L 4 KR 237/23

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 88 KR 1177/19 KH
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 4 KR 237/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 21. April 2023 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.657,77 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin einen Anspruch auf (weitere) Vergütung für eine vollstationäre Krankenhausbehandlung hat.

Der am I. geborene Versicherte der Beklagten, der Neugeborene J. (im Folgenden: Versicherter), befand sich unter den Diagnosen „reifes Neugeborenes der 41 + 4 Schwangerschaftswoche, rezidivierende Hypoglykämien der Mutter, Schnittverletzungen nach Sectio und Verdacht auf Neugeboreneninfektion“ im Zeitraum vom 9. Mai 2018 bis zum 13. Mai 2018 in der Klinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Neonatologie der Klägerin. Ausweislich des Berichtes der Klinik vom 16. Mai 2018 sei die Geburt per Sectio nach frustraner Einleitung bei vorzeitigem Blasensprung nach 23 Stunden erfolgt. Das Neugeborene sei zunächst bei seiner Mutter auf der Wöchnerinnenstation verblieben, am 2. Lebenstag sei die Verlegung auf die Neugeborenenintensivstation bei rezidivierenden Hypoglykämien von minimal 36 mg/dl sowie erhöhten Entzündungsparametern bei vorzeitigem Blasensprung und B-Streptokokken-Nachweis der Mutter erfolgt. Ausweislich des Berichts der Klinik erhielt der Versicherte eine Infusionstherapie mit Glukose-Teilelektrolytlösung. Im Verlauf sei es noch einmal zu einer Hypoglykämie von 44 mg/dl gekommen. Die weiteren Blutzuckerkontrollen seien unauffällig gewesen, sodass die Infusion langsam reduziert und am 13. Mai 2018 schließlich hätte beendet werden können. Die Überwachung der Vitalparameter sei stets unauffällig gewesen. Bei klinisch deutlicher Besserung und deutlich rückläufigen Infektionsparametern hätte die antibiotische Therapie am 13. Mai 2018 schließlich beendet werden können.

Mit Rechnung vom 3. August 2018 verlangte die Klägerin von der Beklagten unter Angabe der Fallpauschale DRG P67B (Neugeborenes, Aufnahme-Gewicht > 2499g ohne signifikante. OR-Prozedur, mit schweren Problemen, ohne Hypothermiebehandlung, ohne Krampfanfall mit bestimmten diagnostischen Maßnahmen, ohne Beatmung > 48 Stunden oder mit anderen Problemen, mehr als ein Belegtag oder mit nicht sig. OR-Prozedur, neugeb. Mehrling) einen Betrag in Höhe von insgesamt 4.147,23 Euro für die Behandlung des Versicherten. Die Beklagte beglich diesen Betrag zunächst und beauftragte in der Folgezeit den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK, seit dem 1. Juni 2021 MD) mit der Überprüfung des Falles nach § 275 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Dieser gelangte in seinem sozialmedizinischen Gutachten zu dem Ergebnis, dass als Hauptdiagnose die ICD-10 P39.9 (sonstige Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch sind: Infektion, die für die Perinatalperiode spezifisch ist, nicht näher bezeichnete) anstelle der von der angegebenen Hauptdiagnose ICD-10 P37.9 (sonstige angeborene infektiöse und parasitäre Krankheiten: angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet) einschlägig sei. Bei dem Neugeborenen sei postnatal eine antibiotische Neonatalinfektion diagnostiziert worden, ohne relevanten Keimnachweis oder Hinweise für eine parasitäre oder seltene spezifische Infektionserkrankung.

Die Beklagte nahm eine Verrechnung des streitigen Betrages in Höhe von 1.657,77 Euro mit unstreitigen Forderungen der Klägerin vor.

Die Klägerin hat am 10. Juli 2019 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Die kodierte Hauptdiagnose ICD-10 P37.9 sei konform den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) erfolgt. Gemäß DKR D002f werde als Hauptdiagnose die Diagnose definiert, die „nach Analyse“ als diejenige festgestellt werde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich sei. Der Begriff „nach Analyse“ bezeichne die Evaluation der Befunde am Ende des stationären Aufenthaltes, um diejenige Krankheit festzustellen, die hauptsächlich verantwortlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes gewesen sei. Die stationäre Aufnahme des Neugeborenen sei bei Verdacht auf Neugeboreneninfektion bei rezidivierenden Hypoglykämien nach diätisch gut eingestelltem Gestationsdiabetes der Mutter sowie vorzeitigem Blasensprung und B-Streptokokken-Besiedlung der Mutter erfolgt. Aufgrund der „Klinik“ sowie einer CrP-Erhöhung sei mit einer antibiotischen Therapie begonnen worden. Der Versicherte habe eine Infusionstherapie mit Glukose-Teilelektrolytlösung erhalten. Der MDK vertrete die Auffassung, dass für die unstreitig vorliegende Neugeboreneninfektion die ICD-10 P39.9 zu kodieren sei, da kein Nachweis eines relevanten Keimes gegeben sei. Im vorliegenden Fall seien die Behandler von einer bakteriellen Infektion ausgegangen und hätten im Weiteren antibiotisch behandelt. Der bakterielle Erreger selbst sei nicht isoliert worden, eine konkrete Lokalisation eines Infektionsherdes habe nicht stattgefunden. Die Kriterien einer Sepsis seien nicht erfüllt gewesen. Somit seien zur Kodierung der neonatalen Infektion Kodes aus P35.-, P36.-, P38.- und P39.- nicht anzuwenden. Der MDK fordere anstelle der von der Klägerin kodierten angeborenen bakteriellen Infektion P37.- die Kodierung mit einer unspezifischen Schlüsselnummer aus P39.-. P39.9 bezeichne Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch seien, nicht näher bezeichnet. P37.9 bezeichne angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheiten, nicht näher bezeichnet. Beide Kodes könnten damit grundsätzlich Infektionen beschreiben, die während der Perinatalperiode aufgetreten seien. Für die korrekte Kodierung einer Neugeboreneninfektion im Sinne der klägerseits kodierten P37.9 sei daher von hoher Relevanz, ob die Infektion angeboren sei oder nicht. Als „angeboren“ oder „konnatal“ würden alle Zustände definiert, die sich vor oder während der Geburt entwickelt hätten. „Angeboren“ seien alle Eigenschaften, die bereits vor der Geburt angelegt seien. Die sprachliche Definition sei eindeutig. Die verschiedenen Infektionsformen würden wie folgt definiert und abgegrenzt: eine angeborene Infektion entwickle sich innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt und bezeichne damit eine „Early-Onset-Infektion“. Bei einer so kurzen Frist sei von einer Keimübertragung vor oder während der Geburt auszugehen. Ein späterer Symptombeginn werde einer postnatalen, nosokomialen Infektion zugeschrieben. Im vorliegenden Fall handele es sich definitionsgemäß um eine angeborene Infektion. Die Symptomatik werde klar innerhalb der 72-Stunden-Grenze einer angeborenen Infektion manifest. Ein Keimnachweis habe nicht vorgelegen. Demnach sei diese antibiotisch behandelte bakterielle Frühinfektion mit dem Schlüssel P37.9 zu kodieren. Die Klägerin hat ein Sachverständigengutachten vorgelegt, welches in einem ähnlich gelagerten Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Fulda, Az. S 4 KR 152/20 eingeholt wurde. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf dieses Gutachten Bezug genommen.

Die Beklagte hat im erstinstanzlichen Verfahren die Auffassung vertreten, dass sich anhand der Patientendokumentation unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Evidenz eine Neugeboreneninfektion nicht hätte nachweisen lassen. Die Beklagte stützt sich dabei auf das Gutachten des MDK vom 17. Februar 2020. In diesem Gutachten gelangte die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass ein leicht erhöhter CrP-Wert die Diagnose einer Neugeboreneninfektion ohne Hinzutreten weiterer typischer Infektionssymptome nach wissenschaftlicher Evidenz nicht begründen könnte. Darüber hinaus hätte sowohl eine diabetische Embryofetopathie als auch eine Hypoglykämie gemäß anerkannter Blutzucker-Referenzwerte nicht festgestellt werden können. Die medizinische Indikation für eine kontinuierliche, mehr als 24 Stunden dauernde Glukoseinfusion sei nicht erkennbar, da es neben dem Nachweis einer Hypoglykämie an einem Nachweis zumindest des Versuchs der Etablierung eines intensivierten Nahrungsregimes (eine leitliniengemäße Behandlung in Form einer Frühfütterung oder eines intensivierten Nahrungsregimes von 10 bis 12 Mahlzeiten pro Tag an den ersten Lebenstagen sei bei dem Kind nicht dokumentiert) fehle. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das MDK-Gutachten vom 17. Februar 2020 Bezug genommen. Auf der Grundlage der Feststellungen des MDK sei die ICD-10 Z38.0 die richtigerweise abzurechnende Hauptdiagnose, sodass im Ergebnis für den vorliegenden Behandlungsfall die DRG P67E (neugeborener Einling, Aufnahmegewicht > 2499g ohne OR-Prozedur, ohne Beatmung > 95 Stunden, ohne schweres Problem, ohne anderes Problem oder ein Belegtag, ohne bestimmte Prozedur ohne bestimmte Diagnosen beim Neugeborenen) einschlägig sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gutachten des MD(K) vom 30. November 2020 und 7. Oktober 2021.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 21. April 2023 verurteilt, an die Klägerin 1.657,77 Euro nebst Zinsen und Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. März 2019 zu zahlen. Die zulässige Klage sei begründet. Die Klägerin habe Anspruch auf die weitere von ihr geltend gemachte Vergütung für die erbrachte stationäre Krankenhausbehandlung. Der Vergütungsanspruch sei nicht durch Aufrechnung mit einem Rückzahlungsanspruch der Beklagten erloschen. Der Behandlungsfall des Versicherten sei durch die Fallpauschale P67B abzurechnen. Dies ergebe sich daraus, dass als Hauptdiagnose die ICD-10 P37.9 (sonstige angeborene infektiöse und parasitäre Krankheit: angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet) zu kodieren sei. Es sei zwischen den Beteiligten unstreitig, dass tatsächlich Krankenhausbehandlung stattgefunden habe und diese medizinisch erforderlich gewesen sei. Gemäß der heranzuziehenden Kodierregelung DKR 002f sei die Hauptdiagnose definiert als die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt werde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich sei. Dabei sei derjenige Kode heranzuziehen, der das Geschehen spezifisch abbilde. Unter Berücksichtigung dieser Kodierrichtlinie sei die ICD-10 P37.9 zu kodieren. Die Kammer schließe sich der Auffassung an, dass im vorliegenden Fall entscheidend gewesen sei, so dass es sich um eine angeborene Infektion gehandelt habe. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, wie der Zeitraum „angeboren“ zu definieren sei. Auch der MDK gehe in seinem letzten Gutachten davon aus, dass eine Neugeboreneninfektion vorgelegen habe. Allerdings folge die Kammer nicht der Argumentation der Beklagten, dass hier das entscheidende Abgrenzungskriterium zur Auswahl des Kodes aus der Gruppe P37.- oder P39.- danach vorzunehmen sei, welcher Erreger vorgelegen habe. Zum einen ergibt sich aus dem Wortlaut von P37.9 nicht, dass ein seltener Erreger für die Infektion verantwortlich gewesen sein müsse. Zum anderen sei zwischen den Beteiligten unstreitig, dass gerade nicht festgestellt habe werden konnte, welcher Erreger für die Neugeboreneninfektion bei dem Versicherten verantwortlich gewesen sei. Der MDK schließe aus der Studienlage, dass die meisten Erreger, die innerhalb der ersten drei Lebenstage zu Infektionen geführt hätten, aus der mütterlichen Vaginalflora stammten, und dass hierbei am häufigsten die Gruppe der B-Streptokokken aufgefunden würden, und bei der Mutter des hier versorgten Neugeborenen eine solche B-Streptokokken-Besiedelung vorgelegen habe, dass es sich nicht um einen seltenen Erreger gehandelt habe. Da der Erreger gerade unbekannt sei, könne diese Annahme jedoch nicht sicher getroffen werden. Es bleibe Spekulation, ob es sich vorliegend um einen Erreger gehandelt habe, der für die Perinatalperiode spezifisch sei. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Differenzierung der Bezeichnung der Infektion danach erfolgen solle, aus welchem Erregerspektrum der verantwortliche Erreger stamme, wenn gerade nicht klar sei, welcher Erreger vorgelegen haben. Die Kammer schließe sich deshalb der Auffassung an, dass P37.9 heranzuziehen sei, weil es sich unstreitig um eine angeborene infektiöse Krankheit, nicht näher bezeichnet, gehandelt habe. Dabei sei der Zeitraum von „angeboren“ ein kürzerer und enger gefasster Zeitraum als die Perinatalperiode insgesamt, welche den Zeitraum zwischen der abgeschlossenen 22. Schwangerschaftswoche und dem 7. Tag nach der Geburt bezeichne. Bei einer angeborenen Infektion handelt es sich um solche, in die innerhalb der ersten 72 Stunden nach der Geburt aufgetreten seien.

Die Beklagte hat gegen das am 19. Mai 2023 zugestellte Urteil am 23. Mai 2023 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass das entscheidende Abgrenzungskriterium zur Auswahl des Kodes aus der Gruppe P37,- oder P39,- die Art des Erregers sei. Vorliegend sei die Aufnahme des Neugeborenen aufgrund einer Neugeboreneninfektion (vorzeitiger Blasensprung, B-Streptokokken-Besiedlung bei der Mutter, grünes Fruchtwasser, erhöhtes CrP beim Neugeborenen) erfolgt. Die Infektionsparameter seien am zweiten Lebenstag kurzzeitig erhöht gewesen, am 12. Mai 2018 (vierter Lebenstag) hätten die Werte bereits nahezu im Normbereich gelegen, wie häufig bei Infektionen, die für Neugeborenen spezifisch seien (P39.9). Dementsprechend sei auch eine empirische antibiotische Therapie mit Ampicillin und Cefotaxim eingeleitet worden, die ein zu erwartendes Keimspektrum in der Neonatologie abdecken sollte. Ein relevanter Erreger hätte bei dem Neugeborenen in der mikrobiologischen Diagnostik nicht isoliert werden können und anders als von der Klägerin argumentiert, habe hier kein septischer Krankheitsverlauf vorgelegen. Die von der Klägerin aufgeführte Aufteilung der Zuordnung einer Neugeboreneninfektion hinsichtlich des Zeitpunktes der Manifestation finde sich weder in den DKR 2018 noch im ICD-10 2018 wieder. Aus der Systematik des ICD-10-Systems gehe eindeutig hervor, dass eine Einteilung der Neugeboreneninfektionen gemäß dem Erregerspektrum und nicht anhand des Zeitpunktes des Auftretens durchzuführen sei. Anders als von der Klägerin argumentiert, sei die P39.9 nicht nur zu kodieren, wenn die Infektion später als 72 Stunden nach der Geburt aufgetreten sei; diese Formulierung/Einteilung finde sich nicht im ICD-10 2018. Erkrankungen mit in der ICD-Gruppe P37.- aufgeführten sehr seltenen bakteriellen und parasitären Erregern wie Malaria, Tuberkulose u.ä., seien in deutschen Kliniken Einzelfälle. Dieser Kode solle nur bei tatsächlichem Nachweis eines der seltenen infektiösen oder parasitären Erregern dieser Gruppe mit Einleitung einer passenden spezifischen Therapie verwendet werden. Zusammenfassend werde deshalb die Auffassung vertreten, dass es sich um eine für die Perinatalperiode typische und häufig auftretende Infektion handele. Diese sei bei fehlenden Keimnachweis zutreffend und spezifisch durch die Kodierung mit der ICD-10 P39.9 abgedeckt. Zur Abrechnung käme daher die DRG P67C mit einem effektiven Relativgewicht von 0,680.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 21. April 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin legt erneut dar, dass zur Kodierung einer Infektion beim Neugeborenen grundsätzlich Kodes aus dem Kapitel „Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch seien (P35 bis P39), zur Verfügung stünden. Dabei gliederte sich das Kapitel in drei Bereiche, die nach der Ursache der Infektion differenzierten. In P35.- würden sich angeborene Viruserkrankungen finden, in P36.- werde die neonatale Sepsis (angeboren oder nosokomial) nach auslösendem bakteriellen Erreger differenziert. Die P37.- subsumiere nicht virale, angeborene und parasitären Infektionskrankheiten ebenfalls nach Erregertypen. Die P38,- beinhalte spezifisch die Omphalitis. Die P39.- beinhalte diverse, sehr verschiedene Infektionskrankheiten des Neugeborenen unter dem Oberbegriff: „Sonstige“, die hier nicht nach dem Erreger, sondern nach der Lokalisation der Infektion, z.B. Harnwege, Augen etc. aufgelistet seien. Im vorliegenden Behandlungsfall seien die Behandler von einer bakteriellen Infektion ausgegangen und hätten im Weiteren antibiotisch behandelt. Der bakterielle Erreger selbst hätte nicht isoliert werden können, eine konkrete Lokalisation eines Infektionsherdes habe nicht stattgefunden. Die Kriterien einer Sepsis seien nicht erfüllt. Die Argumentation der Beklagten, dass ein seltener Keimnachweis für die Kodierung ICD-10 P37.9 vorliegen müsse, verfange nicht. Zu Recht verweise das erstinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung darauf, dass es sich entgegen der Ansicht der Beklagten gerade nicht aus dem Wortlaut des Kodes P37.9 ergebe, dass ein seltener Erreger für die Infektion verantwortlich gewesen sein müsse und es nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Differenzierung der Bezeichnung der Infektion danach erfolgen solle, aus welchem Erregerspektrum der verantwortliche Erreger stamme, wenn gerade nicht klar sei, welcher Erreger vorgelegen habe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht Hannover hat zu Recht mit Urteil vom 21. April 2023 der Klage stattgegeben. Dem Krankenhaus steht ein weiterer Vergütungsanspruch in Höhe von 1.657,77 Euro für die Behandlung Versicherter der Beklagten zu. Der Vergütungsanspruch ist nicht durch Aufrechnung mit einer Gegenforderung erloschen. Der erkennende Senat nimmt gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Gerichts.

Ergänzend ist unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten in der Berufungsinstanz folgendes anzumerken:

Die Klägerin hat zutreffend mit Rechnung vom 3. August 2018 unter Angabe der Hauptdiagnose ICD-10 P37.9 die DRG P67B zur Abrechnung gebracht.

Welche DRG-Position abzurechnen ist, ergibt sich rechtsverbindlich aus der Eingabe und Verarbeitung von Daten in einem automatischen Datenverarbeitungssystem, das auf einem zertifizierten Programm (Grouper) basiert (vgl. § 1 Abs. 6 Satz 1 FPV 2018; vgl. stRspr zum rechtlichen Rahmen der Klassifikationssysteme und des Groupierungsvorgangs: BSG, Urteil vom 19. Juni 2018, B 1 KR 39/17 R, SozR 4-5562 § 9 Nr. 10 Rdnr. 13 und 17 m.w.N.). Dieser Grouper greift auf Daten zurück, die entweder als integrale Bestandteile des Programms mit vereinbart sind oder an anderer Stelle vereinbarte Regelungen wiedergeben. Zu Letzteren gehören die Fallpauschalen selbst, die von den Vertragspartnern auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den DKR (hier Version 2018) für das G-DRG-System‎ gemäß § 17b KHG, aber auch die Klassifikation des vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) – bzw. inzwischen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) - im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen OPS und ICD-10-GM.

Wesentlich für die Beurteilung im vorliegenden Behandlungsfall ist, dass Abrechnungsbestimmungen wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und allenfalls unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen sind; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 2023, B 1 KR 25/22 R, a.a.O., m.w.N.). Zu den Abrechnungsbestimmungen gehören insbesondere auch die DKR. Dabei kommt auch den in den DKR enthaltenen Erläuterungen zu den einzelnen Kodierrichtlinien normative Wirkung zu, soweit sie ergänzende Regelungen enthalten.

Wie bereits das erstinstanzliche Gericht ausgeführt hat, wird die Hauptdiagnose nach der DKR D002f 2018 definiert als die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthalts des Patienten verantwortlich ist. Zentraler Begriff ist für die DKR D002f die "Veranlassung" des stationären Krankenhausaufenthalts. Sie meint die ursächliche Auslösung des stationären Behandlungsgeschehens.

Der am I. geborene Versicherte wurde am zweiten Lebenstag bei rezidivierenden Hypoglykämien von minimal 36 mg/dl sowie erhöhten Entzündungsparametern bei vorzeitigem Blasensprung und B-Streptokokken-Nachweis der Mutter auf die Neugeborenenintensivstation verlegt. Unter anderem aufgrund der CrP-Erholung wurde eine antibiotische Therapie mittels Ampicillin und Cefotaxim begonnen. Dem neugeborenen Versicherten wurde eine Infusionstherapie mit Glukose-Teilelektrolytlösung verabreicht. Im Verlauf kam es noch einmal zu einer Hypoglykämie von 44 mg/dl. Den ärztlichen Berichten lässt sich entnehmen, dass weitere Blutzuckerkontrollen unauffällig blieben. Die antibiotische Therapie konnte am 13. Mai 2018 bei deutlich rückläufigen Infektionsparametern beendet werden.

Das Behandlungsgeschehen bei Infektionen von Neugeborenen wird im ICD-10 (2018) im Kapitel P35 bis P39 “Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch sind“, inklusive Infektionen, die in utero oder unter der Geburt erworben wurden, abgebildet.

P35.-

Angeborene Viruskrankheiten

P35.0

Rötelnembryopathie

 

Inkl.:

Kongenitale Röteln-Pneumonie

P35.1

Angeborene Zytomegalie

P35.2

Angeborene Infektion durch Herpesviren [Herpes simplex]

P35.3

Angeborene Virushepatitis

P35.4

Angeborene Zika-Viruskrankheit

 

Inkl.:

Mikrozephalie durch kongenitale Zika-Viruskrankheit

P35.8

Sonstige angeborene Viruskrankheiten

 

Inkl.:

Angeborene Varizellen [Windpocken]

P35.9

Angeborene Viruskrankheit, nicht näher bezeichnet

 

P36.-

Angeborene Sepsis beim Neugeborenen

Inkl.: Angeborene Sepsis

P36.0

Sepsis beim Neugeborenen durch Streptokokken, Gruppe B

P36.1

Sepsis beim Neugeborenen durch sonstige und nicht näher bezeichnete Streptokokken

P36.2

Sepsis beim Neugeborenen durch Staphylococcus aureus

P36.3

Sepsis beim Neugeborenen durch sonstige und nicht näher bezeichnete Staphylokokken

P36.4

Sepsis beim Neugeborenen durch Escherichia coli

P36.5

Sepsis beim Neugeborenen durch Anaerobier

P36.8

Sonstige bakterielle Sepsis beim Neugeborenen

P36.9

Bakterielle Sepsis beim Neugeborenen, nicht näher bezeichnet

 

P37.-

Sonstige angeborene infektiöse und parasitäre Krankheiten

 

Exkl.:

Diarrhoe beim Neugeborenen: infektiös (A09.0)
Diarrhoe beim Neugeborenen: nichtinfektiös (
P78.3)
Diarrhoe beim Neugeborenen: o.n.A. (
A09.9)
Enterocolitis necroticans beim Fetus und Neugeborenen (
P77)
Keuchhusten (
A37.-)
Ophthalmia neonatorum durch Gonokokken (
A54.3)
Syphilis connata (
A50.-)
Tetanus neonatorum (
A33)

P37.0

Angeborene Tuberkulose

P37.1

Angeborene Toxoplasmose

 

Inkl.:

Hydrozephalus durch angeborene Toxoplasmose

P37.2

Neugeborenenlisteriose (disseminiert)

P37.3

Angeborene Malaria tropica

P37.4

Sonstige angeborene Malaria

P37.5

Kandidose beim Neugeborenen

P37.8

Sonstige näher bezeichnete angeborene infektiöse und parasitäre Krankheiten

P37.9

Angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet

P38         Omphalitis beim Neugeborenen mit oder ohne leichte Blutung

 

39.-

Sonstige Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch sind

P39.0

Infektiöse Mastitis beim Neugeborenen

 

Exkl.:

Brustdrüsenschwellung beim Neugeborenen (P83.4)
Nichtinfektiöse Mastitis beim Neugeborenen (
P83.4)

P39.1

Konjunktivitis und Dakryozystitis beim Neugeborenen

 

Inkl.:

Konjunktivitis durch Chlamydien beim Neugeborenen
Ophthalmia neonatorum o.n.A.

 

Exkl.:

Konjunktivitis durch Gonokokken (A54.3)

P39.2

Intraamniale Infektion des Fetus, anderenorts nicht klassifiziert

P39.3

Harnwegsinfektion beim Neugeborenen

P39.4

Hautinfektion beim Neugeborenen

 

Inkl.:

Pyodermie beim Neugeborenen

 

Exkl.:

Staphylococcal scalded skin syndrome [SSS-Syndrom] (L00.-)
Pemphigus neonatorum (
L00.-)

P39.8

Sonstige näher bezeichnete Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch sind

P39.9

Infektion, die für die Perinatalperiode spezifisch ist, nicht näher bezeichnet

 

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die bei dem Versicherten während des stationären Krankenhausaufenthaltes therapierte Infektion unter die ICD-Gruppe P37.-, speziell P37.9 „Angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet“ oder unter die ICD-Gruppe P39.-, speziell P39.9 „Infektion, die für die Perinatalperiode spezifisch ist, nicht näher bezeichnet“ zu fassen ist.

Der erkennende Senat folgt dem erstinstanzlichen Gericht dahingehend, dass der Wortlaut der genannten Kodes eine eindeutige Abgrenzung zulässt, indem man die Begriffe „angeboren“ in P37,- und „Perinatalperiode“ in P39,- zueinander in Bezug setzt. „Angeboren“ oder “early onset” liegt bei einer Infektion vor, wenn sie sich innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt offenbart. Bei einer so kurzen Frist ist von einer Keimübertragung vor oder während der Geburt auszugehen (vgl. Fachliche Äußerung des Robert-Koch-Institut zum Epidemiologisches Bulletin 42/2013, Seite 13; vgl. dazu LSG Hamburg, Urteil vom 23. September 2021, L 1 KR 56/21, zitiert nach juris). Die Perinatalperiode hingegen beginnt mit Vollendung der 22. Schwangerschaftswoche (154 Tage; die Zeit, in der das Geburtsgewicht normalerweise 500g beträgt) und endet mit der Vollendung des 7. Tages nach der Geburt. Dies bedeutet, dass der Begriff der Perinatalperiode insofern weitergehend ist als der des Angeborenensein, als er auch die Zeit bis zum 8. Tag nach der Geburt umfasst. Das bedeutet, dass die Erkrankungen, die in den ersten 72 Stunden nach der Geburt festgestellt werden und auch ansonsten unter einen der Kodes in P37.- subsumiert werden können, dorthin gehören. Erkrankungen aus dem zeitlichen Bereich danach bis zum 8. Tag nach der Geburt müssen hingegen P39.- zugeordnet werden. So erhält man ein einfach und rechtssicher anwendbares System, das mit dem Wortlaut im Einklang steht. Diese Sichtweise entspricht im Übrigen auch einer Empfehlung von „medcontroller“ (https://www.medcontroller.de/2014/08/27/was-ist-eine-angeborene-infektion/):

Wenn eine Infektion vorliegt, die sich innerhalb von 72 Stunden nach der Entbindung durch erhöhte Infektionsparameter im Blut, durch Fieber, Keimnachweis oder anderen Symptome offenbart hat, dann handelt es sich definitionsgemäß um eine angeborene Infektion. Diese wird verschlüsselt durch P37.- Sonstige angeborene infektiöse und parasitäre Krankheiten. Wenn ein genauer Infektionsherd nicht festgestellt wird (was häufig der Fall ist), wird P37.9 Angeborene infektiöse oder parasitäre Krankheit, nicht näher bezeichnet kodiert.

Zeigen sich Zeichen einer Infektion später als 72 Stunden, aber vor dem 8. Tag nach der Geburt, dann handelt es sich um eine perinatale Infektion, die nicht angeboren ist. Kodiert wird dann P39.- Sonstige Infektionen, die für die Perinatalperiode spezifisch sind.

Noch später auftretende Infektionen werden nicht mit einem Kode aus dem Kapitel XVI ICD-10 (“P-Kodes”) verschlüsselt.

Vorliegend hat das am I. geborene Kind bereits am 2. Lebenstag und damit innerhalb des 72-Stunden-Zeitraums Anzeichen einer Infektion gezeigt. Damit lag für das klägerische Krankenhaus die Berechtigung zur Kodierung aus dem Kodegruppe P37.- vor. Aufgrund des fehlenden Erregernachweises kam nur eine Kodierung mit der ICD-10 P37.9 in Betracht.

Die Berufung der Beklagten hat insgesamt keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.

Gründe, die eine Zulassung der Revision rechtfertigen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.  

 

Rechtskraft
Aus
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