S 1 U 91/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 91/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 104/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 33/25 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid


Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Unfallfolgen und Gewährung von Verletztenrente.

Die Klägerin erlitt einen als solchen anerkannten Arbeitsunfall am 22. Juli 2008, als sie beim Ausladen von Topfpflanzen aus einem Transporter vom hinteren Trittbrett rückwärts abrutschte und auf das Steißbein fiel (vergleiche Unfallanzeige vom 23. August 2008). Aus dem Durchgangsarztbericht vom Unfalltag ergab sich als Erstdiagnose eine Steißbeinprellung und es folgte eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 26. Juli 2008. Die Klägerin stellte sich am 4. August 2008 einem Orthopäden vor wegen akuter linksseitig aufgetretener Schulterschmerzen. Der Durchgangsarzt dokumentierte im Bericht vom 11. September 2008 erstmals Schmerzen der linken Schulter, die bei einer Untersuchung am 13. August 2008 festgestellt worden waren. Am 26. September 2008 wurde die Klägerin an der Schulter operiert, wobei eine Rotatorenmanschettenkonstruktion sowie eine vordere Akromioplastik vorgenommen wurden.

Mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 lehnte die Beklagte ein Anspruch der Klägerin auf Entschädigung aus Anlass der Ereignisse vom 22. Juli 2008 über den 27. Juli 2008 hinaus ab: Durch das Unfallereignis habe sich die Klägerin eine Steißbeinprellung zugezogen, die eine unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit bis zum 27. Juli 2008 verursacht habe. Danach habe die Klägerin ihre Arbeit wiederaufgenommen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Schulterverletzungen bestehe jedoch nicht. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 2009 zurückgewiesen wurde. In der Zwischenzeit wurde die Klägerin am 3. Februar 2009 wegen einer Ruptur der Supraspinatussehne operiert. Die Beklagte holte ein orthopädisches Gutachten bei Professor Dr. C. ein, der einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Rotatorenmanschettenruptur verneinte.

Gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Kassel (Az. S 4 U 167/09). In diesem legte sie ein orthopädisches Gutachten der Dres. D. und E. vom 27. Oktober 2009 vor, das in einem zivilrechtlichen Streitverfahren mit einem Privatversicherer erstellt worden war und einen kausalen Zusammenhang zwischen der Rotatorenmanschettenruptur und dem Unfallereignis bejaht. Das Gericht holte ein Sachverständigengutachten bei Dr. F. ein (Gutachten vom 21. Juni 2010), der die Schulterverletzungen nicht auf das Unfallereignis zurückführte. Es wurde ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG bei Dr. H. (chirurgisches Gutachten vom 13. August 2012) nebst pathologischen Zusatzgutachten bei Dr. G. (Gutachten vom 26. Juli 2012) eingeholt. Diese bejahten einen Kausalzusammenhang insbesondere wegen der Ergebnisse der histologischen Untersuchung und der pathologischen Erwägungen von Dr. G. Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 3. Dezember 2012 ab, da mehr gegen einen Kausalzusammenhang spreche als dafür. Es bestehe weder ein Anspruch auf weitere Verletztengeldzahlung noch auf Gewährung einer Verletztenrente. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht Darmstadt ein (Az. L 3 U 31/13). Im Rahmen des Berufungsverfahrens wurde ein weiteres fachorthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten bei Professor Dr. K. eingeholt (Gutachten vom 13. Oktober 2015). Je nach zugrunde gelegtem Unfallhergang habe sich die Klägerin jedoch allenfalls eine Zerrung oder Stauchung der linken Schulter bei dem Unfall zugezogen. Die Schädigung der Rotatorenmanchetten sei jedoch nicht auf den Unfall zurückzuführen. Zu diesem Gutachten wurde eine ergänzende Stellungnahme nach § 109 bei Dr. H. eingeholt. Es folgten weitere ergänzende Stellungnahmen von Professor Dr. K. und nochmals von Dr. H. Die Berufung wurde mit Urteil vom 25. Juli 2017 (ausgefertigt am 31. Juli 2017) zurückgewiesen, da deutlich mehr gegen einen Kausalzusammenhang als dafür sprechen würde. 

Mit Schreiben im 4. September 2017 beantragte die Klägerin eine Überprüfung nach § 44 SGB X und verwies auf die Gutachten der Dres. G. und H. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 8. März 2018 die Zurücknahme des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2009 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2018 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 28. Juni 2018 Klage vor dem Sozialgericht Kassel erhoben.

Sie ist der Ansicht, dass der Sachverhalt auch ohne neues Vorbringen neu geprüft werden müsse.

Die Klägerin beantragt, 
unter Abänderung des Bescheides vom 08.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides die Beklagte zu verurteilen, den Rotatorenmanschettenschaden der linken Schulter als Folge des Unfalls vom 22.07.2008 anzuerkennen und wegen der Unfallfolgen eine Versichertenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 4. Oktober 2018 zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der Einzelheiten insbesondere des vorangegangenen Rechtsstreits wird auf die Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten und der beigezogenen Gerichtsakte des Verfahrens Az. S 4 U 167/09 vor dem Sozialgericht Kassel bzw. Az. L 3 U 31/13 vor dem Landessozialgericht Darmstadt verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

I. Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, nachdem die Beteiligten zuvor entsprechend angehört worden sind, ihnen eine angemessene Frist zur Stellungnahme eingeräumt worden ist und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt darüber hinaus so, wie für die Entscheidung allein rechtlich relevant ist, geklärt ist. Der Gerichtsbescheid wirkt insofern als Urteil (§ 105 Abs. 3, 1. HS SGG).

II. Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sowie Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG (BSG Urteile vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10 RdNr 8; vom 26.4.2016 - B 2 U 14/14 R - SozR 4-2700 § 90 Nr 4 RdNr 15; vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R - BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr 28, RdNr 11; vom 19.12.2013 - B 2 U 17/12 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 1 RdNr 12 und vom 11.4.2013 - B 2 U 34/11 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 4 RdNr 15; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, § 54 RdNr 232).

III. Die Klage ist jedoch unbegründet, da der angegriffene Bescheid vom 8. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2018 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.

1. Die Pflicht zur Rücknahme des ursprünglichen Verwaltungsakts vom 128. Oktober 2008 richtet sich nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist (gebundene Entscheidung) ein (i. S. des § 45 Abs. 1 SGB X nicht begünstigender) Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass (anfänglich) bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Das Gebot zur rückwirkenden Rücknahme gilt nicht in bestimmten Fällen der Bösgläubigkeit (Abs. 1 Satz 2 aaO). Im Übrigen "kann" (Ermessen) der anfänglich rechtswidrige Verwaltungsakt auch in sonstigen Fällen, dh außerhalb des Abs. 1 Satz 1 aaO, für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Abs. 2 Satz 2 aaO). 

Bei der ersten Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X geht es nur um die rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen und Beweismittel nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 - Az. B 2 U 24/05 R -). Das bedeutet jedoch nicht, dass in jedem Fall eine vollständige Überprüfung des Sachverhalts erfolgen müsste. Es ist vielmehr aus rein rechtlicher Sicht zu würdigen, ob der der bestandskräftig gewordenen Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt rechtlich zutreffend beurteilt und rechtlich in nicht zu beanstandender Weise bewertet worden ist (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 22. Juli 2020 – L 13 R 566/19 –, juris Rn. 21).

Wurde der streitgegenständliche Bescheid in der Vergangenheit bereits gerichtlich überprüft, beschränkt sich die Prüfungsdichte auf evidente bzw. ins Auge fallende Fehler. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltung und der Gerichte, bei Überprüfungsanträgen ungefragt in eine Fehlersuche einzutreten und mit einer rechtlichen Prüfung von vorne zu beginnen, wenn sich eine Rechtswidrigkeit des zu überprüfenden Bescheides weder aus dem Vorbringen noch wegen offenkundiger Mängel aufdrängt (zur ungefragten Fehlersuche vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 31.05.2002 - 7 B 11/02 -; BVerwG, Urteil vom 08.03.2017 - 4 CN 1/16 -). In diesen Fällen besteht eine gesteigerte Überprüfungsfestigkeit des Verwaltungsaktes. Die in diesen Fällen erzeugte, gleichsam "mehrschichtige Rechtssicherheit" schließt zwar eine erneute Überprüfung nicht schlechthin aus, sie führt jedoch zu einer gesteigerten Substanziierungslast des Betroffenen (Breitkreuz/Merten, SGb 2014, 113 ff.). Ist danach der bestandskräftige Verwaltungsakt nicht offensichtlich unrichtig, darf sich die Verwaltung ohne jede weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung (§ 77 SGG) berufen (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 22. Juli 2020 – L 13 R 566/19 –, juris Rn. 23).

Für die zweite Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen eines abgestuften Verfahrens an (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1988 - Az.: 9/9a RV 18/86 -, das auch im Urteil des BSG vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R - nicht infrage gestellt worden ist). Die Prüfung hat sich bei der zweiten Alternative an den rechtlichen Vorgaben zu orientieren, wie sie auch im Rahmen eines gerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens zu beachten sind (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 22. Juli 2020 – L 13 R 566/19 –, juris Rn. 24).

2. Von diesen Maßstäben ausgehend, ist der angegriffene Überprüfungsbescheid in Gestalt des Widerspruchbescheides rechtmäßig.

Das Gericht nimmt Bezug auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten im Bescheid und Widerspruchsbescheid, denen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht von Seiten der Kammer nichts hinzugefügt werden kann. Das Gericht sieht daher gemäß § 136 Abs. 3 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil es nach eigener Prüfung der Begründung der Beklagten folgt und dies in dieser Entscheidung hiermit feststellt. Denn die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid bzw. Widerspruchsbescheid sowohl die tatsächlichen Verhältnisse zutreffend dargestellt als auch eine zutreffende rechtliche Prüfung des Sach- und Streitstandes vorgenommen. Zur Vermeidung von Wiederholungen ist daher nach § 136 Abs. 3 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidung abzusehen.

Ergänzend führt das Gericht aus, dass rechtliche Fehler nicht erkennbar sind. Weder liegen offensichtliche rechtliche Fehler vor, noch wurde von der Klägerin vorgetragen, woraus sich eine fehlerhafte Rechtsanwendung ergeben könnte. 

Auch wurden keine neuen Tatsachen vorgetragen. Die Gutachten der Dres. H. und G. waren in dem vorangegangenen Gerichtsverfahren bekannt und wurden ausführlich in den Urteilen durch das Sozialgericht Kassel wie auch durch das Landessozialgericht Darmstadt gewürdigt. 

Weder die Beklagte noch das Gericht sind deshalb verpflichtet, ins Blaue hinein in eine volle Sachprüfung erneut einzusteigen.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
Saved