L 22 R 684/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 4 R 3657/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 R 684/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Bei ausländerrechtlichen Duldungen, die nur eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers darstellen, lässt sich eine Prognose, dass der Ausländer sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, in der Regel nicht treffen.

 

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 2022 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer höheren Regelaltersrente unter Anerkennung von Kindererziehungszeiten (KEZ) und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (BÜZ) für die Zeit von 1974 bis 1980.

 

Die 1952 geborene Klägerin stammt aus dem Libanon, ist verheiratet und Mutter von neun Kindern und zwar von:

Name

Geburtsdatum

Geburtsland

G

 1969

Libanon

S

 1971

Libanon

K

 1974

Deutschland

M

 1976

Deutschland

O

 1977

Deutschland

W

 1979

Deutschland

M

 1980

Libanon

I

 1984

Deutschland

H

 1990

Deutschland

 

Am 29. März 1974 reiste sie im Rahmen eines Asylverfahrens als palästinensischer Flüchtling mit ihrem Ehemann und ihren 1969 und 1971 geborenen Kindern nach Deutschland ein. Der am 10. April 1974 gestellte Asylantrag wurde am 19. Juli 1976 rechtskräftig abgelehnt. In der Folge hielt sich die Klägerin nach eigenen Angaben ebenso wie ihr Ehemann mit befristeten Duldungen in Deutschland auf. Am 30. April 1980 reiste sie mit ihren Kindern in den Libanon aus, um ihren Ehemann zu besuchen, der - den Angaben der Klägerin zufolge - zu diesem Zeitpunkt zum zweiten Mal (nach einer ersten Abschiebung Ende 1978) in den Libanon abgeschoben worden war. Am 29. Juni 1983 reiste die Klägerin mit ihrer Familie wieder nach Deutschland ein. Im März 1991 wurde der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt.

 

Im Januar 2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente. Mit Bescheid vom 23. Januar 2017 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab und berücksichtigte für die Zeit von 1974 bis 1980 weder KEZ noch BÜZ. Die Klägerin erfülle die Mindestversicherungszeit nicht. Das Versicherungskonto enthalte bis zum 30. Juni 2017 statt der erforderlichen 60 Monate nur 54 Wartezeitmonate.

 

Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin die Anerkennung weiterer KEZ und BÜZ geltend. Sie habe in der Zeit von 1974 bis 1980 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin gehabt. Ihr Ehemann sei bei der A berufstätig gewesen. Mit Bescheid vom 14. November 2017 bewilligte die Beklagte der Klägerin aufgrund einer Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen eine Regelaltersrente ab dem 1. Juli 2017. Hinsichtlich der strittigen Kindererziehungszeiten ergehe eine weitere Entscheidung, sofern die Ermittlungen abgeschlossen seien. Die Beklagte zog die Unterlagen der Ausländerbehörde bei. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte auf eine Anfrage der Beklagten mit Schreiben vom 10. April 2018 mit, dort lägen zur Klägerin keine Unterlagen mehr vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin, soweit ihm nicht durch Bescheid vom 14. November 2017 abgeholfen worden sei, zurück. Grundvoraussetzung für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten sei, dass die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sei. Dies sei dann der Fall, wenn sich die/der Erziehende zusammen mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten habe. Erforderlich hierfür sei ein zukunftsoffener Aufenthalt. Ein solcher liege bei Personen, die sich - wie die Klägerin - auf der Grundlage einer befristeten Duldung im Bundesgebiet aufgehalten hätten, nicht vor.

 

Die Klägerin hat am 29. November 2018 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Mit Urteil vom 18. Oktober 2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Anerkennung von KEZ und BÜZ in dem mit der Klage geltend gemachten Umfang. Rechtsgrundlage für die Anerkennung von KEZ und BÜZ seien die Regelungen in §§ 56, 57, 249 SGB VI. Voraussetzung sei, dass die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sei oder einer solchen gleichstehe. Erforderlich sei ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Hieran fehle es. Gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB l habe jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Ob jemand sich gewöhnlich an einem Ort oder in einem Gebiet aufhalte oder nur vorübergehend dort verweile, lasse sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) entscheiden. Die Prognose habe alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen. Bei Ausländern sei im Rahmen einer Gesamtwürdigung als ein rechtlicher Gesichtspunkt deren Aufenthaltsposition heranzuziehen. Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers stünden grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen getroffen oder zu erwarten seien. Bei einem - wie hier - lediglich geduldeten Ausländer lasse sich eine dahingehende Prognose, dass er sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, nicht treffen. Der geduldete Ausländer müsse vielmehr nach Ablauf der Duldung jederzeit mit einer Abschiebung rechnen. Zwar reiche die formale Art des Aufenthaltstitels allein nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts in Deutschland aus. Jedoch seien vorliegend keine wesentlichen Umstände ersichtlich, welche zum damaligen Zeitpunkt die Feststellung rechtfertigen, dass die Klägerin auf unbestimmte Zeit nicht mit einer Abschiebung habe rechnen müssen.

 

Gegen dieses ihr am 5. Dezember 2022 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer am 21. Dezember 2022 eingegangenen Berufung, zu deren Begründung sie vorträgt: Die ihr im streitigen Zeitraum erteilten Duldungen stünden einem gewöhnlichen Aufenthalt nicht entgegen. Im Rahmen der vorausschauenden Prognose seien auch eventuelle Hindernisse zu berücksichtigen, die einer Abschiebung entgegenstünden. Vorliegend hätten aufgrund der Schwangerschaften und der durch sie zu versorgenden kleinen Kinder Abschiebehindernisse bestanden.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 2017 in der Fassung des Bescheides vom 14. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2018 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Anerkennung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für ihre Kinder K, M und O, Kindererziehungszeiten für ihr Kind W sowie Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für ihre Kinder G und S für die Zeit vom 29. März 1974 bis 30. April 1980 eine höhere Regelaltersrente zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung hat keinen Erfolg. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Altersrente unter Berücksichtigung von KEZ und BÜZ für die Zeit vom 29. März 1974 bis 30. April 1980.

 

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn (1.) die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, (2.) der Rentenartfaktor und (3.) der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden (§ 64 SGB VI).

 

Der Rentenberechnung sind keine weiteren Entgeltpunkte unter Berücksichtigung von KEZ und BÜZ für die Zeit vom 29. März 1974 bis 30. April 1980 zugrunde zu legen.

 

Rechtsgrundlage für die Anerkennung von KEZ und BÜZ für Kinder, die - wie hier - vor dem 1. Januar 1992 geboren sind, sind die Regelungen in §§ 56, 57, 249 SGB VI. Nach § 56 SGB VI wird für einen Elternteil eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist, die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist (Abs. 1). Gemäß § 249 Abs. 1 SGB VI in der hier anwendbaren, im Zeitpunkt des Rentenbeginns geltenden Fassung endet die KEZ für Kinder, die vor dem 1. Januar 1992 geboren sind, 24 Monate nach Ablauf des Monats der Geburt. Die Zeit der Erziehung bis zum 10. Lebensjahr des Kindes ist, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer KEZ vorliegen, als BÜZ zu berücksichtigen (§ 57 Satz 1 SGBVI). Für die Feststellung der Tatsachen, die für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 erheblich sind, genügt es, wenn sie glaubhaft gemacht sind (§ 249 Abs. 5 SGB VI). Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist eine Tatsache als glaubhaft anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist.

 

Vorliegend ist weder nachgewiesen noch wenigstens glaubhaft gemacht, dass die Erziehung der Kinder in der Zeit vom 29. März 1974 bis 30. April 1980 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 56 Abs. 1 SGB VI erfolgt ist.

 

Nach § 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI ist eine Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. In § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ist geregelt, dass jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ob jemand sich gewöhnlich an einem Ort oder in einem Gebiet aufhält oder nur vorübergehend dort verweilt, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) zu entscheiden, die alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen hat (vgl. BSG, Beschluss vom 21. Oktober 2020 - B 13 R 7/19 B -, juris Rn. 13 m. w. N.). Bei Ausländern ist im Rahmen der Gesamtwürdigung als ein rechtlicher Gesichtspunkt deren Aufenthaltsposition heranzuziehen (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 10. Dezember 2013 - B 13 R 9/13 R -, juris Rn. 31 m. w. N). Ihre Aufenthaltsposition wird dabei wesentlich durch den Inhalt der von der Ausländerbehörde erteilten Bescheinigungen bestimmt, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstellt (vgl. BSG, Beschlüsse vom 18. April 2024 - B 5 R 79/23 B -, juris Rn. 11 und vom 21. Oktober 2020 - B 13 R 7/19 B -, juris Rn. 14). Zu den Tatsachen, die bei der Prognose im Rahmen des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zu berücksichtigen sind, gehören auch eventuelle Hindernisse, die der Abschiebung eines Ausländers entgegenstehen, wobei auch die familiäre Situation, etwa der Aufenthaltsstatus des Ehegatten, eine Rolle spielen kann (BSG, Urteil vom 16. Juni 2015 - B 13 R 36/13 R -, juris Rn. 26 m. w. N.; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Juni 2024 - L 2 R 311/20 -, juris Rn. 35; Revision z. Z. anhängig unter B 5 R 10/24 R).

 

Durch die wenigen noch vorhandenen amtlichen Dokumente, die Rückschlüsse auf den Inhalt der nicht mehr greifbaren Ausländerakte zulassen, kann allenfalls als nachgewiesen angesehen werden, dass der am 10. April 1974 gestellte Asylantrag am 19. Juli 1976 abgelehnt worden war und dass diese Entscheidung Bestandskraft erlangt hat. Selbst wenn zugunsten der Klägerin davon ausgegangen wird, dass sie entsprechend ihrem Vortrag in der Folgezeit durchgehend bis zum Ende des streitigen Zeitraums Duldungen erhalten hatte, ergäbe sich weder für die Dauer des Asylverfahrens noch für die Zeit danach ein gewöhnlicher Aufenthalt.

 

Die Asylbewerbern allein zum Zwecke der Durchführung des Asylverfahrens nach § 20 AsylVfG a. F. bzw. § 55 AsylVfG n. F. erteilte Aufenthaltsgestattung vermag vor bindender oder rechtskräftiger Feststellung des Asylrechts einen zukunftsoffenen Aufenthalt regelmäßig nicht zu begründen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 1998 - B 5 RJ 12/97 R -, juris Rn. 17; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2022 - L 3 R 721/17 -, juris Rn. 54; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Dezember 2004 - L 11 RJ 1912/04 -, juris Rn. 31, juris; Fichte in: Hauck/Noftz, SGB VI; Werkstand 1. EL 2025, § 56, Rn. 60; jeweils m. w. N.). Hierbei bleibt die Dauer des tatsächlichen Aufenthalts außer Betracht, unabhängig davon, wie lange er bereits andauerte oder noch andauern wird (BSG, Urteil vom 20. Mai 1987 - 10 RKg 18/85 -, juris Rn. 14; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Dezember 2004 - L 11 RJ 1912/04 -, juris Rn. 31). Denn während der Zeit, in der entschieden wird, ob ein Antragsteller als Asylberechtigter anerkannt wird, besteht ein Schwebezustand (vgl. BSG, Urteil vom 31. Januar 1980 - 8b RKg 4/79 -, juris Rn. 16) und in der Regel kein zukunftsoffener Aufenthalt (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 1998 - B 5 RJ 12/97 R -, juris Rn. 17; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2022 - L 3 R 721/17 -, juris Rn. 54; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Dezember 2004 - L 11 RJ 1912/04 -, juris Rn. 31).

 

Bei ausländerrechtlichen Duldungen (vgl. § 17 AuslG 1965, §§ 5556 AuslG 1990§ 60a AufenthG), die nur eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers darstellen, da sie weder die Ausreisepflicht (vgl. § 12 AuslG 1965, § 42 AuslG 1990§ 50 AufenthG) noch deren Vollziehbarkeit beseitigen (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 56 AuslG 1990 Rn. 2, bzw. 8. Aufl. 2005, § 60a AufenthG Rn. 14), lässt sich eine Prognose dahingehend, dass der Ausländer sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, in der Regel nicht treffen (vgl. BSG, Urteile vom 3. Dezember 2009 - B 10 EG 6/08 R -, juris Rn. 46 ff. und vom 1. September 1999 - B 9 SB 1/99 R -, juris Rn. 15; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2022 - L 3 R 721/17 -, juris Rn. 54 m. w. N.). Da der geduldete Ausländer nach Ablauf der Duldung jederzeit mit der Abschiebung rechnen muss, wird auch bei wiederholten Verlängerungen der Duldung (sog. Kettenduldungen) und einem damit faktisch einhergehenden langjährigen Verweilen im Inland das der Duldung innewohnende provisorische Element seines Aufenthaltes nicht beseitigt (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2009 - B 10 EG 6/08 R -, juris Rn. 46 ff.).

 

Ausnahmsweise kann bei einer Duldung oder einer endgültigen Ablehnung eines Antrages auf ein dauerhaftes Bleiberecht (z.B. Asyl) ein gewöhnlicher Aufenthalt dann in Betracht kommen, wenn der Betreffende aufgrund besonderer ausländer- bzw. aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen oder behördlicher Praxis, z.B. aufgrund einer länderspezifischen Weisungslage, nicht mit einer Abschiebung zu rechnen braucht, d. h. wenn von einem Abschiebehindernis auf unabsehbare Zeit auszugehen ist (vgl. BSG, Urteile vom 16. Juni 2015 - B 13 R 36/13 R -, juris Rn. 26 und vom 18. Februar 1998 - B 5 RJ 12/97 R -, juris Rn. 17; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2022 - L 3 R 721/17 -, juris Rn. 54; Pitz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 30 SGB I [Stand: 02.10.2024] Rn. 60; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Juni 2024 - L 2 R 311/20 -, juris Rn. 35; Revision z. Z. anhängig unter B 5 R 10/24 R).

 

Gemessen an diesen Voraussetzungen fehlt es an einem gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet in der Zeit vom 29. März 1974 bis 30. April 1980. Zwar hat sich die Klägerin in dieser Zeit mit ihren Kindern im Bundesgebiet aufgehalten. Ihr Aufenthalt war jedoch kein „gewöhnlicher“ im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I. Aufgrund des schwebenden Asylverfahrens und der nachfolgenden befristeten Duldungen war ihr Aufenthalt in rechtlicher Hinsicht nicht zukunftsoffen. Gründe, weshalb aufgrund tatsächlicher Umstände ausnahmsweise von einem zukunftsoffenen Aufenthalt auszugehen sein könnte, sind nicht gegeben. Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich und damit nicht glaubhaft gemacht, dass die Klägerin aufgrund der damaligen Verwaltungspraxis oder anderer Umstände dauerhaft nicht mit ihrer Abschiebung zu rechnen brauchte. So wurde u. a. der Ehemann der Klägerin in der hier streitigen Zeit zweimal abgeschoben. Auch soweit die Klägerin sich auf ihre Schwangerschaften und die von ihr zu versorgenden kleinen Kinder beruft, führt dies zu keiner anderen Betrachtungsweise. Die Schwangerschaften und das damalige Alter der Kinder sind vorübergehende Umstände und begründen kein dauerhaftes Ausreise- und Abschiebehindernis (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2022 - L 3 R 721/17 -, juris Rn. 60). Insofern kann dahingestellt bleiben, ob der Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes überhaupt die Annahme, dass der Aufenthalt eines Ausländers niemals beendet worden wäre und deshalb im tatsächlichen Sinne zukunftsoffen war (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Juni 2024 - L 2 R 311/29 -, juris Rn. 35; Revision anhängig unter B 5 R 10/24 R), zugrunde gelegt werden kann.

 

Einer Beiladung des Ehemannes der Klägerin zum Verfahren bedurfte es nicht; denn die Berücksichtigung von KEZ bzw. BÜZ bei ihm scheitert jedenfalls daran, dass er und die Klägerin keine gemeinsame Erklärung abgegeben haben (vgl. § 56 Abs. 2 SGB VI).

 

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

 

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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