L 32 AL 5/25 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
32
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 39 AL 107/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AL 5/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Einstweiliger Rechtsschutz wird, wenn der rechtzeitig gestellte Antrag auf Verlängerung der Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung abgelehnt wird, durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG gewährt.

Die Versagung der Verlängerung der Erlaubnis stellt einen Eingriff in die durch Art. 12 und Art. 14 GG geschützte Berufs- und Gewerbefreiheit dar.

Die hinsichtlich der Zuverlässigkeit zu treffende Prognoseentscheidung ist, auch wenn sie an Umstände der Vergangenheit anknüpft, zukunftsgerichtet; miteinzubeziehen in die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu treffende Prognoseentscheidung sind auch die zwischenzeitlich durch die Antragstellerin absolvierten Fortbildungen zur Arbeitnehmerüberlassung.     

 

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 2023 und der Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. März 2019 aufgehoben.

 

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit einem an ihre Körpermaße angepassten Aktivrollstuhl, der ihr das Erreichen sämtlicher Wohnräume ihrer derzeitigen Wohnung ermöglicht, zu versorgen.

 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

 

Die 1976 geborene Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl.

 

Sie leidet an spastischer Tetraparese mit generalisierter Spastik, zerebraler Bewegungsstörung der Extremitäten, Muskeltonusstörung, Störung der Fein- und Grobmotorik, Dysarthrie, Dysplasie-Coxarthrose beidseitig Grad 1, einem chronischen Schmerz­syndrom Stadium II nach Gerbershagen und mit somatischen und psychischen Faktoren, Harninkontinenz sowie einer Facettendegeneration L3-S1 und einer rheumatischen Erkrankung. Ihr sind ein Grad der Behinderung von 90 sowie die Merkzeichen B, G und aG zuerkannt. Sie bezieht neben einer Rente wegen voller Erwerbsminderung und Leistungen der Grundsicherung seit spätestens 2006 – bedingt u.a. durch ausgeprägte Koordinationsstörungen sowie eine eingeschränkte Halte- und Greiffunktion – wegen Hilfebedarfs in den Bereichen Körperpflege, Bekleidung, Ernährung, Ausscheidung und Mobilität Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe II, spätestens seit Januar 2017 nach Pflegegrad 3.

 

Mit ihrem Lebensgefährten lebt sie im Berliner Bezirk Reinickendorf in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im über eine Rampe erreichbaren Hochparterre. Von montags bis freitags arbeitet sie für jeweils 5,5 Stunden in einer Werkstätte im Berliner Bezirk Spandau; für Hin- und Rückfahrt steht ihr ein Fahrdienst zur Verfügung.

 

Die Klägerin ist nicht in der Lage, frei zu stehen oder zu gehen. Es gelingt ihr allenfalls, sich zwei oder drei Schritte weit mit Festhalten und erheblichen Abstützen am Mobiliar, am Rollstuhl oder an andere Personen fortzubewegen. Ihre Wohnung kann sie, wenn sie im Elektrorollstuhl sitzt, eigenständig verlassen; beim Umsetzen auf den jeweils anderen Rollstuhl, das WC oder die Bettkante benötigt sie Hilfe. In ihrer Wohnung kann sich die Klägerin nur an guten Tagen, d.h. mit wenigen Spastiken, mithilfe des Rollators fortbewegen. Im Übrigen nutzt sie dort – wie auch im Nahbereich der Wohnung – einen von der Beklagten 2012 bewilligten Aktivrollstuhl. Im sonstigen Außenbereich, insbesondere für den Weg zur Arbeit, kommt ein von der Beklagten im November 2015 bewilligter Elektrorollstuhl (Hersteller: Permobil; Modell „C400 Low Rider 3G“, Gesamtbreite 62 cm, Gesamtlänge 113 cm) zum Einsatz.

Der vorhandene Aktivrollstuhl ist aufgrund der täglichen Nutzung so stark verschlissen und im Rahmen verzogen, dass er sich nicht mehr leichtgängig fahren lässt. Die Rad-Aufhängungen sind ausgeschlagen, die Lenkradgabeln verbogen, Rückenrohre verzogen und die Sitzbespannung gerissen. Wegen einer Gewichtszunahme bedarf die Klägerin zudem einer veränderten Sitzbreite und -tiefe.

 

Am 19. Januar 2018 verordnete ihr die Fachärztin für Allgemeinmedizin Eigenwillig die „verschleißbedingt[e] Folgeversorgung des Aktivrollstuhls“. Die rehaform GmbH & Co. KG erstellte unter dem 8. Februar 2018 einen Kostenvoranschlag für die Versorgung der Klägerin mit einem Adaptivrollstuhl (Positionsnummer 18.50.03.0205 des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 139 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V [Modell: Sopur Easy Life i]) nebst Zubehör (Sicherheitsrad abschwenkbar links) über einen Betrag von insgesamt 2.344,10 €. Die Klägerin reichte beides bei der Beklagten ein. Diese lehnte den Antrag der Klägerin auf einen Aktivrollstuhl ab, weil sie bereits am 23. November 2015 die Kosten für einen Elektrorollstuhl übernommen habe, es sich hierbei um ein Hilfsmittel mit vergleichbarer Funktion oder vergleichbarem Nutzen handele und deshalb eine weitere Kostenbeteiligung nicht möglich sei (Bescheid vom 14. Februar 2018).

 

Im Widerspruchsverfahren brachte die Klägerin – u.a. gestützt auf ein Attest eines Medizinischen Versorgungszentrums für Erkrankungen des Bewegungsapparates und Spezielle Schmerztherapie vom 27. November 2018 – vor, ihre Wohnverhältnisse seien so eng, dass sie mit dem Elektrorollstuhl in der Wohnung überhaupt nicht fahren könne. Sie benötige den Aktivrollstuhl auch, um weiterhin ihre Hände regelmäßig zu nutzen und hierdurch ihre Motorik zu erhalten.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. März 2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück, weil die Versorgung mit einem zweiten Rollstuhl zur Erschließung des Nahbereichs nicht erforderlich sei und das Maß des Notwendigen übersteige. Die Maße des beantragten Aktivrollstuhls unterschieden sich nicht wesentlich von denen des Elektrorollstuhls. Im Übrigen habe die Krankenkasse nicht für Hilfsmittel aufzukommen, die allein wegen der Wohnsituation benötigt würden.

 

Mit ihrer am 5. April 2019 erhobenen Klage hat die Klägerin vorgebracht: Als sie 2013 in ihre jetzige Wohnung eingezogen sei, sei sie noch deutlich mobiler gewesen. Seither habe sich ihr Gesundheitszustand wesentlich verschlechtert. In ihre Küche komme sie mit den vorhandenen Rollstühlen nicht, da beide zu breit seien. Sie benutze die Küche nur so, dass sie (unsicher) auf dem Rollator sitze. Ihr Bad sei so klein, dass sie keinen der beiden Rollstühle darin nutzen könne. Sie könne lediglich bis zur Tür des Bades fahren und sich dann mit erheblichen Schwierigkeiten halb sitzend unter Abstützen in das Bad hinein bewegen, etwa um die hinter der Tür liegende Toilette zu erreichen. Mit einem neuen Aktivrollstuhl wolle sie ihre Selbstständigkeit und restliche Körperkraft so lange wie möglich erhalten. Mit ihm könnte sie ggf. auch an zwei Tagen wöchentlich zur Arbeit fahren, wie es von ihren Ärzten empfohlen worden sei. Auch soweit sie im Dezember 2021 erneut einen Aktivrollstuhl beantragt habe, gehe es immer nur um eine Ersatzbeschaffung des vorhandenen Aktivrollstuhls. Dieser sei – trotz einer zwischenzeitlich von der Beklagten veranlassten und finanzierten Reparatur – nach wie vor verschlissen und passe nicht mehr auf ihre jetzigen Körpermaße.

 

In der Zeit vom 8. Oktober bis 2. November 2019 nahm die Klägerin einen einer stationären neurologischen Rehabilitationsmaßnahme teil. Bei deren Abschluss konnte sie kurze Strecken bis 75 m ohne Hilfsmittel, jedoch bei erhöhter Sturzgefahr gehen. Treppensteigen gelang ihr mit der Geländerung und einer Begleitperson über eine Etage im Nachstellschritt.

 

Das Sozialgericht hat das medizinische Sachverständigengutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin sowie für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. Schneider vom 18. November 2019 veranlasst. Auf dessen Inhalt nebst Anhängen – u.a. eine Bilddokumentation – wird verwiesen (Bl. 86 bis 131 der Gerichtsakte).

 

Mit Bescheid vom 18. Januar 2022 bewilligte die Beklagte der Klägerin einen neuen Elektrorollstuhl (Hersteller: Permobil; Modell „F5 Corpus“ mit Hubfunktion). Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der Medizinische Dienst (MD) das sozialmedizinische Kurzgutachten vom 11. Januar 2022 und ein „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ vom 23. November 2022.

 

Mit Urteil vom 28. September 2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat sie auf die Versorgung „mit einem schmalen Aktivrollstuhl Sopur Easy Life mit E-Drive“ gerichtet angesehen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt: Nach Überzeugung der Kammer sei die vorhandene Versorgung der Klägerin mit einem Elektrorollstuhl ausreichend bzw. könne durch die zusätzliche Versorgung mit einem Aktivrollstuhl nicht verbessert werden. Soweit die Klägerin mit dem Elektrorollstuhl nicht alle Zimmer ihrer Wohnung erreichen könne, sei auch durch eine Zweitversorgung mit einem Aktivrollstuhl keine Verbesserung zu erreichen. Außerdem seien Krankenkassen im Rahmen des Behinderungsausgleichs nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V grundsätzlich nicht für solche Hilfsmittel eintrittspflichtig, die ein dauerhaft behinderter Versicherter allein wegen seiner individuellen Wohnsituation benötige. In durchschnittlichen Wohnverhältnissen dürfte die Versorgung mit dem von der Klägerin genutzten Elektrorollstuhl geeignet sein, die Mobilität in der Wohnung zu gewährleisten. Soweit die Klägerin den Aktivrollstuhl auch zum Training der Muskeln und zu Bewegung der Arme nutzen wolle, gebe es geeignetere Heil- und Hilfsmittel wie Physiotherapie und Trainingsgeräte.

 

Gegen dieses ihr am 7. Oktober 2023 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 26. Oktober 2023, zu deren Begründung sie ergänzend vorträgt:

Es gehe ihr nicht darum, gerade denjenigen Aktivrollstuhl zu erhalten, für den sie ursprünglich einen Kostenvoranschlag eingereicht habe, auch nicht um einen bestimmten Hersteller oder ein bestimmtes Modell.

Mit ihrem Elektrorollstuhl komme sie in ihre Wohnung nicht hinein. Er stehe deshalb immer vor der Wohnungstür im Hausflur. Ihn nutze sie an ihren Arbeitstagen, weil sie in dem vorhandenen Aktivrollstuhl aufgrund ihrer Körpermaße nur noch maximal zwei Stunden sitzen könne. Sie würde jedoch gerne auf der Arbeit einen Aktivrollstuhl einsetzen, u.a. um ihre Arme zu trainieren. Seitens ihrer Hände bestünden keine Probleme, den Aktivrollstuhl den gesamten Arbeitstag zu nutzen, zumal sie dort auch die Unterstützung anderer Personen erhalten würde.

Um in das Bad ihrer Wohnung zu gelangen, bewege sie sich mit dem Rollator oder auch mit dem Aktivrollstuhl bis vor das Bad und gehe dann zu Fuß hinein; dort könne sie unter anderem einen Dusch-Stuhl benutzen. Bei alledem müsse sie sich stets gut festhalten. Für einen Besuch ihrer Eltern, die im 2. Obergeschoss eines nicht barrierefreien Hauses wohnten, könne sie den Elektrorollstuhl nicht nutzen. Die Treppen zur Wohnung ihrer Eltern könne sie mit fremder Hilfe zu Fuß überwinden.

Zum Einkaufen und für alle anderen Angelegenheiten außerhalb der Wohnung nutze sie den Elektrorollstuhl, weil sie draußen mit dem Aktivrollstuhl die Hilfe anderer Personen benötige, u.a. wegen der Bordsteinkanten. Mit einem auf ihre Körpermaße angepassten Aktivrollstuhl würde sie Aktivitäten unternehmen, die sie zur Zeit wegen der o.g. zeitlichen Einschränkungen bei der Nutzung des vorhandenen Aktivrollstuhls nicht durchführe, z.B. häufiger ihre Eltern oder ihre Freunde besuchen oder sich insgesamt mehr bewegen.

 

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 2023 und den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. März 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie mit einem an ihre Körpermaße angepassten Aktivrollstuhl, der ihr das Erreichen sämtlicher Wohnräume ihrer derzeitigen Wohnung ermöglicht, zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und bringt ergänzend vor: Die Klägerin gelange nach den Angaben des Gutachters und nach ihren eigenen Angaben mit dem Aktivrollstuhl nicht in die Küche. Die Befunderhebung des MD am 23. November 2022 habe bei der Klägerin durch die Spastik bedingte erhebliche Funktionsstörungen der Hände benannt wie z.B. eine beidseits stark eingeschränkte Greif- und Haltefunktion, eine beidseitige Störung der Feinmotorik sowie einen dauerhaften spastischen Faustschluss in der rechten Hand. Im Hinblick auf letzteren erscheine es plausibel, dass die Klägerin den Rollstuhl in der Wohnung nicht selbstständig nutzen könne. Aufgrund unterschiedlicher Angaben zu den Maßen der Rollstühle könne derzeit nicht sicher beurteilt werden, in welche Räume ihrer Wohnung die Klägerin mit dem begehrten Aktivrollstuhl tatsächlich gelangen könne. Gleichzeitig deuteten die neueren Begutachtungsergebnisse darauf hin, dass der Aktivrollstuhl bei progredientem Verlauf der Erkrankung wohl leider nicht mit einer maßgeblichen Erhöhung der Selbstständigkeit innerhalb der Wohnung einhergehen würde und Ortswechsel übernommen werden müssten. Bei diesem Sachstand erscheine es nicht ganz fernliegend, dass die Klägerin trotz ihres Wunsch- und Wahlrechts auf Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes zu verweisen sein könnte, da dies für die Erhöhung der Selbstständigkeit zielführender wäre. Nach dem Gutachten des MD vom 23. November 2022 sei für die Klägerin das Aufstehen aus dem Sitzen nur mit hohem Kraftaufwand durch die Pflegeperson möglich, woraus gleichzeitig geschlossen werden könne, dass ihr ein Transfer nicht mehr eigenständig gelingen würde.

 

Der Berichterstatter hat im Erörterungstermin vom 4. April 2024 die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert. In einem weiteren Erörterungstermin am 30. August 2024 in der Wohnung der Klägerin hat er deren Wohnverhältnisse und ihre Möglichkeiten, mit den aktuell vorhandenen Rollstühlen die Räume der Wohnung zu nutzen, in Augenschein genommen und eine Bilddokumentation, auf die verwiesen wird (Bl. 310 bis 332 der Gerichtsakte), angefertigt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem beide Beteiligte dem zugestimmt haben.

 

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts und die o.g. Bescheide der Beklagten sind aufzuheben, weil die Klägerin von der Beklagten die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl beanspruchen kann.

 

A. Streitgegenstand sind neben dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 2023 die o.g. Bescheide der Beklagten vom 14. Februar 2018 und 7. März 2019 sowie ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Aktivrollstuhl. Ihr Klageziel verfolgt die Klägerin in zulässiger Weise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG).

 

Obwohl die Klägerin ihrem Versorgungsantrag vom Februar 2018 einen auf das Modell „Sopur Easy Life i“ zugeschnittenen Kostenvoranschlag beigefügt hatte und das Sozialgericht über einen hierauf bezogenen Antrag entschieden hat, wird der Anspruch nicht beschränkt auf dieses Modell verfolgt.

 

I. Das Gewollte, also das mit der Klage verfolgte Prozessziel, ist im Wege der Auslegung festzustellen. In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (Meistbegünstigungsprinzip). Diese Auslegung ist unter Berücksichtigung aller Umstände auch vom Berufungsgericht vorzunehmen, ohne an die Auslegung des Sozialgerichts gebunden zu sein (BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 SB 2/16 R –, juris, Rn. 12, m.w.N.).

 

II. Ausgangspunkt ist zunächst die o.g. Verordnung der die Klägerin behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin vom 19. Januar 2018, die sich nur auf einen Aktivrollstuhl, nicht aber auf ein konkretes Modell bezieht. Dass die Klägerin ihren auf die diese Verordnung gestützten Versorgungsantrag mit dem o.g. Kostenvoranschlag eines Sanitätshauses verband, bedeutet aus Sicht des Senats nicht, dass sie ihren Versorgungsanspruch beschränkt auf ein bestimmtes Hilfsmittel geltend macht. Denn zum einen hat die Klägerin im Berufungsverfahren klargestellt, dass es ihr nicht auf die Versorgung mit einem entsprechenden Modell ankomme. Zum anderen waren Besonderheiten unterschiedlicher Modelle an Aktivrollstühlen im Laufe des Verfahrens nicht von Belang. Ausschlaggebend für die Klägerin ist insoweit allein, dass der begehrte Aktivrollstuhl ihr ermöglicht, in sämtliche Räume ihrer Wohnung zu gelangen. Dies liegt auf der Hand und wird auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen. In Übereinstimmung mit dem nicht modellbezogenen Vorgehen der Klägerin hat die Beklagte in den o.g. Bescheiden deren Versorgung mit jeder Art von Aktivrollstuhl abgelehnt.

 

Es ist daher zu erwarten, dass bei einer rechtskräftigen Verurteilung der Beklagten zur Versorgung der Klägerin mit einem Aktivrollstuhl kein zusätzlicher Streit über den Hersteller und das Fabrikat entstehen wird (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2014 – B 3 KR 1/14 R –, juris, Rn. 13).

 

III. Aber auch dann, wenn man keine Klarstellung seitens des Klägerin, sondern eine Umstellung des Antrags annähme und darin eine Klageänderung i.S.v. § 99 SGG erblickte, änderte dies am Ergebnis nichts. Denn diese Klageänderung wäre nach dem o.G. jedenfalls sachdienlich i.S.v. § 99 Abs. 1, 2. Alt. SGG.

 

B. Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hätte die Klage nicht abweisen dürfen. Denn die o.g. Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

 

I. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Versorgung mit dem streitbefangenen Aktivrollstuhl im Rahmen der originären Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung ist § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (Var .1), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (Var. 2) oder eine Behinderung auszugleichen (Var. 3), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Klägerin kann die Versorgung mit dem streitbefangenen Aktivrollstuhl – einem beweglichen sächlichen Hilfsmittel i.S.v. § 33 SGB V – ohne Abzug eines Eigenanteils für ersparte Aufwendungen als Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich beanspruchen, um sich den Nahbereich ihrer Wohnung (hierzu II.), aber auch die Wohnung selbst (hierzu III.) weiterhin unter Einsatz auch der eigenen Körperkraft zu erschließen.

 

II. § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V begründet im Rahmen der originären Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zum mittelbaren Behinderungsausgleich einen Anspruch auf Versorgung mit solchen Hilfsmitteln, die ihrem Zweck nach die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mindern und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbständigen Leben dienen. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören danach das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Für den Versorgungsumfang, insbesondere Qualität, Quantität und Diversität, kommt es entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an (ständige Rechtsprechung; vgl. zuletzt Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 18. April 2024 – B 3 KR 13/22 R –, Rn. 18 ff., juris, mit weiteren Nachweisen [m.w.N.]; alle Urteile des BSG auffindbar auch unter www.bsg.bund.de).

 

1. Im Bereich der Mobilität resultiert daraus beim Verlust der körperlichen Gehfähigkeit ein Anspruch im Rahmen der originären Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung auf Versorgung mit solchen – für den jeweiligen Zweck ausreichenden und den Anforderungen des Wirtschaftlichkeitsgebots genügenden – Hilfsmitteln, die im Nahbereich der Wohnung ein Aufschließen zu den Möglichkeiten von Menschen ohne Beeinträchtigung des Gehvermögens erlauben. Davon umfasst ist auch die Versorgung von mobilitätsbeeinträchtigten Versicherten – sofern sie das wünschen – mit Hilfsmitteln (wie z.B. einem Aktivrollstuhl), mit denen sie sich den Nahbereich der Wohnung mit eigener Körperkraft erschließen können. Für die Aufrechterhaltung der Mobilität im Nahbereich der Wohnung hat die gesetzliche Krankenversicherung im Rahmen ihrer Verantwortung für den mittelbaren Behinderungsausgleich nicht nur einzustehen, damit die für die üblichen Alltagsgeschäfte maßgeblichen Orte trotz gesundheitsbedingt eingeschränkter Bewegungsfähigkeit überhaupt erreicht werden können. Zu den von ihr – in Abgrenzung zu den Aufgabenbereichen anderer Rehabilitationsträger – mit Hilfsmitteln zum mittelbaren Behinderungsausgleich zu befriedigenden "allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens" rechnet vielmehr seit jeher auch das Bedürfnis, die Alltagsverrichtungen in diesem Bereich nach Möglichkeit unter Einsatz eigener (Rest-)Kräfte bewältigen zu können. Das ist Ausdruck der von § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V geschützten personalen Autonomie und die in der Teilhabeorientierung des SGB IX sowie dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) als Grundrecht und objektive Wertentscheidung i.V.m. dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-Behin­derten­rechts­konvention zusätzliche Bekräftigung erhalten hat (BSG, s.o., unter Verweis auch auf Bundesverfassungsgericht [BVerfG] <stattgebender Kammerbeschluss> vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18 –, juris).

 

a. Im Lichte dessen haben die für den mittelbaren Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V u.a. leitenden allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens des Gehens, Stehens oder Greifens nicht nur Bedeutung für die damit erreichbare Ortsveränderung oder Verrichtung. Darin inbegriffen ist auch das als elementar anzuerkennende (Grund-)Bedürfnis, sich als körperlich aktiver Mensch mindestens in einem – was die Mobilität betrifft – umgrenzten lokalen Bereich nach Möglichkeit unter Einsatz der eigenen (Rest-)Körperkraft erfahren und bewegen zu können. Dafür hat die gesetzliche Krankenversicherung in der Zuständigkeitsabgrenzung im Verhältnis zu anderen Rehabilitationsträgern beim mittelbaren Behinderungsausgleich unter Teilhabegesichtspunkten jedenfalls insoweit einzustehen, als zwar einerseits der Anteil der zu Fuß zurückgelegten Wege zurückgegangen ist (vgl. "Mobilität in Deutschland - Kurzreport", Ausgabe September 2019, Seite 6, 13, abrufbar unter https://www.mobilitaet-in-deutschland.de, Stichwortpfad: MiD 2017, Publikationen MiD 2017, recherchiert am 15. November 2024), andererseits jedoch das Bewusstsein für die Bedeutung von ausreichender Bewegung für die allgemeine Gesundheit erheblich zugenommen hat und verbreitet als selbstverständlich anerkannt ist und – auch jenseits explizit sportlicher Betätigung – entsprechenden Ausdruck findet.

 

b. Menschen, die nicht oder nur kürzeste Strecken oder nur unter unzumutbaren Anstrengungen gehen können, dürfen von der Möglichkeit zu solcher Bewegung auch mit eigener Körperkraft zumindest bei Alltagsgeschäften im Nahbereich der Wohnung nicht ausgeschlossen werden, sondern sind mit entsprechenden Hilfsmitteln auszustatten. Dies können sie im Rahmen der von der Risikogemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten zu gewährleistenden Mittel zur Beseitigung oder Milderung der Auswirkungen einer Behinderung im gesamten täglichen Leben auch dann beanspruchen, wenn diese für den Ausgleich bei Einbußen im Hinblick auf weitergehende Sport- oder Freizeitinteressen ständiger Rechtsprechung zufolge grundsätzlich nicht einzustehen hat. Insofern gehen mit einer veränderten Einstellung zur Bedeutung von Bewegung zur Gesunderhaltung berechtigte Teilhabeerwartungen von Menschen mit Einbußen der Gehfähigkeit einher, denen die gesetzliche Krankenversicherung im Rahmen ihrer originären Leistungszuständigkeit für den Behinderungsausgleich Rechnung zu tragen hat (BSG, s.o., m.w.N.).

 

c. Können sich Versicherte wie die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustands oder wegen der topographischen Verhältnisse im Nahbereich der Wohnung einen für sie wesentlichen Teil der erforderlichen Versorgungs- oder Gesunderhaltungswege anders als mit einem Aktivrollstuhl nicht zumutbar unter Einsatz eigener Körperkraft erschließen, hat ihre Krankenkasse sie hiernach regelmäßig mit einem entsprechenden Gerät zu versorgen. Dies kann ggf. auch leihweise erfolgen (vgl. § 33 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Etwas anderes gilt dann, wenn die Versorgung aufgrund der Umstände des Einzelfalls mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) unvereinbar ist – etwa wegen vorhandener weiterer Hilfsmittel für Mobilitätszwecke, einer voraussichtlich nur eingeschränkte Nutzbarkeit des Hilfsmittels oder anderer Ausnahmelagen – oder sich der Anspruch nicht auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, sondern auf eine Optimalversorgung richtet. Ggf. sind gemäß § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V die Mehrkosten im Vergleich zu dem kostengünstigeren, funktionell ebenfalls geeigneten Hilfsmittel selbst zu tragen (BSG s.o., m.w.N.).

 

2. Ob der Nahbereich der Wohnung nur mit einem Aktivrollstuhl zumutbar mit eigener Körperkraft erschlossen werden kann, bestimmt sich typischerweise nach den örtlichen Gegebenheiten der wesentlichen Versorgungs- und Gesunderhaltungswege, und zwar auch dann, wenn diese über die von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen üblicherweise zu Fuß zurückgelegte Entfernung hinausreichen.

 

a. Der für die originäre Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung beim mittelbaren Behinderungsausgleich im Bereich der Mobilität maßgebende Raum ist von den Aufgabenbereichen anderer Rehabilitationsträger und der Eigenverantwortung der Versicherten abzugrenzen. Er bestimmt sich anhand der Wege, die räumlich einen engen Bezug zur Wohnung der Versicherten haben – deren Nahbereich – und sachlich einen Bezug zu den Grundbedürfnissen der physischen und psychischen Gesundheit bzw. der selbständigen Lebensführung aufweisen, weil dort die für die üblichen Alltagsgeschäfte erforderlichen Wege zurückzulegen sind. Hierzu rechnen zum einen die allgemeinen Versorgungswege wie beim Einkauf oder bei Post- und Bankgeschäften, zum anderen die gesundheitserhaltenden Wege beim Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken und schließlich Wege, die von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind, nämlich Entfernungen zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung des für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraums, die als Freizeitwege umschrieben wurden (BSG, s.o. m.w.N.).

 

b. Jenseits dessen hat die gesetzliche Krankenversicherung beim mittelbaren Behinderungsausgleich nicht für Hilfsmittel für längere Wegstrecken vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer aufzukommen, soweit nicht Integrationsinteressen von Kindern und Jugendlichen betroffen sind. Daraus folgt allerdings nicht, dass den Krankenkassen die Eröffnung einer dem Radfahren vergleichbaren Fortbewegungsmöglichkeit durch die Versorgung mobilitätseingeschränkter Versicherter mit Aktivrollstühlen auch für die im Rahmen der üblichen Alltagsgeschäfte erforderlichen Wege schlechterdings versperrt ist. Das verbietet sich nach dem oben Gesagten schon im Ansatz, soweit Versicherte bereits die für Menschen ohne Gehbeeinträchtigung fußläufig erreichbaren Alltagsgeschäfte unter Einsatz (auch) eigener Körperkraft nicht mehr zumutbar erreichen können. Das gilt darüber hinaus auch dann, wenn jedenfalls ein wesentlicher Teil der im Alltag anfallenden Versorgungs- und Gesunderhaltungswege nach den konkreten Umständen des Einzelfalls außerhalb der von Fußgängern üblicherweise zurückgelegten Wegstrecke liegt und jedenfalls diese Entfernung anders als mit einer motorunterstützten Mobilitätshilfe nicht mehr zumutbar mit auch eigener Körperkraft bewältigt werden kann.

 

Der o.g. Nahbereich der Wohnung umfasste nach bisherigem Verständnis den typischerweise fußläufig erschlossenen Radius zur Erledigung der maßgeblichen Alltagsgeschäfte. Davon kann indes angesichts veränderter Angebotsstrukturen für die üblichen Alltagsverrichtungen und eines zurückgehenden Anteils der üblicherweise zu Fuß zurückgelegten Wegstrecken – 2017 im Mittel 1,7 km täglich – einerseits (vgl. "Mobilität in Deutschland - Kurzreport", s.o.) und eines vielfach auf andere Felder verlagerten Bewegungsverhaltens andererseits nicht mehr in gleicher Weise typisierend ausgegangen werden.

 

Das in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Risiko fehlender Gehfähigkeit schließt – jedenfalls beim Wunsch (vgl. § 8 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX), sich auch unter Einsatz der eigenen Körperkraft fortzubewegen – diejenigen Bewegungsmöglichkeiten, die für die Erledigung der üblichen Versorgungs- und Gesunderhaltungswege erforderlich sind, auch über übliche fußläufige Entfernungen hinaus ein. Den betroffenen Versicherten wird in diesem Umfang eine Teilhabe an den Bewegungsmöglichkeiten eröffnet, die nicht in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigten Versicherten offenstehen und weithin auch im Interesse ihrer physischen und psychischen Gesundheit genutzt werden. Hierdurch wird die Reichweite der bislang – vereinfachend – als Freizeitwege umschriebenen Wege zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung des für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraums dem zwischenzeitlich veränderten Bewegungsverhalten vieler nicht mobilitätsbeeinträchtigter Personen angeglichen, wenn Versicherte den anzuerkennenden Nahbereich der Wohnung in Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts unter Einsatz ihrer Körperkraft erschließen möchten (BSG, s.o., m.w.N.).

 

3. Auf dieser Grundlage hat die Beklagte die Klägerin – ohne Abzug eines Eigenanteils für ersparte Aufwendungen – mit einem Aktivrollstuhl zu versorgen, um ihr z.B. die Erledigung üblicher Alltagsgeschäfte unter Einsatz ihrer Körperkraft im Nahbereich der Wohnung zu ermöglichen.

 

a. In Ausübung ihres Wunsch- und Wahlrechts nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX können Versicherte nach dem Vorstehenden die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl beanspruchen, wenn sie den Nahbereich der Wohnung nach den Verhältnissen ihrer konkreten Wohnumgebung unter Einsatz ihrer Körperkraft anders als mit einem solchen Hilfsmittel nicht zumutbar erschließen können, ihre körperliche Konstitution und die motorischen sowie kognitiven Fähigkeiten seine Nutzung ohne Eigen- und/oder Fremdgefährdung erwarten lassen, von einer hinreichend regelmäßigen Nutzung ausgegangen werden kann und schließlich keine Umstände vorliegen, die eine Versorgung mit einem solchen Hilfsmittel gleichwohl als unwirtschaftlich (§ 12 Abs. 1 SGB V) erscheinen lassen (BSG, s.o. m.w.N.).

 

b. Hiervon ausgehend beansprucht die Klägerin zu Recht die Versorgung mit dem streitbefangenen Aktivrollstuhl. Denn nur dieses Hilfsmittel erlaubt ihr eine Fortbewegung im Nahbereich mit eigener Körperkraft und gleichzeitig einem Sturzrisiko, das sich nur noch beim Positionswechsel zum und vom Aktivrollstuhl verwirklichen könnte und dadurch minimiert ist. Den anspruchsauslösenden Wunsch zur Fortbewegung mittels eigener Körperkraft (auch) im Nahbereich ihrer Wohnung hat sie wiederholt zum Ausdruck gebracht.

 

aa. Die Klägerin war im Rahmen der stationären Rehabilitationsmaßnahme im Herbst 2019 (nur) noch in der Lage, bis zu 75 m ohne Hilfsmittel allein, aber mit erheblicher Sturzgefahr zu Fuß zurückzulegen. Während des Erörterungstermins vom 30. August 2024 in ihrer Wohnung war sie zu eigenständigem Gehen nicht (mehr) in der Lage. Ihr gelingt es noch, sich innerhalb des Bades ihrer Wohnung – nachdem sie mit einem Rollstuhl hineingefahren ist – zu bewegen, etwa zu der hinter der Tür gelegenen Toilette und zu einem an einer Wand des Bades stehenden Duschstuhl. Hierfür muss sie sich indes an Wänden, Türen und anderen hierfür geeigneten Gegenständen abstützen. Bei dieser Art der Fortbewegung ist eine erhebliche Sturzgefahr offenkundig. Dasselbe gilt, soweit sich die Klägerin ohne fremde Hilfe von Sitzmöbeln erheben will, wie während des o.g. Erörterungstermins festzustellen war. Aufgrund dieser Umstände kann sich die Klägerin auch im Nahbereich ihrer Wohnung mit eigener Körperkraft nur mittels eines Aktivrollstuhls fortbewegen.

 

bb. Die Zweifel der Beklagten, die Klägerin könne einen Aktivrollstuhl wegen eingeschränkter Funktionen ihrer Hände nicht (mehr) nutzen, sind unberechtigt. Während beider o.g. Erörterungstermine war für alle hieran Teilnehmenden, also auch die jeweiligen Terminsvertreter/innen der Beklagten, wahrnehmbar, dass sich die Klägerin problemlos eigenständig mit dem derzeit vorhandenen Aktivrollstuhl fortbewegen konnte. Der vom MD anlässlich einer Begutachtung im November 2022 festgestellte dauerhafte spastische Faustschluss in der rechten Hand der Klägerin hinderte sie nicht an der vollwertigen Nutzung des Aktivrollstuhls. Insoweit kann dahin stehen, ob dieser vom MD festgestellte Befund überhaupt dauerhaften Charakter besitzt oder es sich nur um eine Momentaufnahme handelte. Jedenfalls war insbesondere während des Erörterungstermins in der Wohnung für alle Anwesenden – mithin auch für den damaligen Terminsvertreter der Beklagten – erkennbar, dass der Klägerin durch Einsatz des rechten Handballens die Kraftübertragung auf den rechten Greifreifen mühelos gelingt und sie darüber hinaus in der Lage ist, den Aktivrollstuhl vor- und rückwärts zu bewegen und mit ihm auf engstem Raum zu rangieren.

 

cc. Dem Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem (neuen) Aktivrollstuhl steht nicht entgegen, dass sie (bisher) nach eigenen Angaben für die aushäusige Nutzung eines Aktivrollstuhl auf die Hilfe anderer Personen angewiesen ist, u.a. wegen der Bordsteinkanten. Denn zum einen wird sich die Zahl der für die Klägerin mit einem Aktivrollstuhl nicht überwindbaren Bordsteinkanten wegen der Verpflichtung der öffentlichen Hand, u.a. öffentliche Wege, Plätze und Straßen sowie öffentlich zugängliche Verkehrsanlagen und Beförderungsmittel im öffentlichen Personenverkehr nach Maßgabe der einschlägigen Rechtsvorschriften des Bundes barrierefrei zu gestalten (§ 8 Abs. 5 Satz 1 Behindertengleichstellungsgesetz - BGG), mit zunehmender Zeit immer weiter reduzieren. Zum anderen ist der Anspruch kaum bis nicht gehfähiger Versicherter, zur Erhaltung ihrer Mobilität im Nahbereich mit Hilfsmitteln versorgt zu werden, die eine Fortbewegung mittels eigener Körperkraft ermöglichen, nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil diese Versicherten hierfür teilweise die Unterstützung anderer benötigen. Zwar verpflichtet Art. 20 UN-BRK die Vertragsstaaten, wirksame Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, sodass es im Zusammenspiel mit dem verfassungsrechtlichen Verbot, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG), von behinderten Menschen nicht erwartet werden, sich von anderen Personen helfen zu lassen und sich damit von ihnen abhängig zu machen; dies käme einer – überholten – Bevormundung gleich (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18 –, juris). Es würde aber eine entsprechende Bevormundung darstellen, wollte man behinderten Menschen Hilfsmittel zum Erhalt der Mobilität mittels eigener Körperkraft allein deshalb vorenthalten, weil sie zu deren vollwertiger Nutzung teilweise von der Unterstützung anderer abhängig sind.

 

4. Die Klägerin muss keinen Eigenanteil leisten. Ein Eigenanteil könnte erwogen werden, weil die Klägerin durch den Aktivrollstuhl Aufwendungen erspart, die Versicherte ohne Bewegungseinschränkungen z.B. für die Anschaffung eines Fahrrads tätigen müssen. Für einen solchen Eigenanteil besteht allerdings nach geltender Rechtslage keine ausreichende Grundlage. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung stehen den Versicherten grundsätzlich als Sachleistung ohne Kostenbeteiligung zu (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V), wenn nicht der Gesetzgeber eine anderweitige Regelung getroffen hat. Soweit in der Vergangenheit ein solcher Eigenanteil im Rahmen der Hilfsmittelversorgung gleichwohl ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung gefordert wurde, betraf das jeweils Hilfsmittel, die neben ihrer Zweckbestimmung i.S.v. § 33 Abs. 1 SGB V einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ersetzten. Das kann indes nur für Fälle in Betracht kommen, in denen ein ansonsten im Haushalt der Versicherten genutzter Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens seinem Zweck nach durch das Hilfsmittel notwendig ersetzt wird. So liegt es in Fällen wie hier jedoch nicht, weil das Hilfsmittel – hier der Aktivrollstuhl – unmittelbar zunächst nur das ausgefallene Gehvermögen im Nahbereich ersetzt. Inwiefern darüber hinaus ersparte Aufwendungen – hier wegen einer fahrradähnlichen Nutzung über den Nahbereich hinaus – zu berücksichtigen und wie sie ggf. monetär zu bewerten sind, kann nicht von der Rechtsprechung entschieden, sondern müsste – erst recht mit Blick auf die ausdifferenzierte Systematik der Zuzahlungsregelungen der §§ 61 und 62 SGB V – vom Gesetzgeber vorgegeben werden (BSG, s.o. Rn. 35, m.w.N.).

 

III. Ist die Beklagte im Rahmen der originären Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V verpflichtet, die Klägerin zur Erhaltung ihrer Mobilität im Nahbereich mit einem Aktivrollstuhl zu versorgen, muss dies nach Auffassung des Senats erst recht für die Fortbewegung der Klägerin mittels eigener Körperkraft innerhalb ihrer Wohnung gelten. Betroffen ist insoweit auch das Grundbedürfnis des selbständigen Wohnens.

 

1. Zu dessen Befriedigung und zugleich für ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben ist dem Wunsch der Klägerin, sich auch hier mittels eigener Körperkraft fortzubewegen, durch die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl Rechnung zu tragen.

 

2. Hinzukommt insoweit, dass der Klägerin ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben innerhalb ihrer Wohnung derzeit nicht möglich ist, weil sie auf sonstige Weise nicht in die Küche gelangen kann.

 

a. Letzteres belegt die anlässlich des Erörterungstermins vom 30. August 2024 angefertigte Bilddokumentation. Aus den Bilddateien 4091 und 4092 ergibt sich, dass der derzeit vorhandene Elektrorollstuhl der Klägerin wegen der Armlehnen zu breit ist, um die Tür zwischen dem hinter der Wohnungseingangstür gelegenen Flur (Vorraum) und der Küche zu durchfahren. Die Öffnungsbreite dieser Tür beträgt maximal 69,5 cm (Bilddateien 4095 und 4096). Die Öffnungsbreite der vom Wohnraum in die Küche führende Tür beträgt noch weniger (Bilddateien 4093 und 4094).

 

b. Der Einwand der Beklagten, auf die individuellen Wohnverhältnisse der Klägerin dürfe es im Rahmen des Behinderungsausgleichs nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V nicht ankommen, überzeugt nicht. Nach der zitierten neuesten Rechtsprechung des BSG besteht ein Anspruch auf Mobilitätshilfen zur Erschließung des Nahbereichs der Wohnung, wenn jedenfalls ein wesentlicher Teil der im Alltag anfallenden Versorgungs- und Gesunderhaltungswege „nach den konkreten Umständen des Einzelfalls“ außerhalb der von Fußgängern üblicherweise zurückgelegten Wegstrecke liegt (BSG, s.o., Rn. 28). Nach Auffassung des Senats kann für die Mobilität innerhalb der eigenen Wohnung keine anderer Maßstab gelten. Denn insoweit wird das oberste Ziel jeder Rehabilitationsleistung – behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen (vgl. § 1 SGB IX; Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 188 ff.; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4.A., § 1 SGB IX (Stand: 01. Oktober 2023), Rn. 75 ff., 90 ff., m.w.N.) – noch stärker tangiert als bei der Erschließung des Nahbereichs der eigenen Wohnung.

 

IV. Soweit der Senat seinen Ausführungen tatsächliche Feststellungen zugrunde legt, die im Wesentlichen auf den Erörterungstermin des Berichterstatters am 30. August 2024 in der Wohnung der Klägerin zurückgehen, steht dies einer Verwertung durch den Senat nicht entgegen.

 

1. Dies betrifft zum einen die Wohnverhältnisse der Klägerin, insbesondere die Feststellungen zur Öffnungsbreite der beiden zur Küche führenden Türen. Sie beruhen auf einer Beweiserhebung durch den Berichterstatter während dieses Termins durch Einnahme des Augenscheins. Dieses Beweismittel ist gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit (i.V.m.) § 371 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) auch im sozialgerichtlichen Verfahren zulässig. Ihm sind gemäß § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO auch elektronische Dokumente wie Digitalfotos zugeordnet (H. Müller, in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2.A., § 118 SGG (Stand: 18.11.2024), Rn. 23), im vorliegenden Fall demnach auch die nach dem Erörterungstermin vom 30. August 2024 angefertigte Bilddokumentation, die auf Aufnahmen mit der Kamera eines Mobiltelefons basiert.

 

2. Dies betrifft zum anderen auch die Feststellung, dass die Klägerin trotz der durch ihre Grunderkrankung bedingten Funktionseinschränkungen der Hände zur eigenständigen Nutzung des Aktivrollstuhls in der Lage ist.

 

3. Sämtliche dieser Feststellungen hat der Berichterstatter in das Protokoll der Erörterungstermins vom 30. August 2024 bzw. der Anlage(n) hierzu – der o.g. Bilddokumentation – aufgenommen. Das Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wurde somit gewahrt, weil alle an der Entscheidung beteiligten Richterinnen und Richter die Ergebnisses der Beweisaufnahme selbst würdigen konnten (vgl. beck-online-Großkommentar/Leopold, Stand: 1. November  2024, SGG, § 117 Rn. 10, § 118 Rn. 14; jeweils m.w.N.). Auch die Beklagte hatte Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Keine dieser Feststellungen wurden von ihr schriftsätzlich oder durch ihren Terminsvertreter in Zweifel gezogen oder in irgendeiner Form gerügt. Sie werden in ihrem Beweiswert auch nicht durch die nur zurückhaltend formulierten Zweifel der Beklagten an der Einsetzbarkeit der Hände der Klägerin erschüttert. Offen bleiben kann, inwieweit die Erwähnung möglicherweise entgegenstehender Tatsachen in der Form des Konjunktivs überhaupt im Rahmen der gerichtlichen Amtsermittlung (§ 103 SGG) von Bedeutung sein könnte.

 

V. Der Senat muss nicht klären, ob die Klägerin die Versorgung mit einem Aktivrollstuhl auch kurativ „zur Sicherung der Krankenbehandlung“ i.S.v. § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V beanspruchen kann. Hierfür könnte das Vorbringen der Klägerin sprechen, dass ihre Ärzte die Nutzung eines Aktivrollstuhls empfohlen haben. Ob dem eine andauernde, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhende Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer zugrunde liegt (zu dieser Voraussetzung: BSG, Urteil vom 18. April 2024 – B 3 KR 13/22 R –, Rn. 14; Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, Rn. 16, m.w.N.; jeweils juris), bedürfte weiterer Ermittlungen.

 

Dahinstehen kann ferner, ob die Beklagte auch im Rahmen ihrer Zuständigkeit als erstangegangene Rehabilitationsträgerin verpflichtet wäre, die Klägerin mit einem (Aktiv-)Rollstuhl zu versorgen, der ihr das Befahren sämtlicher Räume ihrer Wohnung ermöglicht. Hierfür spricht, dass sie den (auch) auf Rehabilitation gerichteten Leistungsantrag der Klägerin vom Februar 2018 entgegen § 14 Abs. 1 SGB IX nicht an den für Leistungen der sozialen Teilhabe zuständigen Rehabilitationsträger – das Land Berlin – weitergeleitet hat und hierdurch selbst zur zuständigen Rehabilitationsträgerin auch für diesen Leistungsbereich wurde (§ 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Von der sozialen Teilhabe können auch Leistungen zur behinderungsbedingten Wohnungsausstattung umfasst sein (Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4.A., § 76 SGB IX (Stand: 01. Oktober 2023), Rn. 32).

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

 

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
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