1. Als Gebrauchsvorteile, die einen Anspruch Versicherter auf Versorgung mit einer festbetragsüberschreitenden Hörversorgung begründen, kommen bei entsprechender Plausibilisierung auch Aspekte des Hörens (z.B. Verbesserungen beim Richtungshören oder bei der Rückkopplungs- oder Störgeräuschunterdrückung) in Betracht, die sich nicht durch Messerergebnisse des Freiburger Einsilbertests objektivieren lassen.
2. Dass Versicherte die Hörgerätetestung mit zuzahlungspflichtigen Modellen beginnen, spricht nicht per se für eine die Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V ausschließende Vorfestlegung.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Dezember 2021 aufgehoben und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 6. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2020 verurteilt, an die Klägerin 2.630.- € zu zahlen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Erstattung von den Festbetrag übersteigenden Kosten einer Hörgeräteversorgung.
Die 1989 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Sie leidet an einer beidseitigen Schallempfindungsschwerhörigkeit (H90.5 BG) in Form einer Hochtonschwerhörigkeit (H91.9 BG) sowie einem beidseitigen chronischen Tinnitus, einem Erschöpfungssyndrom (F48.0 G) und einer chronischen Schmerzerkrankung mit psychischen und somatischen Faktoren. Im Mai 2022 wurde bei ihr das Ehlers-Danlos-Syndrom vom hypermobilen Typ (Q79.6) festgestellt.
Auf der Grundlage einer ärztlichen Verordnung für eine beidseitige Hörhilfe vom 03. September 2019 durch den Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dr. B beantragte die Klägerin am 20. Januar 2020 bei der Beklagten die erstmalige Versorgung mit bedarfsgerechten Hörhilfen. Nach den in der Verordnung enthaltenen Audiogrammen betrug der Hörverlust der Klägerin auf dem rechten Ohr bei 1 kHz 20 dB, bei 2 kHz 35 dB, bei 3 kHz 50 dB und bei 4 kHz bis 8 kHz 70 dB. Auf dem linken Ohr betrug der Hörverlust bei 1 kHz 20 dB, bei 2 kHz 40 dB, bei 3 kHz 60 dB und bei 4 bis 6 kHz 75 dB. Die Verstehensquote im Freiburger Einsilbertest bei 65 dB betrug danach rechts ca. 65% und links ca. 75%.
Beigefügt war dem Antrag der Kostenvoranschlag eines Hörakustikers über 4.097,02 EUR vom 10. Januar 2020 für die beidseitige Versorgung der Klägerin mit dem Modell Oticon OPN S3 mini Ex 85 (im Folgenden: OPN S3). Im Rahmen der Anpassung hatte die Klägerin im Zeitraum von Juli 2019 bis Januar 2020 insgesamt fünf verschiedene Hörgeräte unter Einschluss von zwei zuzahlungsfreien Hörgeräten getestet und zwar das Modell OPN S3 im Zeitraum vom 25. Juli 2019 bis 10. September 2019 (48 Tage) und vom 26. September 2019 bis zum 14. November 2019 (49 Tage), das zuzahlungsfreie Modell Signia Intuis 3 S (im Folgenden: Intuis) im Zeitraum vom 10. September 2019 bis 26. September 2019 (16 Tage), das Modell Oticon Siya 1 Mini-Ex (im Folgenden: Siya 1) im Zeitraum vom 14. November 2019 bis zum 26. November 2019 (12 Tage), das zuzahlungsfreie Modell AudioService Duo 3 G4 (im Folgenden: Duo 3) vom 26. November 2019 bis zum 10. Dezember 2019 (14 Tage) und das Modell Oticon OPN S2 Mini-Ex (im Folgenden: OPN 2) vom 10. Dezember 2019 bis zum 10. Januar 2020 (31 Tage). Zuvor hatte sie bei einem Besuch bei ihrer Familie bereits im Zeitraum vom 12. Juli 2017 bis zum 16. Juli 2017 (5 Tage) bei einem dortigen Hörakustiker das Modell Siya 1 getestet. Nach dem Anpass- und Abschlussbericht des Hörakustikers vom 10. Januar 2020 erreichte die Klägerin mit allen fünf Geräten im Rahmen des Freiburger Einsilbertest mit und ohne Störschall identische Ergebnisse (95% im Freifeld bei Nutzschall von 65 dB und 60% bei Nutzschall von 65 dB und Störschall von 60 dB).
Die Klägerin führte zur Begründung ihres Antrages aus, dass im Rahmen einer mehrwöchigen vergleichenden Anpassung keines der getesteten zuzahlungsfreien Geräte ein ausreichendes Sprachverstehen in Gruppen und größeren Räumen ermöglicht habe, nur das ausgewählte Modell habe ein befriedigendes Ergebnis erbracht.
Mit Schreiben vom 06. Februar 2020, welches mit keiner Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, teilte die Beklagte mit, von den Gesamtkosten einen Teilbetrag in Höhe von 1.447,02 EUR zu übernehmen. Es seien keine audiologischen Besonderheiten erkennbar, die eine Hörgeräteversorgung mit Mehrkosten notwendig machten.
Hiergegen legte die Klägerin am 24. April 2020 Widerspruch ein. Sie trug vor, ohne Hörgeräte neben Höreinschränkungen an Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit / Erschöpfung und gelegentlichen Tinnitusgeräuschen zu leiden. Das begehrte Hörgerät habe insofern zu einer deutlichen Verbesserung des Sprachverstehens in leiser Umgebung, Gruppensituationen und bei lauter Geräuschkulisse geführt. Die Stresssymptome hätten sich damit ebenso wie die Kopfschmerzen deutlich verbessert, der Tinnitus sei nicht aufgetreten. Auch ein weiteres zuzahlungspflichtiges Modell desselben Herstellers, das Modell OPN S2, habe zu einer ähnlichen Verbesserung geführt. Die anderen drei getesteten Geräte hätten deutliche Einschränkungen im Sprachverständnis bedingt. Kopfschmerzen, Tinnitus und Erschöpfung hätten sich verstärkt. In der Zeit vom 25. Juli 2019 bis zum 10. Januar 2020 habe sie ein Hörtagebuch geführt, in welchem sie die Hörgeräte täglich mit Schulnoten von 1 bis 6 bewertet habe. Während sie das begehrte Modell OPN S3 hierbei durchschnittlich mit 1,2 und das Modell OPN S2 mit 1,4 bewertet hätte, hätten die zuzahlungsfreien Geräte Intuis und Duo 3 nur Durchschnittsnoten von 5,7 bzw. 4,4 erhalten. Das weitere zuzahlungspflichtige Modell Siya 1 habe sie mit 5,1 bewertet.
Nur mit den Geräten OPN S3 und S2 sei ihr die private und berufliche Teilhabe möglich gewesen, ohne völlig erschöpft andere Begleiterkrankungen zu entwickeln.
Nach der endgültigen Hörgeräteanpassung stellte sich die Klägerin am 11. Mai 2020 erneut bei Dr. B vor und füllte den sog. APHAB-Fragebogen (Abbreviated Profile of Hearing Aid Benefit) aus.
Am 15. Mai 2020 erwarb die Klägerin die begehrten Hörgeräte und reichte die diesbezügliche Rechnung über den Eigenanteil von 2.650.- € (einschließlich eines Zuzahlungsbetrags i.H.v. 20.- EUR) für das Modell OPN S 3 am 18. Juni 2020 bei der Beklagten ein.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. November 2020 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 15. Dezember 2020 vor dem Sozialgericht (SG) Berlin Klage erhoben, mit welcher sie die Erstattung von 2.630.- EUR begehrt. Sie habe die eigenanteilsfreien Hörgeräte ausgiebig in allen Kommunikationsbereichen wie der Arbeit, Zweiergesprächen, auf Veranstaltungen und im öffentlichen Nahverkehr getestet und habe mit diesen ein deutlich schlechteres Sprachverstehen erreicht. Bei Privattreffen mit mehr als einer Person habe sie kein ausreichendes Sprachverstehen erzielen können, so dass sie solche Situationen immer öfter gemieden habe. Mit den Modellen OPN S3 und OPN S2 habe eine bessere Sprachverständlichkeit erreicht werden können. Richtungen und Entfernungen habe sie besser einschätzen können und wieder adäquat den Worten und Inhalten folgen können. Zudem habe sie nur bei diesen Geräten keine anderen Begleiterkrankungen entwickelt. Bei den zuzahlungsfreien Geräten sei es zur Zunahme von gleich mehreren Beschwerdebildern gekommen.
Sie leide als Grunderkrankung an chronischen Kopfschmerzen, Erschöpfungssymptomen, Depressionen, Schmerzen und Hypermobilität. Durch die zuzahlungsfreien Geräte hätten sich der chronische Tinnitus und die Kopfschmerzen verstärkt. Diesbezügliche reichte sie eine Bescheinigung des behandelnden HNO-Arztes Dr. B vom 19. Februar 2021 ein, nach welcher sie an einer beidseitigen Schallempfindungsschwerhörigkeit (H90.5, BG), einer Hochtonschwerhörigkeit beidseitig (H 91.9, BG), Ohrgeräuschen beidseitig (H93.1, BG), Hyperakusis (H93.2, G) und Kopfschmerzen beidseitig (R51, BG) leide. Nach den Angaben des Arztes berichtete die Klägerin ihm am 09. Januar 2020, Hörgeräte zur Probe getragen und dabei nur mit den zuzahlungspflichtigen Geräten einen guten Hörausgleich erzielt zu haben. Sie habe weiterhin von chronischen Kopfschmerzen, Erschöpfungssymptomen, Depression, Schmerzproblematik und Hypermobilität berichtet. Trotz der Anpassung der Hörgeräte sei sie auch im Februar 2021 durch den chronischen Tinnitus und die Schwerhörigkeit vor allem in Stresssituationen im Alltag stark beeinträchtigt gewesen. In diesem Zusammenhang würden auch Erschöpfungs- und Schmerzzustände zunehmen. Da eine im Alltag zufriedenstellende Hörgeräteversorgung nur mit zuzahlungspflichtigen Hörgeräten zu erzielen sei, würden die Bemühungen der Patientin um eine Kostenübernahme der angepassten Hörgeräte unterstützt.
Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass ein medizinischer Zusammenhang der Hörgeräteversorgung mit den vorgetragenen Kopfschmerzen, der Erschöpfungssymptomatik und den Depressionen nicht belegt sei. Das rein subjektive Empfinden der Klägerin reiche für die Begründung eines Mehrbedarfs nicht aus. Aus den maßgeblichen Messwerten habe sich deutlich ergeben, dass mit den eigenanteilsfreien Geräten ein bestmögliches Sprachverstehen im Alltag bzw. im Störgeräusch und bei Gesprächen in der Gruppe habe erreicht werden können. Die beantragten Geräte hätten keine besseren Werte erzielt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte von Dr. B und des die Klägerin versorgenden Hörakustikers M D eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird. Der Hörakustiker hat zu der Frage, warum die Klägerin sich für das OPN S 3 entschieden habe, ausgeführt, dass die Klägerin mit den Festbetragsgeräten und dem Modell Siya 1 Kopfschmerzen, eine Zunahme des Tinnitus, ein belastendes Druckgefühl im Kopf, Erschöpfung, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten festgestellt habe. Zudem habe es bei diesen Geräten Rückkopplungsprobleme gegeben. Der Versuch einer geschlossenen Versorgung, also des Verschlusses des äußeren Gehörgangs durch ein Ohrpassstück zur Vermeidung von Rückkopplungen, habe die Beschwerden verstärkt. Bei dem Modell OPN S3 seien die Probleme nicht aufgetreten. Im Rahmen des Freiburger Einsilbertests habe mit allen Hörgeräten ein gleich gutes Sprachverstehen erreicht werden können, die Entscheidung für das Modell OPN S3 sei aufgrund der subjektiv empfundenen Vorteile im Alltag getroffen worden. Das Rückkopplungsmanagement dieses Modells erlaube bei offener Versorgung eine größere Verstärkung ohne Rückkopplungsrisiko als die statische Rückkopplungsunterdrückung der anderen Geräte. Zudem könne der erweiterte Frequenzbereich des gewählten Geräts zu einer besseren Maskierung des Tinnitus beitragen. Weitere Funktionen könnten die Höranstrengung reduzieren und somit vorbeugend gegen Kopfschmerzen, Erschöpfung und Ermüdung wirken.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Hörakustikers M D. Bezüglich des Inhalts wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen. Der Zeuge hat ausgeführt, dass die Klägerin vor ihrem Besuch bei ihm bereits bei einem anderen Hörakustiker für ein paar Tage das Modell Siya 1 ausprobiert und vor diesem Hintergrund bei ihrem ersten Besuch den Wunsch geäußert habe, ein Hörgerät desselben Herstellers testen zu wollen, da sie mit diesem Gerät gut zurecht gekommen sei. Da das Modell Siya 1 nicht vorrätig gewesen sei, habe er das Modell OPN S3 angepasst, über das sie sich sehr positiv geäußert habe. Nach der Probephase mit dem Modell Intuis habe sie über Kopfschmerzen, Druckgefühl und zunehmenden Tinnitus geklagt, was zuvor nicht Thema gewesen sei. Auch beim Modell Siya 1, welches sie anschließend nochmals getestet habe, sei es zu diesem Symptomen gekommen. Die Unterschiede könnten damit zusammenhängen, dass der Störschallunterdrückung der „Kassengeräte“ und des Modells Siya 1 eine einfachere Technik zugrunde liege. Die sog. Open-Sound-Navigator-Technik des Modell OPN S3 vermindere nach Herstellerangaben die Höranstrengung. Zu dem Zeitpunkt, als sie das zweite „Kassengerät“, das Modell Duo 3, getestet habe, sei dann schon klar gewesen, dass sie gegen die Krankenkasse vorgehen wolle.
Das SG hat die Klage durch Urteil vom 10. Dezember 2021, der Klägerin zugestellt am 20. Dezember 2021, abgewiesen. Das ausgewählte Hörgerät biete gegenüber den getesteten zuzahlungsfreien Geräten keine wesentlichen Gebrauchsvorteile, was sich nachvollziehbar aus den Ergebnissen im Anpass- und Abschlussbericht vom 12. Juli 2019 ergebe, nach welchen die Klägerin mit den eigenanteilsfreien Geräten identische Ergebnisse beim Sprachverstehen erreicht habe. Der Hörgeräteakustiker und der behandelnde Facharzt der Klägerin hätten insofern übereinstimmend erklärt, dass sie die Entscheidung für das begehrte Hörgerät aus subjektiven Gründen getroffen habe. Die von der Klägerin geschilderten subjektiven Vorteile ließen sich zwar mit den technischen Voraussetzungen des Hörgeräts erklären, sie seien aber durch die Ergebnisse des durchgeführten Freiburger Einsilbertests nicht objektivierbar. Bei diesem Test handle es sich um ein normiertes Verfahren, welches einen objektiven Vergleich zwischen den für den Versicherten in Betracht kommenden Hörgeräten ermögliche. Der von der Klägerin geschilderte Vorteil betreffe lediglich das subjektive Hörvermögen i.S. des bloßen Empfindens, welches nicht nachprüfbar sei. Zudem habe die Kammer keinen objektivierbaren Zusammenhang zwischen den von der Klägerin geschilderten Beschwerden beim Tragen der zuzahlungsfreien Hörgeräte und den vorgetragenen Beschwerden feststellen können. So habe die Klägerin im Februar 2021, also nach Erwerb des begehrten Hörgeräts, gegenüber dem behandelnden Facharzt angegeben, durch den Tinnitus, die Hörminderung und die Kopfschmerzen im Alltag stark beeinträchtigt zu sein. Das spreche dafür, dass für die Beschwerden andere Ursachen als die Hörgeräteversorgung im Vordergrund standen. Zudem sei die Klägerin mit dem Gerät Siya 1 beim ersten Testen gut zurechtgekommen und habe erst bei der zweiten Testphase mit starken Kopfschmerzen und Druckgefühl reagiert. Auch in Bezug auf die Hyperakusis und den Tinnitus der Klägerin lasse sich ein objektivierbarer Gebrauchsvorteil nicht feststellen, zumal der Tinnitus nach Angaben des Hörakustikers anfangs kein Thema gewesen sei und die Noiser-Funktion des gewählten Geräts gar nicht zum Einsatz komme. Im Übrigen spreche die vom Hörgeräteakustiker geschilderte Anpassungssituation auch für eine Vorfestlegung der Klägerin, da jedenfalls zum Zeitpunkt des Tests des zweiten zuzahlungsfreien Geräts das klageweise Vorgehen gegen die Beklagte bereits Thema gewesen sei und nur aus diesem Grund ein zweites „Kassengerät“ habe getestet werden sollen.
Mit ihrer Berufung vom 04. Januar 2022 macht die Klägerin geltend, sie habe Gebrauchsvorteile der beantragten Hörgeräte glaubhaft dargelegt. Der Hörgeräteakustiker habe insofern in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass nur bei dem ausgewählten Hörgerät die Testphase nicht von belastenden Symptomen begleitet gewesen sei. Dass der Noiser (= Tinnitusmasker) bei diesem Hörgerät nicht zum Einsatz komme, spreche nicht dagegen, dass das ausgewählte Hörgerät den Tinnitus mindere. Vielmehr sei in Studien nachgewiesen, dass ein Noiser einen Tinnitus auch negativ beeinflussen könne und nicht von allen Hörgeschädigten mit Tinnitus akzeptiert würde.
Der Freiburger Einsilbertest spiegele in keiner Weise den alltäglichen Gebrauch im Verstehen mit Störgeräuschen wieder. Durch ihr Hörtagebuch werde deutlich, dass sich das Verstehen im Störgeräusch in alltäglichen Situationen messbar verbessert habe und die die Hörminderung begleitenden Symptome sich deutlich gemindert hätten. Dies sei zwingend zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Dezember 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 6. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2020 zu verurteilen, an sie 2.630.- € zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. Der Freiburger Einsilbertest sei ein normiertes Testverfahren, welches in der Hilfsmittel-Richtlinie als ein zugelassenes Testverfahren vorgeschrieben sei. Daher sei dieses Verfahren zur Testung heranzuziehen.
Die Beklagtenvertreterin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Auffassung vertreten, dass bereits die Reihenfolge der Testung für eine Vorfestlegung der Klägerin spreche. Es sei ungewöhnlich, mit der Testung eines zuzahlungspflichtigen Gerätes zu beginnen, wenn man plane, ein Festbetragsgerät zu erwerben. Die lange Gewöhnung an ein zuzahlungspflichtiges Gerät erschwere zudem die spätere Gewöhnung an ein einfacheres Gerät. Die Klägerin habe die zuzahlungsfreien Geräte zudem nur für kurze Zeit getestet. In solch kurzer Zeit sei eine Umgewöhnung kaum möglich. Soweit der behandelnde Facharzt bei der Klägerin eine Hyperakusis festgestellt habe, sei zweifelhaft, dass eine solche schon zum Zeitpunkt der Testung der Hörgeräte vorgelegen habe, denn aus dem Tonaudiogramm im Anpass- und Abschlussbericht des Hörakustikers vom 10. Januar 2020 ergebe sich auf beiden Ohren eine normale Unbehaglichkeitsschwelle, so dass sich unter diesem Aspekt keine besonderen Anforderungen an ein Hörgerät ergeben hätten.
Der Senat hat die Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärztinnen Dr. L F und Dr. M M eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird (Bl. 267 ff., 270 ff. der Gerichtsakte), und in der mündlichen Verhandlung den Hörakustiker M D erneut als Zeugen vernommen. Bezüglich des Inhalts wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen (Bl. 332 ff. der Gerichtsakte).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist im Sinne der §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 151 SGG form- und fristgerecht erhoben worden. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) zulässig und begründet.
Gegenstand des Klageverfahrens ist neben dem Urteil des SG Berlin vom 10. Dezember 2021 der Bescheid der Beklagten vom 06. Februar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. November 2020.
Als Anspruchsgrundlage für den Erstattungsanspruch kommen § 13 Abs. 3 2. Alt. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und § 18 Abs. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Betracht. Ob auch in Fällen rechtswidriger Leistungsablehnung im Bereich der medizinischen Rehabilitation – wozu auch Hörhilfen zählen (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris Rn. 13 ff.) – § 13 Abs. 3 SGB V aufgrund der Verweisung in Satz 2 auf § 18 SGB IX nicht anwendbar ist (so zu § 13a Abs. 3a SGB V: BSG, Urteil vom 8. August 2019 – B 3 KR 21/18 R –, juris Rn. 13,18; BSG, Urteil vom 15. März 2018 – B 3 KR 18/17 R –, juris Rn. 14, 31 ff.), kann vorliegend dahinstehen, denn aufgrund der Parallelität der Ansprüche und ihrer Voraussetzungen ist eine kollidierende Systemabgrenzung nicht erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 15. März 2018 – B 3 KR 4/16 R –, juris Rn. 16).
Nach beiden Vorschriften sind, wenn die Krankenkasse bzw. der leistende Rehabilitationsträger, eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Hier hat die Beklagte ihre Leistungspflicht zu Unrecht auf den Festbetrag begrenzt und die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Modell OPN S3 hierdurch rechtswidrig abgelehnt. Die Klägerin hat sich aufgrund der rechtswidrigen Leistungsablehnung die Leistung selbst beschafft und hierbei die Grenzen des Notwendigen gewahrt.
Mit der Leistungsgewährung durch Bescheid vom 06. Februar 2020 hat die Beklagte zugleich ihre Leistungspflicht auf den Festbetrag gem. § 36 i.V.m. § 12 Abs. 2 SGB V beschränkt und damit das weitergehende Leistungsbegehren der Klägerin mit Bindungswirkung abgelehnt (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris Rn. 9). Diese Leistungsablehnung erfolgte zu Unrecht, denn die Klägerin hatte gegen die Beklagte nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Hörgerät.
An dem für das Bestehen eines Erstattungsanspruchs erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der Leistungsablehnung durch die Beklagte und der Kostenbelastung der Klägerin fehlt es nach Überzeugung des Senats nicht. Ein solcher scheidet aufgrund von Vorfestlegung grundsätzlich nur dann aus, wenn der Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Leistung festgelegt hat und fest entschlossen ist, sich die Leistung unabhängig von der Entscheidung der Krankenkasse selbst zu beschaffen (BSG, Urteil vom 27. Oktober 2020 – B 1 KR 3/20 R –, juris Rn. 14). Im Rahmen der Hörgeräteversorgung hat das BSG eine schädliche Vorfestlegung auf zuzahlungsfreie Geräte darüber hinaus nur dann angenommen, wenn ein Versicherter das Austesten eines zuzahlungsfreien Geräts, nachdem es ihm konkret angeboten und vorgestellt wurde, ablehnte, obwohl eine nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder möglich erschien (BSG, Beschluss vom 28. September 2017 – B 3 KR 7/17 B –, juris Rn. 15). Eine solche Vorfestlegung lag bei der Klägerin nach Überzeugung des Senats nicht vor. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung insofern glaubhaft erklärt, dass sie dem Ergebnis einer Anpassung offen gegenüber stand. Dagegen spricht auch nicht, dass sie gleich am Anfang die zuzahlungspflichtigen Geräte Siya 1 und OPN S3 testete. Die Klägerin hat dies plausibel damit begründet, dass sie ein Gerät der Marke Oticon testen wollte, da ihre Mutter nach ausführlichen Tests gute Erfahrungen damit gemacht hatte. Auch der Zeuge D hatte in der mündlichen Verhandlung vor dem SG bekundet, dass die Klägerin nach einem Hörgerät des Herstellers Oticon gefragt habe. Dass es ihr dabei insbesondere um zuzahlungspflichtige Modelle ging und sie entschlossen war, ein solches zu erwerben, konnte der Senat demgegenüber nicht feststellen. Der Zeuge D hat insofern in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine Auskunft dazu geben können, ob zum damaligen Zeitpunkt für die Klägerin auch die Möglichkeit bestanden hätte, Festbetragsgeräte des Herstellers Oticon zu testen. Zudem bekundete er, kein Problem darin gesehen zu haben, die Klägerin zunächst das Modell OPN S3 testen zu lassen. Vor diesem Hintergrund kann der Senat nicht feststellen, dass die Klägerin im Beratungsprozess darauf hingewiesen wurde, durch den Beginn der Testung mit einem höherwertigen Hörgerät später Probleme bei der Gewöhnung an ein zuzahlungsfreies Gerät bekommen zu können. Ohne einen entsprechenden konkreten Hinweis im Beratungsprozess kann die Testreihenfolge aber keinen Anhaltspunkt für eine Vorfestlegung begründen, denn ohne eine entsprechende Beratung fehlt Versicherten in der Regel das Fachwissen um zu beurteilen, welche Reihenfolge beim Hörgerättest sinnvoll ist. Auch dass die Klägerin geeigneten Festbetragsgeräten gegenüber nicht offen gewesen wäre, kann der Senat nicht feststellen. Der Zeuge hat insofern vor dem SG bekundet, keine Vorfestlegung der Klägerin habe feststellen zu können. Soweit er dort auch ausgesagt hatte, dass zum Zeitpunkt des Tests des zweiten Festbetragsgeräts schon klar gewesen sei, dass die Klägerin gegen die Krankenkasse vorgehen wolle, hat diese in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass ein Vorgehen gegen die Krankenkasse zu diesem Zeitpunkt zwar bereits Thema war, sie der Testung des Modells Duo 3 jedoch offen gegenüber stand. Nachvollziehbar hat sie dies damit erklärt, dass sie aufgrund der bei dem ersten Festbetragsgerät aufgetretenen Beschwerden eine Beratungsstelle aufgesucht habe, um sich in Bezug auf gegenüber der Beklagten bestehende Ansprüche im Rahmen der Hörgeräteversorgung beraten zu lassen. Dort habe man ihr empfohlen, zunächst ein weiteres Festbetragsgerät zu testen, weshalb sie beim Hörakustiker nach einem weiteren Festbetragsgerät gefragt habe. Dass die Klägerin sich über ihre Rechte beraten lässt und durch die anschließende Testung eines zweiten zuzahlungsfreien Geräts auch versucht, die Erfolgsaussichten eines Kostenübernahmeantrags bei der Beklagten oder auch eines für möglich gehaltenen Rechtsstreits zu erhöhen, stellt ein Handeln im Rahmen zulässiger Rechtsausübung dar, welches gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein passendes Hörgerät zum Festbetrag zu finden, und nicht die Annahme einer Vorfestlegung rechtfertigt. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Vortrag der Klägerin nicht der Wahrheit entspricht und sie beim Test des Modells DUO 3 dieses Gerät auch dann abgelehnt hätte, wenn es ihr eine bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder ermöglicht hätte, bestehen für den Senat nicht. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch die Entscheidung, die Versorgung mit einem zuzahlungspflichtigen Gerät durch die Krankenkasse anzustreben und dies gegebenenfalls in einem Rechtsstreit durchzusetzen, nicht ausreichen würde, um eine den erforderlichen Kausalzusammenhang ausschließende Vorfestlegung zu begründen, denn ein Rechtsstreit darf auch zur Durchsetzung eines Sachleistungsanspruch angestrebt werden und bedingt nicht zwangsläufig eine Selbstbeschaffung.
Der Klägerin stand nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ein Sachleistungsanspruchs auf Versorgung mit dem Modell OPN S3 zu.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben gesetzlich Versicherte unter anderem Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Die Klägerin leidet aufgrund ihrer Hörminderung an einer Behinderung i.S.v. § 33 Abs. 1 3. Alt. SGB V. Gemäß § 21 Abs. 1 der auf der Grundlage von § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V erlassenen und gemäß § 91 Abs. 6 SGB V für alle Beteiligten des GKV-Systems verbindlichen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Hilfsmittel-Richtlinie/HilfsMRL) ist Voraussetzung für die klägerseitig begehrte beidohrige Hörgeräteversorgung, dass
- der tonaudiometrische Hörverlust (DIN ISO 8253-1) auf dem besseren Ohr mindestens 30 Dezibel (dB) in mindestens einer der Prüffrequenzen zwischen 500 und 4000 Hertz (Hz) und
- sprachaudiometrisch die Verstehensquote auf dem besseren Ohr mit Kopfhörern (DIN ISO 8253-3) bei Verwendung des Freiburger Einsilbertests bei 65 dB nicht mehr als 80 % beträgt.
Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin erfüllt. Der tonaudiometrische Hörverlust auf ihrem besseren (rechten) Ohr betrug bei den Prüffrequenzen 2, 3 und 4 kHz mehr als 30 dB; sprachaudiometrisch betrug die Verstehensquote auf ihrem besseren (linken) Ohr mit Kopfhörern im Freiburger Einsilbertest bei 65 dB nur noch 75 %.
Den nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestehenden Leistungsanspruch erfüllt die Krankenkasse gemäß § 12 Abs. 2 SGB V grundsätzlich mit der Zuzahlung des nach § 36 SGB V festgesetzten einheitlichen Festbetrags. Der Festbetrag begrenzt die Leistungspflicht der Krankenkasse aber dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (BSG, Urteile vom 21. August 2008 – B 13 R 33/07 R – juris Rn. 39 m.w.N. Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21 –, juris Rn. 35).
Geht es bei einem Hilfsmittel im Rahmen des Behinderungsausgleichs wie bei einem Hörgerät um den Ausgleich der ausgefallenen Körperfunktion selbst, ist die Hilfsmittelversorgung grundsätzlich von dem Ziel eines vollständigen funktionellen Ausgleichs geleitet (BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 – B 3 KR 10/08 R –, juris Rn. 12). Im Bereich dieses unmittelbaren Behinderungsausgleichs gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Dies dient in aller Regel ohne gesonderte weitere Prüfung der Befriedigung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens, weil die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion als solche schon ein Grundbedürfnis in diesem Sinne ist (BSG, Urteil vom 8. August 2019 – B 3 KR 21/18 R –, juris Rn. 26). Deshalb kann auch die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem gesunden Menschen erreicht ist (BSG, Urteil vom 16. September 2004 – B 3 KR 20/04 R –, juris Rn. 12). Das konkret ausgewählte Hörgerät ist daher grundsätzlich für einen in seiner Hörfähigkeit eingeschränkten Menschen erforderlich i.S.v. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, wenn es nach dem Stand der Medizintechnik (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen normal Hörender erlaubt und damit im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen bietet (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R – juris Rn. 19). Ein erheblicher Gebrauchsvorteil liegt immer dann vor, wenn die gewünschte Versorgung im Alltagsleben relevante funktionale Verbesserung bietet, und sich nicht auf Vorteile im Bereich von Bequemlichkeit, Komfort oder Ästhetik beschränkt (BSG, Beschluss vom 28. September 2017 – B 3 KR 7/17 B –, juris Rn. 15). Teil des von den Krankenkassen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldeten – möglichst vollständigen – Behinderungsausgleichs ist daher nicht nur die Ermöglichung einer Verständigung beim Einzelgespräch unter direkter Ansprache, sondern die Krankenkassen sind verpflichtet, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. April 2024 – L 6 R 32/23 –, juris Rn. 39).
Begrenzt ist der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V jedoch durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V, wonach die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse nicht bewilligen. Soweit ein kostengünstigeres Hilfsmittel zum Ausgleich der Behinderung funktionell ebenso geeignet ist, besteht daher kein Anspruch auf die Versorgung mit einem teureren Hilfsmittel (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2011 – B 3 KR 9/10 R – juris Rn. 29). Darüber hinaus reicht ein subjektiver Eindruck des Versicherten zur Begründung eines Gebrauchsvorteils regelmäßig nicht aus, vielmehr muss sich der vorgetragene Gebrauchsvorteil auch objektivieren lassen (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19. August 2020 – L 6 KR 36/16 R – juris Rn 48; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2020 – L 9 KR 90/18 – juris Rn. 28 m.w.N).
Insofern teilt der Senat die teilweise vertretene Auffassung, als wesentlicher Gebrauchsvorteil komme im Rahmen der Hörgeräteversorgung nur in Betracht, was sich durch Messergebnisse nach dem Freiburger Einsilbertest objektivieren lasse, nicht. Für eine solche Einschränkung finden sich weder im Gesetzeswortlaut noch in der Gesetzesbegründung Anhaltspunkte. Gleiches gilt für die HilfsMRL und die einschlägige Rechtsprechung des BSG. Nach der HilfsMRL ist – im Gegensatz zur Feststellung des mittels Hörgerät auszugleichenden Hörverlustes (§ 21 Abs. 1, § 22 Abs. 1 HilfsMRL) – die Verwendung des Freiburger Einsilbertests bei der Überprüfung des mit der Hörgeräteversorgung erzielten Ergebnisses nicht zwingend vorgegeben, sondern „soll“ (§ 21 Abs. 2, § 22 Abs. 2 HilfsMRL) nur in dieser Form, kann aber auch mittels anderer Sprachtests (vgl. § 21 Abs. 4, § 22 Abs. 4 HilfsMRL) erfolgen. Dass auch andere Aspekte des Hörens – etwa das Richtungshören, das Hören und Verstehen in großen Räumen und bei störenden Nebengeräuschen, eine Rückkoppelungs- und Störschallunterdrückung oder eine Mehrzahl an Hörprogrammen – als wesentlicher Gebrauchsvorteil in Frage kommen, entnimmt der Senat dem untergesetzlichen Recht (vgl. § 22 Abs. 5 HilfsMRL, Beschlüsse des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen vom 12. Dezember 2011 und 10. Juli 2013 zum Hörhilfen betreffenden Festbetragsgruppensystem und den diesbezüglichen Festbeträgen) sowie der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R –, juris Rn. 47 ff.). Aus dem Vorbringen der Beteiligten in diesem und zahlreichen weiteren die Versorgung mit Hörgeräten betreffenden Verfahren folgert der Senat außerdem, dass die auf dem Markt angebotenen Hörgeräte z.T. erhebliche qualitative Unterschiede beim Richtungshören, der Rückkoppelungs- und Störschallunterdrückung oder der Anzahl an Kanälen und Hörprogrammen aufweisen. Zur Abgrenzung von bloßen Komfort- und Ästhetikaspekten verlangt der Senat jedoch, dass sich die potentiellen Gebrauchsvorteilen im Einzelfall plausibilisieren lassen, etwa durch fachkundige Stellungnahmen der behandelnden HNO-Ärzte, des die Versorgung durchführenden Hörakustikbetriebs oder ggf. auch des Hörgeräte-Herstellers.
Das von der Klägerin gewählte Hörgerät bietet hieran gemessen im Vergleich zum angebotenen eigenanteilsfreien Gerät einen wesentlichen Gebrauchsvorteil. Dieser ergibt sich bereits daraus, dass in der konkreten Versorgungssituation der Klägerin beim Modell OPN S3 aufgrund der besseren Rückkopplungsunterdrückung deutlich seltener Rückkopplungen auftraten.
Bereits aus dem Befundbericht des Zeugen D vom 5. Mai 2021 ergibt sich, dass es beim Testen der zuzahlungsfreien Hörgeräte bei der notwendigen Verstärkung und offener Versorgung zu Rückkopplungsproblemen kam und eine geschlossene Versorgung, welche zur Vermeidung von Rückkopplungen versucht wurde, bei der Klägerin zu Beschwerden führte. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung insofern glaubhaft geschildert, dass diese Rückkopplungen nicht selten auftraten und eine Belastung für sie darstellten. Sie hat weiterhin für den Senat glaubhaft geschildert, mehrere verschiedene Ohrpass-Teile getestet zu haben, jedoch nur die von ihr getragenen „Schirmchen“ – industriell gefertigte, mit Löchern versehene Ohrpass-Teile – toleriert zu haben, während die anderen Ohrpass-Teile bei ihr Schmerzen verursachten. Die von der Klägerin genutzten Ohrpass-Teile hat der Senat in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen. Der Zeuge D hat bestätigt, dass diese anfällig für Rückkopplungen sind. Dies ist auch nachvollziehbar, da akustische Signale, wie eine bereits verstärkte Schallwelle, durch die Löcher aus dem Gehörgang wieder austreten und erneut auf das Mikrofon des Hörgeräts treffen können.
Der Zeuge hat in der mündlichen Verhandlung auch plausibel erklärt, dass bei nicht durch eine geschlossene Versorgung zu behebenden Rückkopplungsproblemen nur eine Reduzierung der Signalverstärkung bliebe.
Der dann nur noch unzureichende Hörausgleich würde einen wesentlichen Gebrauchsnachteil darstellen. Die Rückkopplungsunterdrückung der getesteten zuzahlungsfreien Geräte erwiese sich im Vergleich zu der des streitgegenständlichen Modells OPN S3 als weniger effektiv. Nachvollziehbar hat der Zeuge insofern bereits in seinem Befundbericht ausgeführt, dass die Rückkopplungsunterdrückung des Modell OPN S3 derjenigen der getesteten Festbetragsgeräte technisch überlegen ist und vor diesem Hintergrund bei der Testung dieses Modells keine Rückkopplungsprobleme aufgetreten sind.
Der Senat hat vor diesem Hintergrund keine Zweifel, dass die von der Klägerin getesteten Festbetragsgeräten zu Rückkopplungsproblemen führten, welche bei dem Modell OPN S3 nicht auftraten und welche sich durch andere Maßnahmen nicht zumutbar vermeiden ließen.
Die Reduktion von Rückkopplungen stellt auch einen wesentlichen Gebrauchsvorteil dar. Gerade aufgrund der bestehenden weiteren Erkrankungen der Klägerin, deren Symptome sich, wie sich aus dem Befundbericht des Dr. B vom 09. April 2021 ergibt, vor allem bei Stress verstärken, war die Klägerin auf eine möglichst effektive Rückkopplungsvermeidung angewiesen.
Vor dem Hintergrund des festgestellten Gebrauchsvorteil, kann der Senat offen lassen, ob auch durch die weiteren von der Klägerin geschilderten Vorteile, insbesondere das bessere Sprachverständnis und die Vermeidung der mit den Festbetragsgeräten aufgetretenen Beschwerden, eine Versorgung über den Festbetrag hinaus gerechtfertigt hätten. Es spricht aber bereits viel dafür, dass eine höhere Anzahl an Frequenzkanälen einen passgenaueren Ausgleich der Hörminderung gewährleistet. Insoweit decken sich die Angaben des Zeugen D mit den Angaben des im Rechtsstreit L 4 KR 444/22 (vgl. Urteil des Senats vom 30. Januar 2025, juris) zeugenschaftlich vernommenen Hörakustikers. Danach kann bei einem sogenannten Steilabfall in der Hörkurve, wie er bei der Klägerin zwischen zwei und vier kHz vorliegt, durch Geräte mit mehr Kanälen ein besserer Hörausgleich geschaffen werden. Denn bei Hörgeräten mit weniger Kanälen werden für einen optimalen Ausgleich der von der Hörminderung betroffenen Frequenzbereiche angrenzende Frequenzbereiche mitverstärkt, die von der Hörminderung nicht betroffen sind. Da das OPN S3 laut Datenblatt über zwölf Einstellungskanäle verfügt, während die von der Klägerin getesteten Festbetragsgeräte nur über sechs Einstellungskanäle verfügen, könnte sich das von der Klägerin geschilderte bessere Sprachverstehen mit dem OPN S3 hierdurch erklären lassen. Ermittlungen zur weiteren Objektivierung eines diesbezüglichen Gebrauchsvorteils, z.B. durch Ermittlung der konkrete Aufteilung der einstellbaren Frequenzkanäle der getesteten Geräts, waren aufgrund des festgestellten Gebrauchsvorteils in Bezug auf die Rückkopplungsunterdrückung jedoch nicht notwendig. Aus diesem Grund konnten auch weitere Ermittlungen zum Vorliegen einer Hyperakusis (krankhafte Überempfindlichkeit gegen Schall) bei der Klägerin, aus welcher sich auch besondere Anforderungen an ein Hörgerät hätten ergeben können, unterbleiben. Diesbezüglich waren die vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht eindeutig, so dass weitere medizinische Ermittlungen notwendig gewesen wären. Die behandelnde HNO-Ärztin der Klägerin hatte insofern am 02. Februar 2021 die Diagnose Hyperakusis (H93.2+G) gestellt, jedoch gleichzeitig in ihrer Patientenakte vermerkt, dass die entsprechenden Beschwerden nach Schilderungen der Klägerin schon lange vor der Hörgeräteversorgung bestanden. Während der APHAB-Fragebogen, in welchem die Klägerin unterwartete Geräusche wie Rauchmelder und Alarmanlagen mit und ohne Hörgerät als sehr unangenehm beschrieb, und die sich aus der Ohrenärztlichen Verordnung vom 03. September 2019 ergebende Unbehanglichkeitsschwelle für eine diesbezügliche besondere Empfindlichkeit der Klägerin sprechen, war die sich aus dem Anpass- und Abschlussbericht des Hörakustikers vom 12. Juli 2019 ergebende Unbehaglichkeitsschwelle deutlich höher und spricht gegen das Vorliegen einer Hyperakusis zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung.
Soweit die Klägerin geltend macht, mit den Festbetragsgeräten starke Kopfschmerzen, sich verstärkenden Tinnitus, ein Druckgefühl und Erschöpfung ent-wickelt zu haben, handelt es sich hierbei nicht um Einwendungen eines bloßen besseren Komforts oder einer besseren Optik, sondern um Umstände die erheblichen Einfluss auf das Alltagsleben der Klägerin hatten. Der Senat lässt die Glaubhaftigkeit der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Beschwerden, die im zeitlichen Zusammengang mit der der Testung der zuzahlungsfreien Geräte auftraten, offen. Ob die Symptome kausal auf bestimmte technischen Eigenschaften der Festbetragsgeräte zurückzuführen waren, ließ sich jedenfalls nicht feststellen.
Vor dem Hintergrund, dass Dr. B in seinem Befundbericht vom 09. April 2021 eine Zunahme bestehender Symptome im Zusammenhang mit Stress schilderte, hält der Senat es auch für möglich, dass es sich bei den geschilderten Symptomen um Stresssymptome handelte, die unter Umständen auch durch die Gewöhnung an das zuerst getestete Modell OPN S3 und die daher notwendige Umgewöhnung in Bezug auf die Festbetragsgeräte begünstigt wurden. Dafür könnte sprechen, dass sich bei der Klägerin während des ersten Tests des Modells Siya 1 – trotz des nur sporadischen Einsatzes – nicht die beim zweiten Test sofort aufgetretenen massiven Beschwerden zeigten.
Auch wenn der genaue Ursachenzusammenhang sich hier nicht mehr aufklären lässt, ist der Beklagtenvertreterin zuzustimmen, dass es grundsätzlich sinnvoll erscheint, eine Testung mit einem Festbetragsgerät zu beginnen, um die Wahrscheinlichkeit einer Gewöhnung an ein komfortableres zuzahlungspflichtiges Gerät zu verhindern. Ohne dass es vorliegend darauf ankommt, erlaubt sich der Senat jedoch den Hinweis, dass Versicherten in der Regel das Fachwissen fehlen dürfte, um die Sinnhaftigkeit einer bestimmte Testreihenfolge zu beurteilen. Es ist vielmehr Aufgabe der Krankenkassen und des Medizinischen Dienstes (MD), Maßstäbe und Verfahren zur Beurteilung der Erforderlichkeit der Versorgung im Einzelfall zu entwickeln (vgl. § 275 Abs. 3 Nr. 1 SGB V) und im Rahmen von Verträgen mit Leistungserbringern (vgl. §§ 126, 127 SGB V) eine kostengünstige Hörgeräteversorgung zu organisieren und zu gewährleisten (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris Rn. 41). Sofern eine kostengünstige Hörgeräteversorgung besser gewährleistet werden kann, wenn zunächst ein zuzahlungsfreies Gerät getestet wird, besteht für die Krankenkassen die Möglichkeit, mit den Leistungserbringern eine entsprechende Vereinbarung zu treffen und die Versicherten entsprechend zu beraten. Die aus § 14 SGB I resultierende Pflicht der Krankenkassen, den Versicherten bei einem – wie hier – unübersichtlichen Markt den konkreten Weg zu gesetzlich möglichen Leistungen aufzuzeigen, besteht unabhängig von den mit den Leistungserbringern geschlossenen Verträgen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Dezember 2017 – L 9 KR 372/17 B ER –, juris Rn. 24). Sofern bei der Testung von Hörgeräten eine ggf. vertraglich zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern vereinbarte Testreihenfolge nicht eingehalten wird, darf sich dies wegen der Unzulässigkeit, Verträge zu Lasten Dritter zu schließen, nicht zu Ungunsten der an diesen Verträgen nicht beteiligten Versicherten auswirken. Stattdessen dürften den Krankenkassen gegen den jeweiligen Hörakustikbetrieb Regress- bzw. Schadensersatzforderungen zustehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 in Verbindung mit § 183 Satz 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.