L 1 VE 25/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 31 VE 5/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 25/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 4/25 B
Datum
Kategorie
Urteil


Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 8. Juli 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsrecht.

Bei dem 1978 geborenen Kläger besteht seit 2001 ein psychiatrisches Krankheitsbild; seit 2005 bestand Arbeitsunfähigkeit u.a. wegen einer ängstlich vermeidenden Panikstörung und Depressionen; ab 2007 werden Panikattacken und sozialer Rückzug berichtet (Befundbericht der Dr. G. vom 12.10.2014, Bl. 36 der Verwaltungsakte). Im Rahmen einer stationären Cannabisentgiftung im Zentrum für Soziale Psychiatrie Rheinblick (Vitos Klinik) vom 12.05.2009 bis 15.06.2009 wurden die Diagnosen „Mittelgradige Panikstörung, somatoforme Schmerzstörung sowie der Verdacht auf rezidivierende depressive Episode“ bestätigt. Ab August 2009 befand sich der Kläger in ambulanter psychiatrischer Behandlung bei Dr. G. (Vitos Klinik Eichberg - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie). In der Zeit vom 27.10.2009 bis 27.11.2009 erfolgte eine weitere stationäre Behandlung wegen „anhaltender somatoformer Schmerzstörung, schwerer depressiver Episode und Agoraphobie mit Panikstörung“ in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Eltville. Anschließend wurde der Kläger durchgängig medikamentös u.a. mit Tavor® und Lyrica® therapiert.

Der Kläger wurde am 16.12.2013 Opfer eines tätlichen Angriffs und von dem ihm unbekannten später ermittelten Täter auf offener Straße grundlos geschlagen, zu Boden geworfen sowie getreten und dadurch im Gesicht und an der linken Hand verletzt. Nach dem Angriff war der Kläger in der Horst-Schmidt-Klinik (HSK) in Wiesbaden notfallmäßig ambulant behandelt worden; es wurden folgende Diagnosen gestellt: Gehirnerschütterung (Commotio cerebri), nicht dislozierte Nasenbeinfraktur, knöcherner Abriss palmare Platte DIP-Gelenk des linken Zeigefingers, Prellungen der linken Schulter und der Lendenwirbelsäule, Depression, Angst- und Panikstörung und psychosomatisches Schmerzsyndrom (Entlassungsbericht vom 19.12.2013, Bl. 22 der Verwaltungsakte).

Am 05.03.2014 beantragte der Kläger bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Zum Tathergang führte er ergänzend aus, dass er mit der Faust an der Nase getroffen worden und dabei zu Boden gefallen und getreten worden sei. Als er sich habe schützen wollen, habe der Täter seinen Zeigefinger ergriffen und verdreht. Er habe geschrieen, er werde die Polizei rufen; dann habe der Täter ihm gedroht, er bringe ihn um, wenn er dies tue. Dabei habe der Täter ein Messer gezogen. Als dauerhafte Gesundheitsschäden lägen eine Verletzung der Nase mit Störung der Nasenatmung, die Verletzung des linken Zeigefingers mit Bewegungseinschränkung, eine erhebliche psychische Belastung und Schlafstörungen vor. Der Beklagte holte daraufhin Befundberichte der HSK Wiesbaden vom 19.12.2013, des Facharztes für Orthopädie Dr. E. vom 20.09.2014, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. F. vom. 29.09.2014 und der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. G. vom 12.10.2014 ein. Zudem zog er die Akte des Amtsgerichts (AG) Idstein bei, aus welcher sich ergab, dass der Täter mit Urteil des AG vom 30.06.2014 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten (auf Bewährung) verurteilt worden war (Az.: 9 Ds 5520 Js 12498/14, Bl. 14 f. d. Verwaltungsakte).

Mit Bescheid vom 15.12.2014 stellte der Beklagte nach Einholung einer aktenmäßigen Stellungnahme der beratenden Ärztin Dr. H. vom 07.11.2014 fest, dass der Kläger durch die Gewalttat vom 16.12.2013 eine gesundheitliche Schädigung im Sinne des OEG erlitten habe. Als Folge der Schädigung erkannte er eine „Verletzung des linken Zeigefingers mit Bewegungsstörung“ an. Dadurch sei ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von Null verursacht. Ab dem 16.12.2013 hätten als Gesundheitsstörungen eine Commotio cerebri, eine Nasenbeinfraktur, Prellungen der linken Schulter und der Lendenwirbelsäule vorgelegen, welche innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten folgenlos abgeklungen seien. Eine Anerkennung dieser Gesundheitsstörungen nach dem OEG komme daher nicht in Betracht, jedoch würden dem Kläger die durch diese Gesundheitsstörungen entstandenen Heilbehandlungskosten in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erstattet. Ein rentenberechtigender GdS von 25 läge nicht vor. Die psychischen Belastungen sowie die Schlafstörungen könnten nicht als Folgen der Gewalttat anerkannt werden, da sie laut dem eingeholten Befundbericht der Dr. G. bereits seit mindestens 2009 vorgelegen hätten. Eine Verschlechterung aufgrund des Vorfalls vom 16.12.2013 sei nicht belegt. Der Kläger widersprach dieser Entscheidung am 23.12.2014. Er habe durch die erlittenen Verletzungen Schmerzen in der linken Hand; der Finger sei in der Bewegungsfähigkeit eingeschränkt. Auch seine psychische Befindlichkeit habe sich seit dem gewalttätigen Überfall erheblich verschlechtert. Panikattacken, Unruhezustände und massive Schlafstörungen seien stärker geworden. Ihm sei deshalb ein zusätzliches psychiatrisches Medikament (Cymbalta®) verordnet worden.

Der Beklagte zog die Schwerbehindertenakte des Klägers bei und holte Befundberichte der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. G. vom 08.07.2015 und des Facharztes für Orthopädie Dr. K. vom 03.08.2015 ein. Sodann beauftragte er ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L. vom 07.10.2016. Dieser stellte nach einer Untersuchung des Klägers fest, dass die bei dem Kläger vorliegenden Erkrankungen ängstlich-vermeidende bzw. asthenische Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägter Somatisierungstendenz in Belastungssituationen und ein schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden schädigungsunabhängig seien. Das Vorhandensein einer Traumafolgestörung habe sich bei der Untersuchung nicht verifizieren lassen. Sofern in der Vergangenheit eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorgelegen habe - welche inzwischen abgeklungen sei - sei sie nicht alleinige Ursache für den derzeitigen Gesundheitszustand. Nach dem Untersuchungsergebnis läge daher kein entschädigungspflichtigen GdS vor. Ob in der Vergangenheit ein entschädigungspflichtigen GdS zeitnah zu dem Schadensereignis vorgelegen hätte, könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit gesagt werden. Nach derzeitigem Kenntnisstand hätten schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen überragende Bedeutung im Zusammenhang mit dem geltend gemachten Schadensereignis. Im Rahmen seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.01.2017 zum zwischenzeitlich eingeholten weiteren Befundbericht der Dr. G. vom 27.11.2016 bestätigte Dr. L. dieses Ergebnis.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.02.2017 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurück, die Schädigung im Mittelgelenk des linken Zeigefingers bedinge keinen GdS, weil sie nach dem Ergebnis der Begutachtung mit keinen funktionellen Defiziten verbunden sei. Die psychischen Beschwerden seien hingegen nicht Folgen der anerkannten Gewalttat. Ausweislich der eigeholten Befundberichte habe sich der Kläger bereits vor dem Gewaltereignis in ambulanter und stationärer psychiatrischer Behandlung wegen einer depressiven Störung, Angststörung, Persönlichkeitsstörung, schädlichen Gebrauch von Cannabis und Abhängigkeit von Benzodiazepinen befunden. Sowohl nach den aktenkundigen medizinischen Unterlagen als auch nach dem Ergebnis der Begutachtung sei es nicht zu einer dauerhaften Verschlimmerung der vorbestehenden Gesundheitsstörungen durch das schädigende Ereignis gekommen.

Hiergegen hat der Kläger am 15.03.2017 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben. Er hat zur Klagebegründung vorgetragen: Bei ihm sei aufgrund der Verletzung seines linken Zeigefingers ein GdS festzustellen. Zudem seien seine psychischen Beschwerden als Folgen der Tat anzuerkennen: Zum Zeitpunkt der Gewalttat habe er keine offenkundigen psychischen Leiden gehabt, vielmehr habe eine erhebliche Stabilität vorgelegen. Sein Zustand habe sich aufgrund der Gewalttat nicht lediglich verschlechtert, es seien vielmehr neue psychische Leiden hinzugetreten. Das beklagte Land hat sich zur Begründung im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren ebenso wie auf die Stellungnahmen seiner sozialmedizinischen Beraterin Dr. J. vom 27.09.2017, 16.06.2018, 17.12.2018 und 06.05.2020 berufen. 

Das Sozialgericht hat im Rahmen der Sachermittlungen von Amts wegen Befundberichte des Facharztes für Orthopädie Dr. M. vom 26.06.2017, der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. G. vom 25.06.2017, der Fachärztin für Neurologie Dr. N. vom 23.06.2017, des Diplom-Psychologen Dr. Q. vom 05.07.2017, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. F. vom 27.07.2017, der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 26.01.2020, des St. Josefs-Hospitals Wiesbaden vom 21.02.2020 und der Helios Klinik Idstein vom 28.02.2022 eingeholt. Außerdem hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie S. vom 02.02.2021 sowie einer ergänzenden Stellungnahme der Ärztin vom 19.01.2022. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten ausgeführt: Es sei bei dem Kläger von einer psychischen Störung auszugehen, mit depressiven Anteilen und Angstanteilen; von einer Cannabisabhängigkeit, die fraglich fortbestehe und einer weiterbestehenden Benzodiazepin-Abhängigkeit, bei einer doch erheblichen Persönlichkeitsstörung, die diese perpetuiere und zu einer zunehmenden Verflachung beitrage. Auf den geltend gemachten Angriff könne keine der aufzuzeigenden Störungen tatsächlich gesichert zurückgeführt werden. Es zeige sich durchweg ein erheblich komplexes psychisches Bild, das bereits 2001 zum Rückzug aus dem Arbeitsleben und 2009 zum Beginn psychiatrischer Behandlungen geführt habe, wobei erstaunlicherweise die Suchtkomponente in den zurückliegenden Befunden bei dem Patienten wenig Niederschlag finde. Dabei sei aufzuführen, dass gerade bei Substanzkonsum in der Vorgeschichte, Schmerzbehandlung und psychische Behandlung sich komplexer und schwieriger darstellten, da oft auf andere Behandlungsstrategien wegen der anhaltenden Besetzung von Rezeptoren des Nervensystems, zurückgegriffen werden müsse, Ob es eine vorübergehende Verschlechterung gegeben habe, lasse sich anhand der Angaben des Patienten und auch der Aktenlage nicht sichernd darstellen.

Das Sozialgericht Wiesbaden hat mit Urteil vom 08.07.2022 die Klage abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bescheide seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Ausgehend von den rechtlichen Vorgaben im BVG, im OEG und den entsprechenden Beweismaßstäben habe der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen der Gewalttat vom 16.12.2013. Der Kläger habe zwar eine Schädigung des linken Zeigefingers mit Bewegungsstörung infolge des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs erlitten. Es sei jedoch nicht zur Überzeugung des Sozialgerichts dargelegt worden, dass diese Schädigung einen Mindest-GdS von 10 bedinge. Der Kläger leide unter eingeschränkter Beugefähigkeit des linken Zeigefingers und Schmerzen (Befundbericht Dr. E. vom 20.09.2014). Gemäß Teil Ziff. 18.13 VersMedV werde die Versteifung eines Fingers in günstiger Stellung mit einem Einzel-GdS von 0 bis 10, der Verlust eines Fingers mit einem Einzel-GdS von 10 bewertet. Eine GdS-relevante Einschränkung ergebe sich nach diesen Vorgaben nicht. Zudem sei ein Ursachenzusammenhang zwischen dem anerkannten tätlichen Angriff vom 16.12.2013 und den psychischen Erkrankungen des Klägers nicht wahrscheinlich. Das Sozialgericht stütze sich dabei auf die eingeholten Befundberichte, die medizinischen Unterlagen der Verwaltungsakte sowie auf das Gutachten der Sachverständigen S. vom 02.02.2021 mit der ergänzenden Stellungnahme vom 19.01.2022. Keine der von der Sachverständigen S. festgestellten Störungen könne nach Ansicht der Sachverständigen auf den geltend gemachten Angriff zurückgeführt werden: Bei dem Kläger bestehe ein komplexes psychisches Krankheitsbild, das bereits 2001 zum Rückzug aus dem Arbeitsleben und 2009 zum Beginn der psychiatrischen Behandlung geführt habe (S. 30 des Gutachtens). Auch eine Verschlimmerung der psychischen Leiden durch den Angriff lasse sich nach Ausführungen der Sachverständigen nicht beweisen: Im Rahmen der Begutachtung ließ sich kein eigentliches Ereigniszentrum ausmachen, in dem es zu einer Verschlechterung der psychischen Symptomatik im Zusammenhang mit dem Ereignis gekommen sei (S. 29 des Gutachtens). Im Rahmen der Begutachtung habe der Kläger über Gewalterfahrungen in der Kindheit berichtet, diese seien auch dem Befundbericht der Dr. G. vom 25.06.2017 zu entnehmen. Zusätzlich werde als belastendes Ereignis der Tod des Vaters des Klägers im Jahre 2001 genannt, seit welchem der Kläger depressiv und ängstlich sei (Dr. G. im Befundbericht vom 12.10.2014). Die Sachverständige sehe darin eine Vielzahl von Ursachen, die konkurrierend nebeneinanderstünden und für die psychische Symptomatik verantwortlich seien. Daraus leite sie eine fehlende Ursächlichkeit zwischen den aktuellen psychischen Beschwerden und dem Angriff vom 16.12.2013 ab (S. 29 d. Gutachtens). Diesen schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen folge das Sozialgericht uneingeschränkt. Die Sachverständige habe auch anhand der vorgenommenen Untersuchung des Klägers keine vorübergehende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes aufgrund des anerkannten Angriffs im Sinne einer PTBS ausmachen können (S. 30-31 des Gutachtens). Eine posttraumatische Symptomatik habe bei dem Kläger weder im zeitlichen Zusammenhang mit dem Angriff noch im Beschwerdevortrag ausgemacht werden können (ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen vom 19.01.2022, S. 3). Damit werde auch das Ergebnis des durch den Beklagten bei Dr. L. eingeholten Gutachtens vom 07.10.2016 bestätigt.

Der Kläger hat gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 22.07.2022 zugestellte Urteil am 02.08.2022 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben, seinen bisherigen Vortrag wiederholt sowie ergänzend vorgetragen: Die bestehende psychische Störung habe sich durch den Angriff verschlechtert. Er habe sich über einen Zeitraum von zwei Jahren in einer Traumatherapie bei dem Dipl.-Psych. Q. in A-Stadt befunden. Es sei ihm daher eine Beschädigtenversorgung im Umfang eines GdS von 30 zu gewähren. Ergänzend verweist er auf ein Attest der Dipl.-Psych. R. vom 12.04.2024, die ihn seit 2022 psychotherapeutisch behandle und eine PTBS bestätige (Bl. 744, 745 der Gerichtsakte). 

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 08.07.2022 sowie den Bescheid des Beklagten vom 15.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen der gesundheitlichen Folgen der Verschlimmerung der psychischen Störung und der Verletzung seines Zeigefingers infolge des schädigenden Ereignisses am 16.12.2013 eine Beschädigtenrente bis 31.12.2023 bzw. Entschädigungsleistungen ab 01.01.2024 nach einem Grad der Schädigung in Höhe von 30 ab Antragstellung (01.02.2014) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat im Rahmen der Sachermittlungen von Amts wegen weitere Befundberichte der Dr. G. vom 10.01.2024 und 10.06.2024 (einschließlich Krankenakte seit Februar 2011) sowie Krankenhausentlassungsberichte des Zentrums für Soziale Psychiatrie Rheinblick - Vitos GmbH von Juni 2009 sowie der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 27.11.2009 und vom 11.07.2015 beigezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten und dem Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.


Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht Wiesbaden hat die Klage mit Urteil vom 08.07.2022 zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 15.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Beschädigtenrente bzw. Entschädigungsleistungen gemäß §§ 13 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch - Soziale Entschädigung (SGB XIV) i.V.m. § 1 OEG Abs. 1 Satz 1 OEG in der zur Tatzeit (16.12.2013) gültigen Fassung des Gesetzes i.V.m. den Vorschriften des BVG.

Das OEG, das BVG sowie das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sind aufgrund von Artikel 58 Nr. 15, Nr. 2 und Nr. 12 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12.12.2019 (BGBl. I 2652, 2723) aufgehoben worden. Nach § 138 Abs. 1 S. 1 SGB XIV erhalten Personen, die in der Zeit vom 16.05.1976 bis 31.12.2023 geschädigt worden sind, Leistungen nach dem SGB XIV, wenn die Voraussetzungen nach dem OEG in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung erfüllt waren. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch sind daher nunmehr §§ 13 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 S. 1 SGB XIV i.V.m. § 1 OEG in der bis 31.12.2023 gültigen Fassung i.V.m. den Vorschriften des BVG. Maßgeblich bleiben damit die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in der bis 31.12.2023 gültigen Fassung.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG vollumfassend Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils. Sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden Aspekte unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung vollständig.

Ergänzend ist anzumerken:

Der Anspruch des Klägers scheitert vorliegend daran, dass sich der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis der - mit Bescheid vom 15.12.2014 anerkannten - Gewalttat und der geltend gemachten Verschlimmerung seines psychischen Leidens in Form einer Persönlichkeitsstörung mit Panikattacken und depressiven Episoden nicht herstellen lässt. 

Auch im Hinblick auf eine Verschlimmerung eines Vorschadens gilt: Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Gewalttat mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge bzw. ihrer Verschlimmerung beigetragen, ist der tätliche Angriff versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Gewalttat zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Schädigung in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen. Konkret bedarf es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R). Die Kausalitätsbeurteilung ist auf die besonderen Umstände des Einzelfalles sowie auf die Einzelpersönlichkeit abzustellen. Maßgebend ist auch die individuelle Belastung und Belastbarkeit (BSG, Urteil vom 29.10.1980, B 9 RV 23/80 - juris -).

Der Senat schließt sich in der Bewertung sowohl dem Gutachten des seitens des Beklagten beauftragten Sachverständigen Dr. L. vom 07.10.2016 als auch der erstinstanzlich eingeholten Gutachten des Sachverständigen S. vom 02.02.2021 an. Beide Gutachter kommen nach Auswertung insbesondere der bis Dezember 2013 vorliegenden Krankenunterlagen zu dem nachvollziehbaren Ergebnis, dass bei dem Kläger bereits ein (schädigungsunabhängiger) Vorschaden in Form einer psychischen Erkrankung einhergehend mit einer Panikstörung, Depressionen und sozialem Rückzug sowie Cannabis- und Benzodiazepinabhändigkeit vorgelegen hat und dieser schädigungsunabhängige Vorschaden ohne eine über den Zeitraum von sechs Monaten hinausgehende Verschlimmerung durch das schädigende Ereignis vom 16.12.2013 in das heute bestehende Schadensbild einmündet. Eine schädigungsbedingte Verschlimmerung der vorbestehenden psychischen Erkrankung ist nicht nachgewiesen. Eine PTBS verneinen beide Sachverständige; ein Kausalzusammenhang zwischen Tat und der bestehenden psychischen Erkrankung bzw. ihrer Verschlechterung ist nicht mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit bewiesen.

Nach Auffassung des Senats belegen die ergänzend eingeholten medizinischen Unterlagen, insbesondere die Eintragungen der behandelnden Psychiaterin Dr. G. und der ihn damals in der Psychiatrischen Ambulanz der Vitos Klinik behandelnden Psychotherapeutin Dipl.-Psych. R. in der Patientenakte von Februar 2011 bis zur Schädigung im Dezember 2013 (Bl. 809 bis 818 der Gerichtsakte) nachvollziehbar, dass der Kläger schon vor dem tätlichen Angriff unter einer „Generalisierten Angststörung“, einer „Panikstörung“ sowie einer „psychischen Verhaltensstörung durch Cannabinoide“ gelitten hat und sowohl stationär als auch ambulant medikamentös mit Psychopharmaka (u.a. Tavor®) und psychotherapeutisch durchgängig jedenfalls seit 2011 behandelt wurde. Der Kläger wurde schon vor dem schädigenden Ereignis als völlig überfordert und klagsam beschrieben, er habe Angst vor Formularen (im Zusammenhang mit einer Einberufung in der Türkei), Angst vor finanziellen Problemen (Heizkosten/Sozialamt), Angst vor Krankheit und Schmerzen (Hüft-OP/“Selbstentlassung“); er habe keine Lust zu leben, er wisse nicht mehr weiter und sei völlig verzweifelt. Probleme im häuslichen Bereich (Mutter) und mit einer Internetfreundin werden beschrieben. Aufgrund dieses psychiatrischen Krankheitsbildes wurde bereits 2011 ein betreutes Wohnen vorgeschlagen, beantragt und schließlich Anfang 2012 genehmigt; ein Rentenantrag wurde gestellt (2012). Im Juni 2013 benennt der Kläger ausdrücklich seine Ängste. In der Eintragung vom 17.06.2013 (Bl. 776 der Gerichtsakte/elektr.) heißt es: „Er beschrieb, dass die Ängste, teilweise auch bildhafte Erinnerungen an traumatische Erlebnisse seien. Die Schmerzen würden ihn an die Kindheit und die Schläge erinnern. Er habe dann auch die Befürchtung, dass die Schmerzen nie aufhören würden und er nichts dagegen tun könne. Auch andere Reize würden Flashbacks auslösen (Tv). Der Pat. berichtet von traumatischen Erlebnissen, ist danach aufgewühlt, gibt an wütend zu sein (wenig spürbar) und zittrig zu sein. Exploration von Skills, Fortsetzung nächste Sitzung. Perspektivisch Erarbeitung.“ Am 18.06.2013 vermerkt Dr. G. „Traumafolgestörungen“ (Bl. 775 der Gerichtsakte/elektr.). Am 12.12.2013 notiert die Dipl.-Psych. R. (Bl. 772 der Gerichtsakte/elektr.): „Körperliche Misshandlungen in der Kindheit durch Großmutter, schwerste körperliche Gewalterfahrungen, wurde geschlagen mit Stöcken, Kabeln, in kaltes Wasser in der Badewanne getaucht. Seine Oma habe ihn gehasst, das habe sie auch so gesagt. Keiner habe ihm damals geglaubt, außer seiner Mutter, aber die habe auch nichts ausrichten können.“

Die Auffassung der Psychotherapeutin Dipl.-Psych. R. im Befundbericht vom 21.09.2023 und in dem Attest vom 12.04.2024, ausschließlich eine durch den Überfall vom 16.12.2013 ausgelöste PTBS bedinge die aktuelle psychische Verfassung des Klägers, teilt der Senat nicht. Die Eintragungen in der Patientenakte bestätigen die Auffassung der Sachverständigen S., dass das bis heute bestehende Krankheitsbild jedenfalls überwiegend auf die schädigungsunabhängigen Vorschäden zurückzuführen ist. Soweit die Psychotherapeutin darauf abstellt, dass allein die Folgen des Überfalls eine für Januar 2014 geplante berufliche Orientierung in einer Reha-Werkstatt verhindert und die soziale und finanzielle Lebenssituation stark beeinflusst habe, ist dies nicht zutreffend. Der Kläger war seit 2001 arbeitslos und auf Sozialhilfe/ Grundsicherung angewiesen; soziale Probleme wurden in der Patientenakte der Vitos-Klinik seit 2011 durchgängig dokumentiert. 

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung der Hauptsache.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

Rechtskraft
Aus
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