672/16 des SG Oldenburg beigezogen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Beiakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist begründet.

Die angefochtenen Rücknahme- und Erstattungsbescheide des Beklagten vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. September 2017 und des im Verhandlungstermin am 16. Juli 2025 erklärten Teilanerkenntnisses sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Das anderslautende Urteil des SG Aurich vom 13. Juni 2023 ist aufzuheben.

Die Bescheide sind formell rechtmäßig, insbesondere sind die Kläger vor Erlass der Bescheide ordnungsgemäß angehört worden (§ 24 SGB X).

Die angefochtenen Bescheide sind auch materiell rechtmäßig. Sie sind zunächst hinreichend bestimmt i. S. des § 33 Abs. 1 SGB X, weil aus ihnen klar und unzweideutig hervorgeht, dass der Beklagte die zugunsten der Kläger in bestimmten Zeiträumen erfolgten Leistungsbewilligungen in bestimmten, näher bezeichneten Bescheiden teilweise aufhebt (vgl. zu den Anforderungen an die Bestimmtheit von Aufhebungsbescheiden: Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 29. November 2012 – B 14 AS 196/11 R – juris Rn. 16 ff. und – B 14 AS 6/12 R – juris Rn. 25 ff.; vom 4. Juni 2014 - B 14 AS 2/13 R - juris Rn. 30 ff.).

Rechtsgrundlage für die Rücknahmeentscheidungen des Beklagten ist § 45 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II. Danach ist ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit er rechtswidrig ist und der Begünstigte sich in Anwendung von § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X nicht auf sein Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsaktes berufen kann.

Bei den Bewilligungs- und Änderungsbescheiden, mit denen der Beklagte den Klägern für die streitbefangenen Zeiträume Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bewilligt hatte, handelt es sich um rechtswidrige Verwaltungsakte, da den Klägern Leistungen in der Höhe, wie sie sich aus den jeweiligen Bescheiden ergibt, nicht hätten bewilligt werden dürfen.

Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II kann Leistungen nur beanspruchen, wer hilfebedürftig ist. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Nach § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld, mithin auch das Einkommen der Klägerin zu 1.) aus ihrer unstreitig ausgeübten Erwerbstätigkeit im L.. In welcher Höhe die Klägerin letztlich Erwerbseinkommen erzielte, hat sich im vorliegenden Verfahren trotz umfangreicher Ermittlungen nicht klären lassen. Allerdings steht nach dem Beweisergebnis zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin im Streitzeitraum nicht – wie in den aktenkundigen Einkommensbescheinigungen angegeben und von dem Beklagten daraufhin zugrunde gelegt – einen gleichbleibenden Monatslohn in Höhe von lediglich 100 € erzielte.

Die Behauptung der Klägerin zu 1.), sie habe zu keinem Zeitpunkt mehr als 100 € monatlich verdient, ist bereits für sich genommen nicht plausibel und im Übrigen durch die vom Senat durchgeführte Beweisaufnahme widerlegt. Der behauptete monatliche Festlohn lässt sich bereits mit der Art der von der Klägerin ausgeübten Tätigkeit nicht vereinbaren. Wenn die Klägerin zu 1.) als Küchenhilfe tätig war und teilweise auf Abruf arbeitete, war die Höhe des erzielten Lohns von den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängig, so dass ein schwankendes Einkommen zu erwarten wäre. Bei lebensnaher Betrachtung wäre die 100 €-Grenze auch nicht stets am Ende einer Schicht erreicht worden, sondern auch während einer laufenden Schicht. Dass aber eine Küchenhilfe in einem Restaurant ihre Tätigkeit abbricht, weil sie ihr monatliches Stundenkontingent erreicht hat, muss als lebensfremd bezeichnet werden. Nähere Einzelheiten, wie dieses angebliche Festlohn-Modell über Jahre praktiziert worden sein soll, hat die Klägerin zu 1.) in ihren Anhörungen im Übrigen auch nicht geschildert, sondern sich auf die allgemeine Behauptung beschränkt, nie mehr als 100 € monatlich erhalten zu haben. Soweit sie Details geschildert hat (Absprache der Arbeitseinsätze), sind diese von der Zeugin M. nicht bestätigt worden.

Außerdem gehen aus den Lohnabrechnungen, die nach der Hausdurchsuchung bei der Zeugin erstmals erstellt worden sind, schwankende Löhne hervor, ohne dass ersichtlich wäre, aus welchen Gründen in den Jahren zuvor bei gleicher Tätigkeit ein Festlohn gezahlt worden sein soll. Den Lohnabrechnungen – soweit sie vorliegen – lassen sich im Übrigen nur für die Monate Oktober 2013 und Januar 2014 Monatslöhne in Höhe von lediglich 100 € entnehmen. In anderen Monaten verdiente die Klägerin zu 1.) deutlich mehr (Juli 2014: 280 €, August und September 2014: 290 €, Oktober und November 2014: 380 €, Dezember 2014: 390 €, Januar 2015: 399,30 €).

Der behauptete feste Monatslohn von 100 € lässt sich ferner auch nicht mit den Erkenntnissen aus den durchgeführten Steuer- und Beitragsnachforderungsverfahren und der im Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme vereinbaren. Danach bestand das Geschäftsmodell der Zeugin M. im Streitzeitraum darin, die Steuer- und Beitragslasten dadurch zu reduzieren, dass sie ihre Beschäftigten ganz überwiegend nur als Aushilfen im Rahmen geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse oder Teilzeitbeschäftigungen anmeldete bzw. von Meldungen gänzlich absah und in beträchtlichem Umfang Schwarzlöhne auszahlte. Diesen Sachverhalt hat die Zeugin nicht nur im vorliegenden Verfahren, sondern auch in den sie betreffenden Verfahren der Steuerbehörden und des Rentenversicherungsträgers eingeräumt und die hieraus resultierenden erheblichen Nachforderungen beglichen. Die Zeugin M. hat für den Fall der Klägerin zu 1.) ausdrücklich bestätigt, dass es sich bei den Eintragungen in den handschriftlichen Listen (Spalte „A.“) um an die Klägerin zu 1.) ausgezahlte Löhne handelt. Ferner hat sie eingeräumt, dass die von ihr erstellten Einkommensbescheinigungen unrichtig waren, da sie an die Klägerin zu 1.) Schwarzgeld ausgezahlt habe. In ihrer Vernehmung im Verhandlungstermin hat sie ausgesagt, dass der angegebene Betrag von 100 € keinen Bezug zur Realität gehabt habe und die Klägerin zu 1.) mit Sicherheit mehr als 100 € erhalten habe. Aus diesen Bekundungen kann nur der Schluss gezogen werden, dass den Einkommensbescheinigungen hinsichtlich der tatsächlich ausgezahlten Löhne keinerlei Beweiswert zukommt. Schließlich hat die Zeugin auch die bereits bei lebensnaher Betrachtung naheliegende Tatsache bestätigt, dass die Löhne aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – mithin auch der Klägerin zu 1.) – schwankend gewesen seien.

Die Richtigkeit der Angaben der Zeugin M. wird durch die übrigen Zeugenaussagen bestätigt. Alle Zeugen haben die Praxis der Barauszahlung der Löhne am Schichtende, welche ein deutliches Indiz für Schwarzarbeit darstellt, geschildert. Ferner hat die Zeugin AD., die ebenfalls in der Küche arbeitete, ausgesagt, dass die Klägerin zu 1.) zur Stammbesetzung der Küche gehört habe, dass sie meist an zwei Tagen in der Woche gearbeitet habe, bisweilen bis zu 12 Stunden täglich, und sie mit Sicherheit auf mehr als 20 Arbeitsstunden monatlich gekommen sei. In diese Richtung geht auch die Aussage des Zeugen Y., wonach die Klägerin zu 1.) während seiner Arbeitszeit eigentlich immer in der Küche gewesen sei und dort seinerzeit nur die Klägerin zu 1.) und die Zeugin M. tätig gewesen seien. Auch nach den Bekundungen der Zeugin Q. war die Küchenarbeit zwischen der Klägerin zu 1.) und der Zeugin M. aufgeteilt. Eine in zeitlicher Hinsicht gänzlich untergeordnete Aushilfstätigkeit, die die Klägerin zu 1.) glauben machen will, erschließt sich aus diesen Aussagen nicht.

Ist nach alledem die Behauptung der Klägerin zu 1.), dass sie im gesamten Streitzeitraum durchgehend lediglich 100 € monatlich verdient habe, widerlegt, lässt sich die Höhe der tatsächlich an sie ausgezahlten Löhne nicht mehr feststellen. Insbesondere hat sich das Zahlenwerk aus den Lohnlisten nach den im Berufungsverfahren gewonnenen Erkenntnissen als nicht hinreichend belastbar erwiesen. Die Darlegungen der Zeugin M. zur Art und Weise der Erstellung der Listen legen Übertragungsfehler in einem Umfang nahe, der nicht vernachlässigt werden kann. Auch die Angaben der übrigen Zeugen, wonach sie Löhne in der in den Listen ausgewiesenen Höhe nicht erhalten hätten, können nicht ohne Weiteres als bloße Schutzbehauptungen gewertet werden, da – außer im Fall der Zeugin N. – alle Rückforderungsverfahren abgeschlossen sind. Die Darstellungen der Zeugen waren auch durchaus plausibel, etwa soweit sie ausgesagt haben, dass sie in den betreffenden Monaten gar nicht mehr in dem L. beschäftigt gewesen seien (Zeugin AD.) oder sogar höhere Löhne erzielt hätten, als in den Listen für sie eingetragen war (Zeuge U.). Der Senat kann vor diesem Hintergrund nicht ausschließen, dass das Hauptaugenmerk der Zeugin M. bei der Erstellung der Listen nicht auf der Richtigkeit der Zuordnung der ausgezahlten Löhne zu den einzelnen Mitarbeiter/innen lag. Den Lohnlisten kommt vor diesem Hintergrund ein Beweiswert lediglich insoweit zu, als die Klägerin zu 1.) deutlich mehr als die von ihr behaupteten 100 € monatlich verdient hat. Sie rechtfertigen allerdings nicht die volle Überzeugung des Senats von der Richtigkeit der für die Klägerin zu 1.) eingetragenen Einzelbeträge und Lohnsummen und sie sind unter Berücksichtigung der dargelegten Zweifelsfragen auch keine taugliche Grundlage für eine Schätzung des erzielten Einkommens (vgl. zur Zulässigkeit einer Schätzung: BSG, Urteil vom 15. Juni 2016 – B 4 AS 41/15 R – juris Rn. 28). Letztlich ist damit die Höhe der tatsächlich erzielten Löhne für alle streitbefangenen Zeiträume ungeklärt geblieben. Dies gilt auch, soweit die Zeugin M. nicht ausgeschlossen hat, dass die Klägerin zu 1.) auch einmal lediglich 100 € erhalten hat, etwa in den umsatzschwachen Wintermonaten. Denn konkrete Angaben hat die Zeugin hierzu nicht machen können.

Für die hier vorliegende Konstellation ungeklärter Einkommensverhältnisse trotz Ausschöpfung sämtlicher verfügbarer Erkenntnisquellen und fehlender Grundlagen für eine realistische Schätzung hat das BSG bereits entschieden, dass der Leistungsbezieher so zu behandeln ist, als ob seine Hilfebedürftigkeit durchgehend nicht vorgelegen hätte (BSG a. a. O. Rn. 29). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die Kläger bereits dem Grunde nach keinen Leistungsanspruch hatten und Leistungen in voller Höhe überzahlt sind. Zwar trägt grundsätzlich die Behörde die objektive Beweislast für die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheids, wenn sie diesen zurücknimmt. Eine Umkehr der Beweislast ist aber gerechtfertigt, wenn eine besondere Beweisnähe zu einem Beteiligten besteht. Das ist anzunehmen, wenn in dessen persönlicher Sphäre oder in dessen Verantwortungssphäre wurzelnde Vorgänge nicht aufklärbar sind und die zeitnahe Aufklärung des Sachverhalts durch unterlassene Angaben oder unzureichende Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung erschwert oder verhindert wird (vgl. BSG, Urteil vom 15. Juni 2016 – B 4 AS 41/15 R – juris Rn. 30 m. w. N.; Senatsurteile vom 21. Dezember 2022 – L 13 AS 477/21 – juris Rn. 59 und vom 24. Januar 2024 – L 13 AS 395/21 – juris Rn. 57). So liegt der Fall auch hier. Eine besondere Beweisnähe der Kläger zu ihren Einkommensverhältnissen ist ohne Weiteres zu bejahen und sie haben durch unzutreffende Angaben in ihren Leistungsanträgen verhindert, dass der Sachverhalt seinerzeit zeitnah aufgeklärt wurde. Auch haben sie weder im Klage- und noch im Berufungsverfahren bei der Aufklärung des Sachverhalts mitgewirkt. Vielmehr hat die Klägerin zu 1.) auf mehrfaches Befragen durch den Senat wahrheitswidrig behauptet, dass die Löhne auf ihr Konto überwiesen worden seien, und sie hat hieran festgehalten, obwohl ihr die Kontoauszüge, aus denen keine Überweisungen ersichtlich sind, vorgehalten worden sind. Im Rahmen dieser offenkundigen Verschleierungstaktik hat die Klägerin zu 1.) zudem widersprüchliche Angaben gemacht. So hat sie im Erörterungstermin am 14. August 2024 angegeben, dass „die Besitzerin“ (wohl die Zeugin M.) ihre Stunden im Blick gehabt habe, so dass sie im Monat immer auf 100 € gekommen sei, während sie im Verhandlungstermin am 11. Juni 2025 behauptet hat, dass sie selbst – nicht die Zeugin M. – hierauf geachtet habe.

Auf Vertrauensschutz können sich die Kläger nicht berufen. Die in Rede stehenden Bewilligungsbescheide beruhen auf Angaben, die sie zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig und unvollständig gemacht haben (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X). Die Angaben der Kläger in sämtlichen Leistungsanträgen waren erkennbar unrichtig, da die Kläger die Erzielung von Einkommen stets gänzlich verneinten. Die Darstellung der Kläger, die Anträge seien wegen fehlender eigener Deutschkenntnisse von der Tochter ausgefüllt worden und sie hätten darauf vertraut, dass alles seine Richtigkeit habe, würde – als wahr unterstellt – allenfalls Vorsatz ausschließen. Wenn die Kläger die Leistungsanträge tatsächlich „blind“ unterschrieben haben, würden sie jedenfalls grob fahrlässig gehandelt haben. Grob fahrlässig i. S. des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, Halbs. 2 SGB X handelt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2024 – B 5 R 14/23 R – juris Rn. 18 m. w. N.). Das „blinde“ Unterschreiben eines von einer dritten Person ausgefüllten Antrags ohne vorherige Prüfung der Richtigkeit der gemachten Angaben stellt zweifellos eine besonders schwere Sorgfaltspflichtverletzung und somit ein grob fahrlässiges Handeln dar (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Oktober 2023 – L 10 R 2383/22 – juris Rn. 35; so im Ergebnis auch BSG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – B 7/14 AS 11/21 R – juris Rn. 24). Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger aufgrund einer Einschränkung ihrer persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit nicht in der Lage waren, die Tragweite ihres Handelns zu überblicken, liegen nicht vor.

Die Fristen des § 45 Abs. 3 S. 3 und Abs. 4 S. 2 SGB X sind gewahrt.

Der Beklagte war nach alledem verpflichtet, seine Bewilligungsbescheide, soweit sie rechtwidrig waren, gemäß § 45 Abs. 1 SGB X aufzuheben. Ein Ermessensspielraum stand ihm insoweit nicht zu (§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III). Da der Beklagte – wie ausgeführt – berechtigt gewesen wäre, seine Bewilligungsbescheide wegen fehlender Hilfebedürftigkeit der Kläger in vollem Umfang zurückzunehmen, kommt es hinsichtlich der stattdessen vorgenommenen Teilaufhebung auf Einzelheiten der Berechnung im Ergebnis nicht an.

Die Verpflichtung zur Erstattung der überzahlten Leistungen folgt aus § 50 Abs. 1 SGB X.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine anteilige Belastung des Beklagten mit den außergerichtlichen Kosten der Kläger ist nicht gerechtfertigt, da das Teilanerkenntnis des Beklagten unter Berücksichtigung der rechtlichen Bewertung des Senats ein Entgegenkommen darstellt. Im Übrigen haben die Kläger durch ihr fortlaufendes Verschweigen erzielten Einkommens über einen Zeitraum von mehreren Jahren den vorliegenden Rechtsstreit veranlasst.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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