L 19 R 456/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 600/21
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 456/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

I. Für die Annahme eines Beschäftigungsortes im Sinne des § 9 SGB IV sind allein die tatsächlichen Verhältnisse und nicht die rechtlichen Vereinbarungen maßgeblich. Entscheidend hierfür ist regelmäßig die körperliche Anwesenheit des Beschäftigten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.03.2015, L 13 AL 2443/14, juris Rn. 30). II. Eine Entsendung im Sinne des § 4 SGB IV liegt nicht vor, wenn ein Arbeitnehmer in seinem ausländischen Wohnstaat von einem Unternehmen mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Tätigkeit in seinem Wohnstaat oder in einem anderen ausländischen Staat angeworben wurde (vgl. BSG vom 27.05.1986, 2 RU 12/85, juris Rn. 15). III. Für die Frage, ob eine Entsendung im Sinne eines bilateralen Abkommens (hier: deutsch-türkisches Sozialversicherungsabkommen, DTSVA) vorliegt, ist das Recht des (potentiellen) Entsendestaates ausschlaggebend (vgl. BSG vom 16.12.1999, B 14 KG 1/99 R, juris Rn. 15 f., zum deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommen). Der Entsendebegriff im Sinne des Art. 6 DTSVA ist in der Konstellation mit der Bundesrepublik Deutschland als Entsendestaat somit im Sinne des § 4 SGB IV auszulegen (so auch Hessisches Landessozialgericht vom 30.08.2022, L 3 U 211/19, juris Rn. 36).

 

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.08.2022 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob für die Zeit der Beschäftigung des Klägers bei der W vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015

Versicherungspflicht in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung bestand und der Kläger in der Konsequenz aufgrund ggf. zu entrichtender Beiträge einen Anspruch auf Gewährung einer höheren Regelaltersrente hat.

Der 1952 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und hielt sich von 1978 bis 1983 in der Bundesrepublik Deutschland auf, wo er zunächst an der Universität K Sprachkurse besuchte und anschließend an der Universität K1 Chemieingenieurwesen studierte. Daneben war er vom 01.12.1982 bis zum 28.02.1983 rentenversicherungspflichtig beschäftigt. Der Kläger war bis zum 22.11.1983 in K1 melderechtlich erfasst und wurde zum 22.11.1983 mit Wegzug in die Türkei abgemeldet. Seither lebt und wohnt der Kläger in der Türkei. Seit dem 01.05.2018 bezieht er Altersrente aus dem türkischen Rentensystem.

Im streitgegenständlichen Zeitraum vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 übte der Kläger eine berufliche Tätigkeit im Verbindungsbüro Türkei der W, I, aus. Laut § 1 des Arbeitsvertrags vom 01.01.2000 war der Kläger seit dem 15.01.1992 als Fachverkäufer mit dem Dienstort I angestellt. Ab dem 01.01.2000 war der Kläger überdies als stellvertretender Leiter des Verbindungsbüros I tätig. Nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses am 14.04.2015 machte der Kläger in diversen arbeitsgerichtlichen Verfahren vor deutschen und türkischen Arbeitsgerichten geltend, dass nicht die W, Verbindungsbüro Türkei, sein Arbeitgeber gewesen sei, sondern die W mit Sitz in Deutschland. Hierzu führte das Landesarbeitsgericht München in seinem Urteil vom 06.06.2018 aus, dass die W, M, unstreitig Partei des Arbeitsvertrags mit dem Kläger gewesen sei und es sich nicht erschließe, warum der Kläger umfassende Darlegungen hierzu für erforderlich gehalten habe. Der Kläger führte seine Beschäftigung für die W in der Türkei aus, wobei er zum Teil im Home-Office arbeitete. Gelegentlich - nach Angaben der Klägerseite: etwa sechsmal pro Jahr - befand sich der Kläger am Sitz der W in M, zum Beispiel zur Durchführung von Meetings. Während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums war der Kläger in der Türkei wohnhaft.

Unter dem 01.02.2016 stellte der Kläger bei der Beklagten Antrag auf Kontenklärung. Mit Bescheid vom 03.03.2016 stellte die Beklagte nach § 149 Abs. 5 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch - SGB VI - die im beigefügten Versicherungsverlauf enthaltenen Daten bis zum 31.12.2009 verbindlich fest. Der beigefügte Versicherungsverlauf wies vom 18.11.1969 bis zum 31.03.1984 (mit Unterbrechungen) Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung sowie für die Zeit vom 01.12.1982 bis zum 28.02.1983 Pflichtbeitragszeiten aus. Diese Zeiten wurden im Versicherungsverlauf vom 02.08.2016, der dem Kläger mit Schreiben der Beklagten vom selben Tag übersandt wurde, bestätigt.

Mit Schreiben vom 10.10.2016 stellte der Kläger bei der Beklagten "Antrag auf Feststellung des Bestehens der Sozial- und Rentenrechten wegen meiner Beschäftigung bei der Fa. W, und Anrechnung der Arbeitszeiten zu meinen Rentenzeiten in Deutschland". Der Kläger führte hierzu aus, dass er von 1992 bis 2015 für die W, Verbindungsbüro I, als Fachverkäufer gearbeitet habe. Er sei für die Türkei, den mittleren Osten (z.B. Syrien, Libanon, Jordanien, Israel), für einige nordafrikanische Länder sowie für Aserbaidschan, Turkmenistan und Kirgistan zuständig gewesen. Im Jahr 2000 sei er zum stellvertretenden Leiter des Büros I befördert worden und habe somit auch Personalverantwortung übernommen. Am 14.04.2015 sei ihm ungerechtfertigt gekündigt worden, ohne dass er seine Rechte nach dem deutschen Sozial- und Arbeitsrecht erhalten habe. Er habe auch festgestellt, dass für ihn in Deutschland keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt worden seien. Er beantragte, dass die Beklagte die Nachzahlung seiner Sozialversicherungs- und Betriebsrentenbeiträge durch die W veranlasse, damit seine Beschäftigungszeit auf seine Rentenzeiten in Deutschland angerechnet werde.

Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 18.10.2016, das keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, mit, dass eine Versicherungspflicht in der deutschen Rentenversicherung während des Beschäftigungsverhältnisses bei der W zu keiner Zeit bestanden habe. Die Beschäftigung sei immer in der Türkei bzw. nicht in Deutschland ausgeübt worden. In der deutschen Rentenversicherung gelte grundsätzlich das Territorialprinzip. Das bedeute, dass die Rechtsvorschriften des Landes gelten, in dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt werde. Auch die Sonderregelung des § 4 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch - SGB IV - finde keine Anwendung. Es liege keine Entsendung vor, weil der Kläger bereits bei Einstellung seinen Wohnsitz im Ausland gehabt habe.

Der Kläger nahm per E-Mail am 08.11.2016 Bezug auf das Schreiben der Beklagten vom 18.10.2016, machte erneut Ausführungen zu seinem Beschäftigungsverhältnis bei der W und wiederholte seine Aufforderung, dass die Beklagte die Nachzahlung der Sozialversicherungs- und Betriebsrentenbeiträge veranlasse, damit der Kläger die ihm "zustehende gerechte Rente in Deutschland bekommen" könne.

Aufgrund eines entsprechenden Hinweises des Sozialgerichts Bayreuth (SG) vom 14.06.2017 im damals anhängigen Verfahren S 16 R 228/17 wertete die Beklagte die E-Mail vom 08.11.2016 als Widerspruch gegen den im Schreiben vom 18.10.2016 enthaltenen Verwaltungsakt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.07.2017 wies die Beklagte den Widerspruch vom 08.11.2016 gegen den Bescheid vom 18.10.2016 als unbegründet zurück. Eine Versicherungspflicht in der deutschen Rentenversicherung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI aufgrund der Beschäftigung bei W, Verbindungsbüro Türkei, bestehe nicht. Die Voraussetzungen für eine Ausstrahlung nach § 4 SGB IV lägen ebenfalls nicht vor. Der Beschäftigungsort des Klägers habe in der Türkei gelegen. Dort habe der Kläger auch seinen Wohnsitz gehabt.
Am 10.08.2017 erhob die damalige Bevollmächtigte des Klägers im Verfahren Klage zum SG gegen den Bescheid vom 18.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.07.2017.

Mit Beschluss vom 14.08.2017 verband das SG die Streitsachen S 16 R 228/17 und zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung und führte sie unter dem Aktenzeichen S 16 R 228/17 fort.

Am 20.03.2019 stellte der Kläger bei der Beklagten Antrag auf Bewilligung einer Regelaltersrente und teilte der Beklagten unter dem 22.03.2019 mit, dass die Beschäftigungszeit für die W in der Türkei und in den umliegenden Ländern vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 auf seine Rentenzeiten in Deutschland anzurechnen sei. Mit dem im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Rentenbescheid vom 11.04.2019 bewilligte die Beklagte dem Kläger Regelaltersrente ab dem 01.03.2019 mit einem monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 2,45 €. Der diesem Bescheid beigefügte Versicherungsverlauf wies unter der Überschrift "Deutschland / Allgemeine Rentenversicherung" - wie bereits der Feststellungsbescheid vom 03.03.2016 - als Pflichtbeitragszeit den Zeitraum vom 01.12.1982 bis zum 28.02.1983 aus. Unter der Überschrift "Türkei / Allgemeines System" enthielt der Versicherungsverlauf unter anderem eine Pflichtbeitragszeit im Zeitraum vom 15.10.1984 bis zum 14.04.2015.

Das SG wies im Verfahren S 16 R 228/17 mit Gerichtsbescheid vom 11.03.2020 die Klage gegen den Bescheid vom 18.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.07.2017 als unbegründet ab, weil der Kläger in der Zeit seiner Beschäftigung bei der W vom 15.01.1992 "bis 14.01.2014" nicht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI rentenversicherungspflichtig zur deutschen Rentenversicherung gewesen sei.

Gegen diesen Gerichtsbescheid legte der Kläger am 08.04.2020 im Verfahren L 19 R 190/20 Berufung ein. In diesem Berufungsverfahren fand am 27.10.2021 eine mündliche Verhandlung statt, in der der Vorsitzende darauf hinwies, dass sich in der Streitsache die Besonderheit ergebe, dass innerhalb des Überprüfungsverfahrens nach § 44 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch - SGB X - der Rentenbescheid vom 11.04.2019 ergangen sei. Dieser Rentenbescheid ersetze nicht nach § 96 Sozialgerichtsgesetz - SGG - den im damaligen Verfahren streitigen Bescheid vom 18.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.07.2017. Denn im Klageverfahren sei die Ablehnung der Beklagten streitig gewesen, den Vormerkungsbescheid zurückzunehmen. Aufgrund der Rentenwertfeststellung durch den Rentenbescheid vom 11.04.2019 sei die Anfechtung der Überprüfungsentscheidung nicht mehr erforderlich; diese habe sich erledigt. Weiterhin wies der Vorsitzende darauf hin, dass der Rentenbescheid vom 11.04.2019 nur vermeintlich bestandskräftig geworden sei. Die Beklagte habe den Vorbehalt des Klägers vom 22.03.2019 bei Erlass des Bescheids vom 11.04.2019 nicht - zum Beispiel in der Rechtsbehelfsbelehrung - berücksichtigt. Nach Auffassung des Senats sei davon auszugehen, dass zumindest der dem Rentenbescheid vom 11.04.2019 nachfolgende Schriftsatz des damaligen Klägerbevollmächtigten vom 18.04.2019 als fristgerechter Widerspruch gesehen werden sollte. Daraufhin kündigte der Vertreter der Beklagten an, dass die Beklagte über den genannten Widerspruch rechtsbehelfsfähig entscheiden werde, und der Kläger erklärte das Berufungsverfahren L 19 R 190/20 für erledigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2021 wies die Beklagte den Widerspruch vom 18.04.2019 gegen den Bescheid vom 11.04.2019 als unbegründet zurück. Die Beschäftigungszeit des Klägers bei der W sei nicht unter die Versicherungspflicht in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung gefallen. Nach § 1 des Arbeitsvertrags vom 01.01.2000 sei der damals in I wohnhafte Kläger als Fachverkäufer mit dem Dienstort I angestellt worden. Es liege keine Entsendung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens in Verbindung mit § 4 SGB IV vor.

Am 29.12.2021 haben die damaligen anwaltlichen Bevollmächtigten des Klägers Klage zum SG gegen den Bescheid vom 11.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2021 erhoben und die Feststellung begehrt, dass die Tätigkeit des Klägers bei der W in der Türkei zu einer Versicherungspflicht in der deutschen Rentenversicherung geführt habe. Zur Begründung ist mit Schreiben vom 24.05.2022 ausgeführt worden, dass die W Pflichtbeiträge an die deutsche gesetzliche Rentenversicherung hätte abführen müssen. Einem Verbindungsbüro sei es nach türkischen Rechtsvorschriften verwehrt, Marktaktivitäten zu unternehmen, die über reine Unterstützungstätigkeiten wie Werbung und Produktberatung hinausgingen. Eine Handelstätigkeit dürfe von einem Verbindungsbüro nicht ausgeführt werden. Die W habe die türkischen Vorschriften nicht eingehalten, weil sie den Kläger mit Handlungsvollmacht im Sinne des § 54 Handelsgesetzbuch - HGB - ausgestattet und sowohl in der Türkei als auch in umliegenden Ländern für den Verkauf eingesetzt habe.

Die Beklagte ist der Klage unter Hinweis auf die Begründung im Widerspruchsbescheid, das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 31.08.2017, das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 06.06.2018 sowie auf den Gerichtsbescheid des SG vom 11.03.2020 entgegengetreten und hat Klageabweisung beantragt.

Mit Gerichtsbescheid vom 30.08.2022 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Eine Entsendung im Rahmen der Ausstrahlung nach § 4 SGB IV liege vor, wenn sich ein Beschäftigter, der bisher in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt und gegebenenfalls auch gearbeitet habe, auf Weisung seines Arbeitgebers ins Ausland begebe, um dort eine Beschäftigung unmittelbar für Zwecke dieses Arbeitgebers auszuüben. Die Entsendung setze die Bewegung des Arbeitnehmers vom Inland ins Ausland voraus. Sie liege aber nicht vor, wenn eine Person im Ausland lebe und dort als sogenannte Ortskraft eine Beschäftigung für einen in Deutschland ansässigen Arbeitgeber aufnehme. Vorliegend habe der Kläger vor Aufnahme der Beschäftigung für die W am 15.01.1992 in I gelebt und sei dort als sogenannte Ortskraft beschäftigt gewesen. Daher liege keine Entsendung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit sowie im Sinne des  § 4 SGB IV vor, so dass der Kläger für die Dauer seiner Beschäftigung bei der W vom 15.01.1992 "bis 14.01.2014" nicht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI versicherungspflichtig gewesen sei.

Am 26.09.2022 haben die damaligen Klägerbevollmächtigten Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) gegen den Gerichtsbescheid vom 30.08.2022 eingelegt. Zur Begründung der Berufung hat der Kläger im Wesentlichen ausgeführt, dass er vom 07.11.1978 bis 22.11.1983 in Deutschland gewohnt habe und dann in die Türkei verzogen sei, wo er am 15.01.1992 die Tätigkeit als Fachverkäufer aufgenommen habe. Der Kläger habe in der Türkei gewohnt und seine Tätigkeit "in der Türkei vom Home-Office aus ausgeführt", was der Erfüllung der Voraussetzungen der Entsendung nicht entgegenstehe. Für das Arbeitsverhältnis mit der W hätten nicht türkische, sondern deutsche sozialversicherungsrechtliche Vorschriften gegolten. Er sei von der W als Fachverkäufer für das Verbindungsbüro Türkei angestellt worden und habe sowohl in der Türkei als auch in den umliegenden Ländern Handelsgeschäfte ausgeführt. Er sei hierfür mit Handlungsvollmacht nach § 54 HGB ausgestattet gewesen. Gemäß Art. 3 des türkischen Gesetzes über unmittelbare ausländische Investitionen mit Gesetznummer 4875 dürften nach dem ausländischen Recht gegründete Handelsgesellschaften in der Türkei Verbindungsbüros nur unter der Bedingung eröffnen, dass diese keine Handelstätigkeit ausführten. Weil somit nach den türkischen Vorschriften von Verbindungsbüros in der Türkei keine Handelstätigkeit habe ausgeübt werden können, habe sein Arbeitsort in Deutschland und nicht in der Türkei gelegen. Die W hätte als Arbeitgeber einige Formalitäten erfüllen müssen, wie zum Beispiel die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, die Anmeldung bei den Finanz- und Sozialversicherungsbehörden sowie die Beantragung einer Entsendungsbescheinigung. Allerdings habe die W diese Formalitäten nicht erfüllt und seine Sozialversicherungsrechte nicht dementsprechend geregelt, so dass Versicherungsbeiträge in der Türkei abgeführt worden seien.

Der Kläger legte sowohl im Berufungsverfahren als auch in den vorangegangenen Verfahren eine Vielzahl von Unterlagen vor, darunter einen Versicherungsverlauf der Hauptverwaltung der Anstalt für Soziale Sicherung, Generaldirektion für Rentenleistungen (Direktion für Soziale Sicherheit der Provinz I) vom 12.07.2024, der Versicherungszeiten für die Beschäftigung bei der "W Verbindungsbüro Türkei" bis 14.04.2015 aufweist.

Die Beklagte ist der Berufung unter Bezugnahme auf den Gerichtsbescheid vom 30.08.2022 entgegengetreten.

Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.08.2022 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 11.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2021 zu verurteilen, dem Kläger unter Berücksichtigung einer Versicherungspflicht während der Beschäftigung bei der W vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 ab dem 01.03.2019 eine höhere Regelaltersrente nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten, die Akten der Klageverfahren S 16 R 228/17 und und des Berufungsverfahrens L 19 R 190/20 sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, jeweils einschließlich der vom Kläger vorgelegten umfangreichen Unterlagen, verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Regelaltersrente unter Berücksichtigung weiterer Pflichtbeitragszeiten aufgrund der geltend gemachten Versicherungspflicht in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in der Zeit vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015. Der Bescheid vom 11.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Die Klage ist unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Regelaltersrente unter Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten in Form von Pflichtbeitragszeiten für die Zeit vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 hat. Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Im vorliegenden Fall sind von der W tatsächlich keine Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Kläger hat nicht geltend macht, dass bestehende Beitragszeiten in fehlerhafter Weise nicht im Versicherungsverlauf vom 11.04.2019 erfasst seien, sondern dass die seiner Auffassung nach bestehende Versicherungspflicht nicht berücksichtigt worden sei und es aus diesem Grund nicht zu Beitragszahlungen gekommen sei. Weitere Beitragszeiten wurden vom Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 weder nachgewiesen noch nach § 203 Abs. 1 SGB VI glaubhaft gemacht. Der dem streitgegenständlichen Bescheid vom 11.04.2019 beigefügte Versicherungsverlauf weist somit die nachgewiesenen Beitragszeiten vollständig aus, so dass der Bescheid und die in ihm enthaltene Rentenberechnung schon aus diesem Grund nicht zu beanstanden ist.

Unabhängig davon bestand die vom Kläger geltend gemachte Versicherungspflicht in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung während seines Beschäftigungsverhältnisses mit der W vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 nicht. Eine solche Versicherungspflicht ergibt sich weder aus § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. § 3 Nr. 1 SGB IV oder § 4 Abs. 1 SGB IV noch aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30.04.1964 in der Fassung des Änderungsabkommens vom 28.05.1969, des Zwischenabkommens vom 25.10.1974 sowie des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 (deutsch-türkisches Sozialversicherungsabkommen; im Folgenden: DTSVA) i.V.m. § 6 SGB IV.
Nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI sind die Personen versicherungspflichtig, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind. Gemäß § 3 Nr. 1 SGB IV i.V.m. § 1 Satz 1 SGB IV gelten die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung, soweit sie - wie § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI - eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit voraussetzen, für alle Personen, die im Geltungsbereich des SGB beschäftigt oder selbständig tätig sind. In diesem Zusammenhang ist der Beschäftigungsort maßgeblich, der in § 9 SGB IV als der Ort definiert wird, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird. Maßgeblich sind insoweit allein die tatsächlichen Verhältnisse und nicht die rechtlichen Vereinbarungen. Entscheidend hierfür ist regelmäßig die körperliche Anwesenheit des Beschäftigten (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.03.2015, L 13 AL 2443/14, juris Rn. 30; Zieglmeier in beck-online.Großkommentar - Kasseler Kommentar -, Stand 15.11.2024, § 9 SGB IV, Rn. 8).

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs hat der Kläger seine Beschäftigung bei der W nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, sondern in der Türkei, und damit nicht - wie nach § 3 Nr. 1 SGB IV erforderlich - im Geltungsbereich des SGB ausgeübt. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass es - entgegen der Auffassung des Klägers - für die Beurteilung des Beschäftigungsorts unerheblich ist, ob sich der Sitz des Arbeitgebers in Deutschland befand, ob auf das Beschäftigungsverhältnis das deutsche oder das türkische Arbeitsrecht anwendbar war und ob von einem türkischen Verbindungsbüro aus nach türkischem Recht Handelstätigkeiten ausgeübt werden durften. Denn diese Gesichtspunkte geben keinen Aufschluss über die nach den tatsächlichen Verhältnissen zu beurteilende körperliche Anwesenheit des Klägers. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Kläger - wie er selbst mehrfach ausgeführt hat - seine Tätigkeit für die W in der Türkei ausgeübt hat, wo er während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums auch wohnhaft war. Dies steht letztlich auch im Einklang mit dem Umstand, dass der Kläger nach § 1 des Arbeitsvertrags vom 01.01.2000 mit "Dienstort I" angestellt wurde und er ab dem 01.01.2000 als stellvertretender Leiter des Büros I tätig war. Soweit der Kläger vorbringt, er habe sich gelegentlich - nämlich etwa sechsmal im Jahr - am Sitz der W in M aufgehalten, um etwa an Meetings teilzunehmen, belegt dies keine ins Gewicht fallende körperliche Anwesenheit des Klägers in Deutschland. Vielmehr bestätigt dieses Vorbringen, dass seine Aufenthalte in Deutschland nur in sehr untergeordnetem Umfang stattgefunden haben. Die körperliche Anwesenheit des Klägers war somit nahezu ausschließlich in der Türkei, so dass er nicht im Geltungsbereich des SGB beschäftigt war. Eine Versicherungspflicht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. § 3 Nr. 1 SGB IV bestand somit nicht.

Darüber hinaus lag auch keine Versicherungspflicht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. § 4 Abs. 1 SGB IV vor. Soweit Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung - wie § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI - eine Beschäftigung voraussetzen, gelten sie nach § 4 Abs. 1 SGB IV auch für Personen, die im Rahmen eines im Geltungsbereich des SGB bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in ein Gebiet außerhalb dieses Geltungsbereichs entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist. Eine Entsendung im Sinne des § 4 Abs. 1 SGB IV (sogenannte Ausstrahlung) liegt tatbestandlich nur dann vor, wenn sich ein Beschäftigter auf Weisung seines Arbeitgebers vom Inland ins Ausland begibt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist dem Begriff "Entsendung" die Bewegung von einem Ort zum anderen immanent. Deshalb erfordert eine Entsendung schon begrifflich, dass sich der Arbeitnehmer von seinem Beschäftigungsort in Deutschland in einen anderen Staat begibt. Grundsätzlich muss der Arbeitnehmer also bereits in Deutschland für seinen entsendenden Arbeitgeber gearbeitet haben. Eine Entsendung im Sinne des § 4 Abs. 1 SGB IV, der als Ausnahme vom Territorialprinzip im Zweifel eng auszulegen ist (BSG, Urteil vom 10.08.1999, B 2 U 30/98 R, juris Rn. 24), liegt demnach nicht vor, wenn ein Arbeitnehmer in seinem ausländischen Wohnstaat von einem Unternehmen mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Tätigkeit in seinem Wohnstaat oder in einem anderen ausländischen Staat angeworben wurde (BSG, Urteil vom 27.05.1986, 2 RU 12/85, juris Rn. 15; Dietrich in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Auflage, § 4 SGB IV, Stand: 30.07.2024, Rn. 45; Zieglmeier, a.a.O., § 4 SGB IV, Rn. 12; so auch Nr. 3.1 der "Richtlinien zur versicherungsrechtlichen Beurteilung von Arbeitnehmern bei Ausstrahlung (§ 4 SGB IV) und Einstrahlung (§ 5 SGB IV)" der Spitzenverbände der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung sowie der Bundesanstalt für Arbeit, Stand 02.11.2010, sowie Nr. 3.1 der "Gemeinsamen Verlautbarung zur versicherungsrechtlichen Beurteilung entsandter Arbeitnehmer" der Spitzenverbände der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung sowie der Bundesanstalt für Arbeit, Stand 18.11.2015 und 18.03.2020).

Auf dieser Grundlage liegt hier eine Entsendung des Klägers nicht vor, weil der bei Beschäftigungsbeginn in der Türkei wohnhafte Kläger zu keinem Zeitpunkt einen Beschäftigungsort für die W in Deutschland hatte, sondern ausdrücklich mit "Dienstort I", nämlich für das dortige Verbindungsbüro der W, angestellt wurde. Der Kläger hat sich somit nicht vom Inland ins Ausland bewegt. Vielmehr erfolgte die Einstellung des in der Türkei lebenden Klägers als sogenannte Ortskraft. In einem solchen Fall hat das Beschäftigungsverhältnis keine Beziehung zur deutschen Sozialversicherung (BSG, a.a.O.), so dass bereits aus diesem Grund eine Entsendung im Sinne des § 4 Abs. 1 SGB IV nicht vorliegt.

Unabhängig davon fehlt es vorliegend an der von § 4 SGB IV ausdrücklich vorausgesetzten, im Voraus vorgenommenen zeitlichen Begrenzung des Auslandsaufenthalts, die sich aus der Eigenart der Beschäftigung oder aus einer vertraglichen Vereinbarung ergeben kann. Insoweit ist erforderlich, dass die Auslandstätigkeit einen nur vorübergehenden Charakter hat und die Beschäftigung im Anschluss an die Auslandstätigkeit am inländischen Beschäftigungsort fortgesetzt werden soll (BSG, Urteil vom 08.12.1994, 2 RU 37/93, juris Rn. 20; Dietrich in Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB IV, a.a.O., Rn. 46). Dies ist hier nicht der Fall. Die Vereinbarung einer zeitlichen Begrenzung der Auslandstätigkeit des Klägers ist im Arbeitsvertrag vom 01.01.2000 nicht enthalten und geht auch aus den übrigen, vom Kläger vorgelegten Unterlagen nicht hervor. Auch aus der Eigenart der Beschäftigung lässt sich eine zeitliche Begrenzung der Auslandstätigkeit des Klägers für die W nicht ableiten. Im Gegenteil ist insbesondere aufgrund der Anstellung des Klägers am Dienstort I (§ 1 des Arbeitsvertrags vom 01.01.2000) und aufgrund des örtlichen Einsatzbereichs des Klägers (u.a. Türkei, Syrien, Libanon, Jordanien, Israel) davon auszugehen, dass die Auslandstätigkeit des Klägers nicht nur auf eine vorübergehende, sondern auf eine dauerhafte Beschäftigung am Standort I angelegt war, so dass eine Entsendung im Sinne des § 4 Abs. 1 SGB IV auch aus diesem Grund ausgeschlossen ist.

Schließlich ergibt sich eine Versicherungspflicht des Klägers in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 DTSVA i.V.m. § 6 SGB IV. Nach  § 6 SGB IV bleiben Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt. Zum sogenannten zwischenstaatlichen Recht gehören insbesondere die von der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen bilateralen Sozialversicherungsabkommen, wie etwa das DTSVA. Wird ein Arbeitnehmer eines Unternehmens mit dem Sitz im Gebiet der einen Vertragspartei vorübergehend zur Arbeitsleistung in das Gebiet der anderen Vertragspartei entsandt, um dort eine Arbeit für Rechnung dieses Unternehmens auszuführen, so gelten für ihn die Rechtsvorschriften der ersten Vertragspartei für die Dauer der Beschäftigung im Gebiet der zweiten Vertragspartei so weiter, als wäre er an dem Ort beschäftigt, an dem das Unternehmen seinen Sitz hat (Art. 6 Abs. 1 DTSVA).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass auch Art. 6 Abs. 1 DTSVA eine nur vorübergehende Arbeitsleistung in einem anderen Vertragsstaat voraussetzt, was - wie oben dargestellt - im Fall des Beschäftigungsverhältnisses des Klägers nicht gegeben ist. Zum anderen liegt auch keine Entsendung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 DTSVA vor. Denn für die Frage, ob eine Entsendung im Sinne eines bilateralen Abkommens wie dem DTSVA vorliegt, ist das Recht des (potentiellen) Entsendestaates ausschlaggebend (BSG, Urteil vom 16.12.1999, B 14 KG 1/99 R, juris Rn. 15 f.; LSG Hessen, Urteil vom 30.08.2022, L 3 U 211/19, juris Rn. 35, 36; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.09.2019, L 9 KR 52/15, juris Rn. 35). Der Entsendebegriff im Sinne des Art. 6 Abs. 1 DTSVA ist in der vorliegenden Konstellation mit der Bundesrepublik Deutschland als (potentiellem) Entsendestaat somit im Sinne des § 4 SGB IV auszulegen. Nachdem im vorliegenden Fall - wie oben dargelegt - eine Entsendung des Klägers aus Deutschland in die Türkei nach § 4 Abs. 1 SGB IV nicht gegeben ist, scheidet demnach auch eine Entsendung nach Art. 6 Abs. 1 DTSVA aus.

Somit bestand die vom Kläger geltend gemachte Versicherungspflicht in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung während seines Beschäftigungsverhältnisses mit der W vom 15.01.1992 bis zum 14.04.2015 unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt.

Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 30.08.2022 als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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