1. Die Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 17.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.08.2019, der Klägerin ab dem 15.10.2018 aus der Versicherung des Herrn Z.A. eine große Witwenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
2. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer großen Witwenrente aus der Versicherung des am 27.09.2018 verstorbenen Z.A. (im Folgenden: Versicherter).
Der 1962 geborene Versicherte erkrankte im Jahr 2001 an einer interstitiellen Lungenerkrankung mit schwergradiger restriktiver Ventilationsstörung. Nach einer Keilresektion S 9 rechts sowie einer Dauermedikamenten- und Langzeitsauerstofftherapie bis 2003 erfolgte bis 2014 keine immunsupressive Therapie mehr, sondern vorwiegend naturheilkundliche Therapie, Akkupunktur und Physiotherapie nach Bedarf durchgeführt bzw. verordnet durch seinen Hausarzt, Dr. F.. Daneben fanden regelmäßige Verlaufskontrollen und auch „notfallmäßige“ Vorstellungen bei Atemnotattacken und Dyspnoe in der behandelnden Thoraxklinik am Universitätsklinikum G-Stadt in den Folgejahren statt, mit schwankenden Befunden, aber einem ab 2005 gebesserten und insgesamt stabilen Verlauf. Ab 2013 kam es ausweislich der Befunde der Thoraxklinik zu einer leichten Verschlechterung des Gesundheitszustandes, im Jahr 2014 wurde aufgrund des Fortschreitens der Erkrankung eine Therapie mit MTX empfohlen, aber von dem Versicherten nicht durchgeführt. Es kam sodann wieder zu einer Stabilisierung. Im Januar 2017 wurde der Versicherte wegen Herzbeschwerden im Klinikum H-Stadt stationär aufgenommen, erkrankte dort dann an einer Influenza-Infektion, was zu vermehrten Infekten in der Folgezeit führte. Vom 05.07.2017 bis 14.07.2017 erfolgte ein stationärer Aufenthalt in der Thoraxklinik aufgrund einer respiratorischen Verschlechterung (Exazerbation). Nach einer antibiotischen Therapie kam es zu einer deutlichen klinischen Besserung, es wurde eine Therapie mit MTX begonnen. Vom 01.08.2017 bis 03.09.2017 fand ein stationäres Heilverfahren in der Rehabilitationsfachklinik Espan-Klinik in J-Stadt statt. Ausweislich des Entlassungsberichts fand eine deutliche Besserung der klinischen Symptomatik am Ende des Heilverfahrens statt. Dem Versicherten wurde die Fortführung des körperlichen Trainings und Lungensport sowie die lungenfachärztliche Weiterbetreuung und eine Vorstellung im Schlaflabor empfohlen. Am 06.10.2017 erfolgte eine Notfallaufnahme des Versicherten aufgrund einer akuten Exazerbation. Am 13.10.2017 wurde der Versicherte in die Thoraxklinik übernommen, es kam bis zur Entlassung am 26.10.2017 zu einer Besserung der Beschwerden. Nur einen Tag nach der Entlassung erfolgte eine erneute Notfallaufnahme des Versicherten aufgrund eines Dyspnoeanfalls. Die Behandlung fand bis 07.11.2017 statt und es erfolgte im Rahmen dessen die Vorstellung des Palliativteams der Klinik. Im Falle einer erneuten Verschlechterung erklärte sich der Versicherte mit der Aufnahme auf der Palliativstation einverstanden. In der Folge zeigte sich ein stabiler Verlauf der Erkrankung bis Mai 2018. Aufgrund zunehmender Dyspnoe auch in Ruhe erfolgte am 13.07.2018 erneut eine stationäre Aufnahme in der Thoraxklinik, am 19.07.2018 wurde der Versicherte auf die Palliativ-Station verlegt und auf eigenen Wunsch am 03.08.2018 entlassen. Am 27.09.2018 verstarb der Versicherte nach massiver Verschlechterung des Allgemeinzustandes in der notfallmäßig eingelieferten Thoraxklinik. Laut der Todesbescheinigung des Leichenbeschauers starb der Versicherte an einer respiratorischen Insuffizienz als Folge einer fortgeschrittenen interstitiellen Lungenerkrankung im Endstadium. Der Versicherte bezog seit dem 01.02.2002 bis zu seinem Tod eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Beklagten.
Die 1971 in Bulgarien geborene Klägerin lebte seit 2010 mit dem Versicherten in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammen. 2011 erkrankte die Klägerin an Gebärmutterhalskrebs, es folgte in den kommenden zwei Jahren Chemotherapie sowie mehrere Unterleibsoperationen wegen Fisteln. Am 30.08.2016 stellte die Stadt K-Stadt in Bulgarien eine Ehefähigkeitsbescheinigung und am 09.09.2016 die Geburtsurkunde der Klägerin aus. Zu der nach Angaben der Klägerin und der Standesbeamtin beabsichtigten Eheschließung im Frühjahr 2017 kam es nicht, da die Ehefähigkeitsbescheinigung der Klägerin zu dem Zeitpunkt des Anmeldegesprächs im Standesamt ungültig geworden war. Die Klägerin beantragte sodann eine neue Ehefähigkeitsbescheinigung in Bulgarien. Diese wurde am 17.10.2017 ausgestellt. Die Anmeldung der Ehe erfolgte am 30.10.2017 durch die Klägerin. Die Eheschließung fand am 07.11.2017 im Standesamt A-Stadt statt.
Am 15.10.2018 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Witwenrente bei der Beklagten. Die Beklagte holte medizinische Unterlagen sowie eine schriftliche Aussage der Standesbeamtin ein. Ausweislich der Stellungnahme der Beratungsärztin vom 30.11.2018 habe es für die Erkrankung des Versicherten keine Heilungsmöglichkeit abgesehen von einer Lungentransplantation gegeben, sodass die tödlichen Folgen der Erkrankung grundsätzlich absehbar gewesen seien, aber nicht binnen Jahresfrist nach der Eheschließung. Mit einer solchen Dekompensation sei bei Eheschließung nicht zu rechnen gewesen. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Witwenrente mit Bescheid vom 17.12.2018 aufgrund der unwiderlegten Vermutung einer Versorgungsehe bei einer Ehedauer von weniger als einem Jahr ab.
Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, am 09.01.2019 Widerspruch mit der Begründung ein, dass eine Heiratsabsicht schon länger bestanden habe, was die Ausstellung der ersten Ehefähigkeitsbescheinigung beweise. Der beabsichtigte Heiratstermin im Januar 2017 habe aber aufgrund eines Krankenhausaufenthalts des Versicherten verschoben werden müssen, anschließend sei die Bescheinigung nicht mehr gültig gewesen, weshalb eine neue Ehefähigkeitsbescheinigung während eines Besuches in Bulgarien beantragt werden musste. Als Motiv für die Eheschließung wurde eine gefestigte Beziehung nach überstandener Krebserkrankung der Klägerin angegeben. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 14.08.2019 zurückgewiesen. Die Beklagte führte in dem Widerspruchsbescheid aus, dass die tödlichen Folgen der Lungenerkrankung absehbar gewesen seien, wenn auch nicht binnen Jahresfrist nach der Eheschließung. Dennoch sei die Eheschließung vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Erkrankung und der eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes erfolgt. Es sei nicht nachgewiesen, dass ein Heiratswille bereits vor der Diagnose bestand bzw. warum sich ein bereits manifestierter Heiratswunsch erst zum 07.11.2017 durchführen ließ. Die gesetzlich unterstellte Versorgungsabsicht sei nicht widerlegt.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat hiergegen am 12.09.2019 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Zur Begründung nimmt er Bezug auf die Widerspruchsbegründung und trägt ergänzend vor, dass die Beklagte den Anspruch nicht unvoreingenommen geprüft hab und lediglich die Indizien die für eine Versorgungsehe sprächen herangezogen habe. Darüber hinaus sei die Begründung des Widerspruchsbescheides in sich widersprüchlich, da zwar eingeräumt werde, dass der Tod innerhalb eines Jahres nicht absehbar gewesen sei, zugleich aber eine eilige Eheschließung aufgrund der Verschlechterung des Gesundheitszustandes unterstellt werde. Die Eheschließung sei bereits für Januar 2017 geplant gewesen, was auch dem Hausarzt des Versicherten, Dr. F., bekannt gewesen sei und was dieser auch bereits gegenüber der Beklagten schriftlich mitgeteilt habe.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 17.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.08.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 15.10.2018 aus der Versicherung des Herrn Z.A. eine große Witwenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die durch das Gesetz unterstellte Versorgungsabsicht nicht widerlegt wurde.
Das Gericht hat Befundberichte hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Versicherten eingeholt und hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 18.04.2023 informatorisch angehört sowie die Standesbeamtin Frau L. als Zeugin vernommen. Auf die Vernehmung des ebenfalls geladenen, aber nicht erschienen Zeugen Dr. F. hat die Kammer aufgrund der in der Akte enthaltenen schriftlichen Angaben verzichtet.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichts- sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß §§ 54 Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Ihr steht ein Anspruch auf Gewährung einer Witwenrente nach § 46 Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) zu.
Danach haben Witwen, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tod des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwenrente, wenn sie
1. ein eigenes Kind oder ein Kind des versicherten Ehegatten, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erziehen,
2. das 47. Lebensjahr vollendet haben oder
3. erwerbsgemindert sind.
Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin erfüllt, da sie die Witwe des 2018 verstorbenen Versicherten ist, der die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§§ 50 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 SGB VI) als Rentenbezieher unstreitig erfüllt hatte und sie zum Zeitpunkt des Todes ihres Ehemannes das 47. Lebensjahr vollendet und nicht wieder geheiratet hat.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Anspruch auch nicht wegen § 46 Abs. 2a SGB VI ausgeschlossen. Danach haben Witwen oder Witwer keinen Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.
Die Ehe zwischen der Klägerin und ihrem verstorbenen Ehemann bestand vom 30.10.2017 bis zum 27.09.2018 und damit nur knapp 11 Monate, so dass grundsätzlich die gesetzliche Vermutung des § 46 Abs. 2a SGB VI eingreift.
Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wie sich aus der in § 46 Abs. 2a SGB VI verwendeten Formulierung "es sei denn" ergibt. Sie ist widerlegt, wenn besondere Umstände (insbesondere Unfalltod des Versicherten, vgl. BT-Drucks. 14/4595, S. 44) vorliegen, aufgrund derer trotz kurzer Ehedauer die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Die Widerlegung der Vermutung erfordert nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 292 Zivilprozessordnung (ZPO) den vollen Beweis des Gegenteils. Der Vollbeweis verlangt dabei zumindest einen der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit. Die nur denkbare Möglichkeit reicht hingegen nicht aus. Eine Tatsache ist danach bewiesen, wenn alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon oder einen so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit zu begründen, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2000, B 9 VG 3/99 R). (…) Die Vermutung der Versorgungsabsicht ist nur dann widerlegt, wenn sich bei der Gesamtabwägung aller zur Eheschließung führenden Motive beider Ehegatten ergibt, dass insgesamt nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, dem Hinterbliebenen eine Versorgung zu verschaffen [(vgl. BSG, Urteil vom 28. März 1973, 5 RKnU 11/71) Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 2020 – L 2 R 82/17 –, Rn. 33, juris].
Als besondere Umstände im Sinne des § 46 Abs. 2a SGB VI sind alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalles anzusehen, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen. Dabei kommt es auf die (ggf. auch voneinander abweichenden) Beweggründe (Motive, Zielsetzung) beider Ehegatten an (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 2009, B 13 R 55/08 R). Allgemeine Gesichtspunkte, wie sie in mehr oder weniger starker Ausprägung nahezu bei jeder Eheschließung als Motiv eine Rolle spielen können, rechtfertigen für sich genommen noch nicht die Annahme von „besonderen Umständen“ im Sinne des § 46 Abs. 2a SGB VI (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 17. November 2006, L 5 R 19/06; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 11. Mai 2009, L 8 R 162/07). Um die gesetzliche Vermutung für das Vorliegen einer Versorgungsehe zu widerlegen, reicht es deshalb nicht aus, wenn allein der Wunsch, nicht mehr allein sein zu wollen, die Absicht, eine Lebensgemeinschaft auf Dauer zu begründen, das Bedürfnis, sich zum Ehepartner zu bekennen oder vergleichbare Beweggründe ausschlaggebend für die Eheschließung gewesen sind (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 25. Januar 1972, L 8/V 202/71). Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe derart im Vordergrund standen und für den Heiratsentschluss ausschlaggebend waren, dass in Ansehung der konkreten Situation im Zeitpunkt der Eheschließung nicht mehr von einem überwiegenden Versorgungszweck der Eheschließung ausgegangen werden kann. Dabei sind die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 2009, B 13 R 55/08 R). Die abschließende Typisierung oder Pauschalisierung der von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe ist angesichts der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten nicht möglich (BSG, Urteil vom 6. Mai 2010, B 13 R 134/08 R).
Die von dem hinterbliebenen Ehegatten behaupteten inneren Umstände für die Heirat sind zudem nicht nur für sich isoliert zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der jeweiligen Eheschließung bestehenden äußeren Umstände in eine Gesamtwürdigung einzustellen und unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Falles zu bewerten (vgl. BSG, Urteil vom 6. Mai 2010, B 13 R 134/08 R). Eine besonders gewichtige Bedeutung kommt hierbei stets dem Gesundheits- und Krankheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung zu (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 11. Dezember 2009, L 5 R 84/09). Bei der Heirat eines bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten ist in der Regel die Vermutung des § 46 Abs. 2a SGB VI nicht widerlegt.
Insgesamt gilt, dass bei der abschließenden Gesamtbewertung insbesondere die (inneren und äußeren) Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, um so gewichtiger sein müssen, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war. Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen Annahme („Vermutung“) einer Versorgungsehe bei dem Versterben des versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt werden [(Hessisches LSG, Urteil vom 15. Dezember 2017, L 5 R 51/17); Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 2020 – L 2 R 82/17 –, Rn. 37 - 40, juris].
Gemessen an diesem Maßstab ist die Kammer der Überzeugung, dass es nicht alleiniger oder überwiegender Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen und somit im vorliegenden Fall die gesetzliche Vermutung widerlegt ist. Hierbei stützt die Kammer ihre Auffassung insbesondere auf die Tatsache, dass der Versicherte zum Zeitpunkt der Eheschließung seit mehr als 16 Jahren mit einer lebensbedrohlichen Krankheit gelebt hatte und somit bereits lange bevor sich die Klägerin und der Versicherte kannten feststand, dass der Versicherte irgendwann an dieser Krankheit sterben würde. Die Befundberichte der Thoraxklinik belegen, dass der Versicherte immer wieder mit schweren Verläufen seiner Erkrankung konfrontiert war, auch eine Lungentransplantation als letzte Möglichkeit einer sonst unheilbaren Krankheit stand bereits zu Beginn der Erkrankung im Raum. Immer wieder erholte sich der Versicherte und vertraute auch diesmal zur Überzeugung der Kammer auf eine Besserung oder zumindest Stabilisierung seines Zustandes. Nachvollziehbar hat die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass der Versicherte bereits zu Beginn seiner Erkrankung auf die Möglichkeit einer Palliativbehandlung und damit auf den tödlichen Verlauf der Krankheit von seinen Ärzten hingewiesen wurde. Für die Kammer schilderte die Klägerin glaubhaft, dass sich der Versicherte immer wieder gegen die Krankheit gestellt hatte und darauf vertraute, dass er mit Hilfe seines Hausarztes und dessen naturheilkundlicher Unterstützung eine Stabilisierung seines Zustandes herbeiführen kann, auch nach der deutlichen Verschlechterung ab Juli 2017. Gestützt wurde diese Hoffnung des Versicherten durch seine Krankheitsgeschichte. Die schwergradige restriktive Ventilationsstörung bestand seit 2001, ausweislich der Befundberichte kam es auch in den ersten Jahren nach der Diagnose immer wieder zu Notfallvorstellungen in der Thoraxklinik. Dennoch verbesserte sich sein Zustand ab 2003 deutlich und konnte Jahrelang stabilisiert werden. Ab 2013 schritt die Erkrankung fort, auf Verschlechterungen im Gesundheitszustand folgten aber immer wieder Verbesserungen bzw. Stabilisierungen, auch im Zeitraum nach der Eheschließung belegen die Befundberichte einen stabilen Verlauf bis Mai 2018. Die Kammer ist daher von den Angaben der Klägerin überzeugt, dass der Versicherte mit dieser lebensbedrohlichen Krankheit zu leben gelernt hatte und seine privaten Ziele – wie die Eheschließung mit der Klägerin – nicht von der Krankheit abhängig machte und im Zeitpunkt der Eheschließung beide Eheleute nicht davon ausgingen, dass der Versicherte zeitnah sterben würde. Die Klägerin hat sich auf die Einschätzung des Versicherten verlassen, dass er es auch diesmal packen würde. Gestützt wird diese Prognose auch von der Beratungsärztin der Beklagten. Ausweislich ihrer Stellungnahme vom 30.11.2018 war auch aus beratungsärztlicher Sicht bei Eheschließung nicht damit zu rechnen, dass die Erkrankung binnen Jahresfrist in einer Form dekompensiert, dass ab Juli 2018 eine Palliativkomplexbehandlung durchgeführt werden musste. Gleiches hat der Hausarzt des Versicherten in seiner ärztlichen Bescheinigung zur Vorlage bei der Beklagten vom 07.03.2019 mitgeteilt.
Selbst unter der Annahme, dass der Klägerin zum Zeitpunkt der Eheschließung am 07.11.2017– wie von der Beklagten angenommen – bewusst war, dass der Versicherte voraussichtlich in absehbarer Zeit sterben wird, liegen in diesem Fall zur Überzeugung der Kammer weitere besondere Umstände vor, die das Vorliegen einer Versorgungsehe widerlegen. So bestand bereits vor der deutlichen Verschlechterung im Gesundheitszustand des Versicherten ein konkret manifestierter Heiratswunsch der Klägerin und des Versicherten. Dies belegen die im August und September 2016 in Bulgarien ausgestellten Urkunden, die für die Eheschließung in Deutschland erforderlich und dafür von der Klägerin in Bulgarien angefordert worden waren. Die Angaben der Klägerin stimmen mit den vorgelegten Unterlagen und den glaubhaften Angaben der Standesbeamtin überein. Danach hatte bereits im Frühjahr 2017 ein Termin zur Anmeldung der Ehe im Standesamt stattgefunden. Der genaue Termin konnte aufgrund der vernichteten Daten von der Standesbeamtin nicht mehr genannt werden. Allerdings wurde übereinstimmend von ihr und der Klägerin vorgetragen, dass die sechsmonatige Gültigkeit der Ehefähigkeitsbescheinigung der Klägerin zum Zeitpunkt des Anmeldetermins kurz zuvor abgelaufen war. Somit muss der erste Termin zur Anmeldung der Ehe im März oder April 2017 – und damit vor der akuten Exazerbation der Erkrankung des Versicherten (im Oktober 2017) – stattgefunden haben. Die Heiratsabsichten waren demnach auch schon vorher hinreichend konkret und die tatsächliche Eheschließung am 07.11.2017 stellt sich als die konsequente Verwirklichung einer schon vor Bekanntwerden der Erkrankung [hier: vor Bekanntwerden der akuten Verschlechterung bei langjähriger, chronischer Krankheit] gefassten Heiratsabsicht dar (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juli 2003, L 2 U 360/01, zitiert nach Bayer. Landessozialgericht, Urteil vom 20. Februar 2013 – L 1 R 304/11 –, Rn. 41, juris).
Dies beweist, dass andere Heiratsmotive als der vermutete Wunsch nach Versorgung im Vordergrund standen. Glaubhaft schilderte die Klägerin, dass der Versicherte sie seit dem Kennenlernen unbedingt heiraten wollte. Auch die Standesbeamtin gab in ihrer Vernehmung an, dass der Kläger sie vier bis fünf Jahre vor der eigentlichen Eheschließung bei einem zufälligen Treffen nach den Voraussetzungen für eine Heirat mit der aus Bulgarien stammenden Klägerin fragte. Die Krebserkrankung der Klägerin führte dazu, dass auch bei der Klägerin der bisher nicht bestehende Wunsch nach einer Heirat wuchs. Als Gründe gab sie überzeugend den Wunsch nach eigenen Kindern an, der aber nach der Krebserkrankung und der Chemotherapie nicht mehr verwirklicht werden konnte, sodass eine Adoption in Betracht gezogen wurde. Voraussetzung für eine Adoption wäre nach den Angaben der Klägerin eine Heirat gewesen, weshalb dies vorher erfolgen sollte. Die Kammer hält das Heiratsmotiv zur Vorbereitung einer Adoption vorliegend für glaubhaft, da die Klägerin selbst als Kind adoptiert worden war, ein solches Vorgehen zur Erfüllung des Kinderwunsches demnach nicht fernliegend für sie gewesen ist. Überzeugend schildert die Klägerin, dass sie nach der Krebserkrankung und den Unterleibsoperationen mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, sodass eine Heirat nicht sofort nach der Heilung für sie in Betracht kam. Abgesehen von dem Wunsch einer Adoption schildert die Klägerin nachvollziehbar, dass sie bis zur Eheschließung keine Informationen von Ärzten über den Gesundheitszustand des Versicherten erhalten hatte. Diese belastende Ungewissheit, als der Versicherte im Frühjahr 2017 plötzlich eine Verschlechterung im Krankenhaus aufgrund der dort erfolgten Influenza-Infektion erlitt, bestärkte nochmals die Entscheidung nun endlich zu heiraten. Diesem Entschluss entsprechend folgte zeitnah im März oder April 2017 der erste – letztlich erfolglose (s.o.) – Termin zur Anmeldung der Eheschließung im Standesamt A-Stadt.
Unter Abwägung aller zur Eheschließung führenden Motive beider Ehegatten und der konkreten Umstände der Erkrankung des Versicherten ist die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe vorliegend widerlegt.
In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass auf die Vernehmung des geladenen, aber unentschuldigt nicht erschienen Zeugen, Dr. F., im Kammertermin verzichtet werden und in der Sache entschieden werden konnte. Weitergehende medizinische Angaben des Hausarztes sind in Anbetracht der ausführlichen und fachspezifischen Befundberichte der Thoraxklinik sowie der beratungsärztlichen Stellungnahme nicht zu erwarten gewesen. Die von der Klägerseite unter Beweis gestellten Angaben des Dr. F. bzgl. einer konkret bestehenden, früheren Heiratsabsicht der Klägerin und des Versicherten konnten anhand der umfassenden und glaubhaften Angaben der Klägerin und der Standesbeamtin nachgewiesen werden. Aus diesem Grund konnte auch auf die Verhängung eines Ordnungsgeldes verzichtet werden.
Die Klägerin hat somit einen Anspruch auf Gewährung einer großen Witwenrente. Der erforderliche Antrag gemäß § 115 Abs. 1 Satz 1 SGB VI liegt vor. Der Beginn der Rentenzahlung richtet sich nach § 99 Abs. 2 SGB VI. Danach beginnt die Rente mit dem Monat, der auf den Sterbemonat des Versicherten folgt. Die Ausnahmeregelung des § 99 Abs. 2 Satz 2 SGB VI greift vorliegend nicht, da an den Versicherten im Sterbemonat eine Rente wegen Erwerbsminderung geleistet wurde. Abweichend vom Tenor hat die Klägerin somit richtigerweise einen Anspruch auf Zahlung einer großen Witwenrente bereits ab dem 01.10.2018.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. Das Rechtsmittel der Berufung folgt aus §§ 143 ff. SGG.