Die Kenntnisverschaffung des Adressaten durch bloße Weiterleitung der Kopie eines Verwaltungsaktes durch das Sozialgericht stellt keine willentliche Bekanntgabe durch die Behörde im Sinne von §§ 37 Abs. 1 Satz 1, 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X dar.
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 2023 aufgehoben.
Die Beklagte wird entsprechend ihrem Anerkenntnis verpflichtet, die Klägerin bezüglich ihres Antrages auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II vom 19. November 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen einer Untätigkeitsklage über einen Anspruch der Klägerin auf Bescheidung eines Antrags auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der 1958 geborenen Klägerin bewilligte das Jobcenter Berlin S mit Bescheid vom 2. September 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bis Januar 2022. Sie meldete ihre Anschrift polizeilich am 19. November 2021 mit Wirkung zum selben Tag für die aus dem Rubrum ersichtliche Adresse um. Am 24. November 2021 beantragte sie mittels der Veränderungsmitteilung vom 19. November 2021 bei der Beklagten die Weitergewährung von Grundsicherungsleistungen. Im nachgereichten Antragsformular gab sie durch Ankreuzen an: „Ich wohne im Eigentum.“ Das Jobcenter Berlin S hob mit Bescheid vom 30. November 2021 die Bewilligung mit Wirkung ab 1. Januar 2022 wegen des Umzuges und des damit verbundenen Wechsels der Zuständigkeit des Jobcenters auf.
Die Beklagte erließ den Versagungsbescheid vom 28. März 2022 wegen unzureichender Mitwirkung und hob diesen Bescheid auf den Widerspruch der Klägerin durch Abhilfebescheid vom 4. Mai 2022 auf. Es erfolge nunmehr eine erneute Prüfung des Anspruchs auf Leistungen.
Die Klägerin erhob durch ihren damaligen Prozessbevollmächtigten (VdK) am 30. November 2022 Untätigkeitsklage und beantragte, den Antrag der Klägerin auf Leistung nach dem SGB II aus dem Jahr 2021 zu bescheiden. Die Klägerin sei seit Dezember 2020 Eigentümerin des von ihr bewohnten Wohnobjektes und die Beklagte habe von ihr wissen wollen, ob sie aus der Wohnung vor ihrem Einzug Mieteinnahmen gehabt habe. Sie habe alle erforderlichen Mitwirkungshandlungen getätigt. Eine Bescheidung des Antrages, auch die Bewilligung eines Vorschusses seien nicht erfolgt. Seit Januar 2022 sei die Klägerin nicht mehr krankenversichert.
Mit Schreiben vom 24. Januar 2023 übersandte die Beklagte den Bescheid vom 20. Januar 2023 dem Sozialgericht und äußerte dazu, dass sich das Verfahren damit erledigt haben dürfte. Es handelte sich um einen Ablehnungsbescheid, der ausführt, dass die Klägerin nicht hilfebedürftig sei, weil sie über verwertbares Vermögen von 477.000 Euro im Hinblick auf ihr Eigentumsobjekt in der Fstraße Berlin, verfüge. Der Gesamtwert des Objektes betrage 954.000 Euro. Da auch der Bruder zur Hälfte Eigentümer des Grundstücks sei, ergebe sich der genannte Vermögenswert für die Klägerin. Der Bruder habe bereits die Veräußerung des Grundstückes verlangt, um den hieraus erzielten Ertrag zu teilen. Veräußerungshemmnisse seien nicht zu erkennen.
Das Sozialgericht Berlin wies die Klage durch Gerichtsbescheid vom 26. Juni 2023 ab. Die Klage sei unzulässig, denn eine Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 SGG sei nur zulässig, wenn ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes nicht beschieden worden sei. Dies sei hier im Hinblick auf den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2023 nicht mehr der Fall. Dem Begehren der Klägerin auf Bescheidung des Antrages sei entsprochen worden. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre Klage habe umstellen wollen. Der Gerichtsbescheid wurde der Klägerin am 30. Juni 2023 zugestellt.
Diese gerichtliche Entscheidung hat die Klägerin am 14. Juli 2023 mit einem Schreiben an das Sozialgericht Berlin angefochten, welches die Berufung an das Landessozialgericht weitergeleitet hat. Es liege weiterhin Untätigkeit vor und es sei nicht nachvollziehbar, warum das Jobcenter S eine Bewilligung vorgenommen habe, die Beklagte unter denselben Umständen jedoch bislang nicht.
Auf Nachfrage des Gerichts, ob die Klägerin den Bescheid vom 20. Januar 2023 mit Widerspruch angefochtenen habe, antwortete die Klägerin: „Ja, selbstverständlich“ (am 28. August 2023 bei Gericht eingegangenes Schreiben), führte jedoch wenige Sätze später aus: „Es liegt kein Bescheid vom 20. Januar 2023 (?) vor“.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II vom 19. November 2021 zu bescheiden.
Die Beklagte verweist auf die Ausführung im angefochtenen Gerichtsbescheid. Gegen den Bescheid vom 20. Januar 2023 sei kein Widerspruch aktenkundig. In der mündlichen Verhandlung übergab der Sitzungsvertreter der Beklagten wegen der Abwesenheit der Klägerin dem Gericht den Bescheid vom 20. Januar 2023 mit dem ausdrücklichen Ersuchen, diesen Bescheid als Bote an die Klägerin zur Bekanntgabe weiterzuleiten.
Die Beklagte hat den Bescheidungsanspruch der Klägerin anerkannt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakten und der Aktenauszüge des Beklagten gemäß (§§ 153 Abs. 1, 136 Abs. 2 SGG), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte in Abwesenheit der Beteiligten entscheiden (§ 126 SGG, Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 126 Rn. 4), weil diese in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde (§ 110 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Gegenstand des Rechtsstreites ist ausschließlich das gemäß § 88 Abs. 1 SGG von der Klägerin geltend gemachte Verpflichtungsbegehren auf Bescheidung ihres Leistungsantrages vom 19. November 2021. § 88 Abs. 1 SGG bestimmt:
„Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts zulässig. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, die verlängert werden kann.“
Dabei ist lediglich der reine Bescheidungsanspruch, nicht aber die inhaltliche Bewertung des Antrages vor das Gericht gebracht. Gegenstand der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ist also nicht eine bestimmte inhaltliche Entscheidung (z.B. eine Leistungsbewilligung), sondern nur, dass überhaupt eine Entscheidung zum Antrag getroffen wird. Die inhaltliche Kontrolle ist nach Erlass des eingeforderten Bescheides dem dann eröffneten Rechtsbehelfsverfahren vorbehalten.
Die zulässige Berufung ist begründet. Die Beklagte war entsprechend dem von ihr erklärten Anerkenntnis zur Bescheidung des Antrages der Klägerin zu verpflichten.
Die Klage ist zulässig, denn die Sechsmonatsfrist war schon bei Klageerhebung abgelaufen. Entgegen der Annahme des Sozialgerichts ist auch kein erledigendes Ereignis eingetreten. Die Beklagte konnte nicht beweisen, dass der Bescheid vom 20. Januar 2023 oder ein anderer, den Antrag der Klägerin inhaltlich bescheidender Verwaltungsakt bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung wirksam geworden, d.h. der Klägerin bekanntgegeben worden ist (§§ 39 Abs. 1 Satz 1, 37 Abs. 1 und 2 SGB X). Die Übergabe des Bescheides in der mündlichen Verhandlung hat auch noch keine Bekanntgabe und damit auch nicht die Wirksamkeit des Bescheides i.S.v. § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X ausgelöst, die erst eintritt, wenn der Bescheid – im vorliegenden Fall über das Gericht der Klägerin (mit diesem Urteil) zugestellt wird, wobei das Gericht diesmal ausdrücklich von der Beklagten eingesetzter Bote für die Bekanntgabe ist. Dieser Umstand ist seitens des Gerichts von Amts wegen zu berücksichtigen. Die Kenntnisverschaffung sowohl des Prozessbevollmächtigten wie auch der Klägerin selbst durch bloße Weiterleitung einer Kopie des Bescheides durch das Sozialgericht stellte keine willentliche Bekanntgabe durch die Beklagte dar (Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Auf. 2020, § 37 Rn. 6 m.w.N.; Siewert in Diering/Timme/Stähler: SGB X, 6. Aufl. 2022, § 37 SGB X, Rn. 3). Eine Sachentscheidung war deshalb noch zu treffen, hier in der Form des Anerkenntnisurteils, weil die Klägerin das Anerkenntnis der Beklagten nicht angenommen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.