Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Juni 2023 aufgehoben, soweit dieses den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 30. Juni 2021 vollständig aufgehoben, den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. Februar 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Mai 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 8. August 2018 geändert und die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis 30. Juni 2018 höheren Kinderzuschlag zu gewähren. Insoweit wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.
G r ü n d e :
I
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Die Beteiligten streiten über die Folgen mit einfacher E-Mail eingelegter, von der beklagten Familienkasse sachlich beschiedener Widersprüche und über (höheren) Kinderzuschlag für Januar bis Juni 2018.
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Der 1962 geborene Kläger und seine 1974 geborene Ehefrau haben fünf zwischen 2000 und 2008 geborene Kinder. Der Kläger bezog neben dem Kindergeld eine Rente wegen voller Erwerbsminderung und eine Betriebsrente. Die Familie bewohnte zusammen mit der Mutter des Klägers ein im Eigentum der Eheleute stehendes Wohnhaus. Die Beklagte bewilligte Kinderzuschlag für Januar bis April 2018 (Bescheid vom 19.1.2018). Der Berechnung legte sie für den Kläger keinen Regelbedarf zugrunde. Der Kläger bat mit E-Mail vom 30.1.2018 "um Klärung". Diese E-Mail legte die Beklagte als Widerspruch aus und bestätigte dem Kläger dessen Eingang. Sie hob sodann die Bewilligung für Februar und April 2018 vollständig und für März 2018 teilweise mit der Begründung auf, die Unterkunftsbedarfe seien niedriger als ursprünglich angenommen (Bescheid vom 6.2.2018). Den Widerspruch des Klägers wies sie mit der Begründung zurück, unter Berücksichtigung des Einkommens der Mutter des Klägers ergebe sich schon kein Anspruch auf Kinderzuschlag (Widerspruchsbescheid vom 28.2.2018). Aufgrund der Auszahlung eines Nebenkostenguthabens hob die Beklagte die Bewilligung für März 2018 vollständig auf (Bescheid vom 9.3.2018). Von einer Erstattung der Leistungen für den Zeitraum Februar bis April 2018 sah sie ab.
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Der Kläger hat am 3.4.2018 Klage erhoben. Einen im Mai 2018 gestellten Weiterbewilligungsantrag hat die Beklagte für Mai bis Juni 2018 mit der Begründung abgelehnt, der Gesamtbedarf sei gedeckt (Bescheid vom 29.5.2018). Den wiederum mit E-Mail erhobenen Widerspruch hat die Beklagte mit der Begründung zurückgewiesen, unter Berücksichtigung des Einkommens der Mutter des Klägers bestehe kein Anspruch auf Kinderzuschlag (Widerspruchsbescheid vom 8.8.2018). Das SG hat die auf die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Kinderzuschlag in gesetzlicher Höhe unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide gerichteten Klagen verbunden und abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30.6.2021). Das LSG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kinderzuschlag für Januar bis Juni 2018 ohne die Berücksichtigung von Einkommen der Mutter des Klägers zu gewähren, weil keine Haushaltsgemeinschaft iS des § 9 Abs 5 SGB II vorliege (Urteil vom 8.6.2023).
4
Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 84 SGG und des § 6a BKGG. Sie habe im Verwaltungsverfahren aufgrund der abweichenden steuerrechtlichen Rechtslage übersehen, dass ein Widerspruch nicht formwirksam durch E-Mail eingelegt werden könne. Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach die Sachbescheidung die Verfristung eines Widerspruchs heilen könne, sei nicht auf die Formunwirksamkeit zu übertragen. Im Übrigen liege in der Sache eine Haushaltsgemeinschaft mit der Mutter des Klägers vor, weshalb sie deren Einkommen zu Recht berücksichtigt habe.
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Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Juni 2023 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 30. Juni 2021 zurückzuweisen.
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Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
7
A. Die Revision der Beklagten ist nur teilweise begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Sie ist begründet, soweit das LSG die Bewilligungsbescheide vom 19.1.2018 und vom 29.5.2018 abgeändert hat. Diese Bescheide waren bereits bindend und der gerichtlichen Entscheidung ohne eigene Prüfung zugrunde zu legen, weil der Kläger hiergegen nicht formgerecht Widerspruch eingelegt hat (hierzu 2. und 3.). Die Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), soweit das LSG die Änderungsbescheide vom 6.2.2018 und 9.3.2018 aufgehoben hat. Diese Bescheide waren unabhängig von der Unzulässigkeit des Widerspruchs kraft Gesetzes Gegenstand des Vorverfahrens und des sich anschließenden Klageverfahrens (hierzu 1.) und eröffneten auf diese Weise - unter Berücksichtigung der Bindungswirkung des Bescheids vom 19.1.2018 - eine Prüfung in der Sache. Zu Unrecht hat die Beklagte mit dem Argument des Bestehens einer Haushaltsgemeinschaft (§ 9 Abs 5 SGB II) das Einkommen der Mutter des Klägers bei der Berechnung des Kinderzuschlags berücksichtigt (hierzu 4.).
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1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen bezüglich höherer Leistungen für Januar bis April 2018 die Bescheide vom 19.1.2018 und 6.2.2018 (hierzu a) in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.2.2018 (§ 95 SGG) sowie der Bescheid vom 9.3.2018 (hierzu b), bezüglich höherer Leistungen für Mai und Juni 2018 der Bescheid vom 29.5.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.8.2018 (§ 95 SGG).
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a) Der Bescheid vom 6.2.2018 ist nach § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens gegen den Bescheid vom 19.1.2018 geworden, weil die Aufhebungsentscheidung die Bewilligungsverfügung im Bescheid vom 19.1.2018 abgeändert hat, indem die bewilligten Leistungen für Februar bis April 2018 herabgesetzt wurden. Eine Erstattung von Leistungen verlangt die Beklagte nicht. Ob der Widerspruch gegen den Ausgangsbescheid formgerecht erhoben worden ist, ist für die Anwendung des § 86 SGG unbeachtlich. Die Vorschrift setzt nur voraus, dass während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert wird und knüpft hieran die Rechtsfolge, dass der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens wird. Die Zulässigkeit des Widerspruchs ist nicht Voraussetzung (so ua Binder in Berchtold, SGG, 6. Aufl 2021, § 86 RdNr 5; Harks in Hennig, SGG, § 86 RdNr 6, Stand Mai 2021; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 86 RdNr 4 mwN; Senger in jurisPKSGG, 2. Aufl 2022, § 86 RdNr 36; vgl auch BSG vom 25.4.2018 B 8 SO 23/16 R SozR 41500 § 91 Nr 1 RdNr 21 zu § 96 SGG; aA Bindig in Zeihe, SGG, § 86 RdNr 4b, Stand Januar 2020; Hintz in BeckOK SozR, § 86 SGG RdNr 3, Stand März 2025). Auch ein nicht formgerecht erhobener Widerspruch leitet ein Vorverfahren ein. Die Voraussetzungen für eine einschränkende Auslegung des Wortlauts des § 86 SGG in dem Sinne, seine Rechtsfolge zu beschränken auf zulässige oder jedenfalls formgerecht erhobene Widersprüche, liegen nicht vor (vgl zur teleologischen Reduktion nur BSG vom 26.9.2019 B 5 RS 1/19 R SozR 48570 § 6 Nr 10 RdNr 20 mwN). Insbesondere lässt sich den entstehungsgeschichtlichen Materialien nicht entnehmen, dass der weite Wortlaut der Norm nicht von einem entsprechenden Willen des Gesetzgebers getragen wäre und die Einbeziehung nach §§ 86, 96 SGG voraussetzt, dass sowohl über den Ausgangs- als auch über den abändernden Bescheid eine Entscheidung in der Sache getroffen werden kann (vgl im Gegenteil zum Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit BTDrucks 1/4357 S 27 zu § 43 Abs 3). Allerdings ist bei der Sachentscheidung über den Änderungsbescheid die Bestandskraft des Ausgangsbescheids zu berücksichtigen.
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b) Gegenstand des Klageverfahrens ist ebenfalls der nach Erlass des Widerspruchsbescheids und vor Klageerhebung ergangene Bescheid vom 9.3.2018 (§ 96 Abs 1 SGG; vgl zur Erstreckung von § 96 SGG auf den Zeitraum zwischen Erlass des Widerspruchsbescheids und Klageerhebung BTDrucks 16/7716 S 19; BSG vom 25.4.2018 B 8 SO 23/16 R SozR 41500 § 91 Nr 1 RdNr 21).
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2. Die Revision der Beklagten hat in der Sache Erfolg, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Gewährung höherer Leistungen für Januar bis April 2018 unter Abänderung des Bescheids vom 19.1.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.2.2018 richtet. Der Entscheidung steht die Bestandskraft (§ 77 SGG) der mit Bescheid vom 19.1.2018 verfügten Ablehnung höherer Leistungen entgegen. Diese Verfügung (§ 31 Satz 1 SGB X) ist der gerichtlichen Entscheidung ohne eigene Prüfung zugrunde zu legen. Der Kläger hat keinen formgerechten Widerspruch erhoben (hierzu a). Dieser Formmangel ist weder wegen der Sachbescheidung der Beklagten (hierzu b) noch aus anderen Gründen (hierzu c) unbeachtlich.
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a) Die E-Mail vom 30.1.2018 entspricht nicht den Anforderungen des § 84 Abs 1 Satz 1 SGG (in der Fassung vom 5.7.2017, BGBl I 2208). Danach ist ein Widerspruch schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs 2 SGB I oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat.
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Die elektronische Form nach § 84 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 36a Abs 2 SGB I (in der Fassung vom 18.7.2017, BGBl I 2745) wird nicht durch einfache E-Mail erfüllt (allgemeine Ansicht, so zB BSG vom 10.8.2022 B 5 R 21/22 BH juris RdNr 7; vgl auch BSG vom 27.9.2023 B 7 AS 10/22 R BSGE 137, 46 = SozR 41500 § 84 Nr 2, RdNr 28; Gall in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 84 RdNr 15, 18 ff; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 84 RdNr 3; vgl zu § 65a SGG nur BSG vom 6.7.2016 B 9 SB 1/16 R juris RdNr 6; BSG vom 30.1.2017 B 1 KR 14/16 S juris RdNr 5; BSG vom 9.5.2017 B 13 R 113/17 B juris RdNr 2; BSG vom 9.3.2023 B 4 AS 104/22 BH SozR 41500 § 66 Nr 6 RdNr 8). Dies ergibt sich unmittelbar aus § 36a Abs 2 SGB I, der bestimmte Anforderungen an die rechtsverbindliche elektronische Kommunikation zwischen Bürger und Verwaltung stellt. Dort, wo der Grundsatz der Nichtförmlichkeit (§ 9 SGB X) durch Schriftformerfordernisse eingeschränkt wird ("Schriftförmlichkeit"), ist gerade nicht jede Form elektronischer Kommunikation zugelassen. Gesetzlicher Regelfall ist vielmehr die Nutzung einer qualifizierten elektronischen Signatur (§ 36a Abs 2 Satz 2 SGB I). Zulässig ist daneben die Einreichung auf einem besonderen Übermittlungsweg, bei dem insbesondere die Identität des Absenders auf andere Weise sichergestellt ist (§ 36a Abs 2 Satz 4 SGB I). Nur in diesen Fällen erfüllt die elektronische Form die Funktionen, die auch der Schriftform zukommen (hierzu sowie zum Folgenden ausführlich BTDrucks 14/9000 S 34 zu Art 2 Nr 2 und S 31 zu Art 1 Nr 4). Insbesondere ermöglicht sie es, den Erklärenden zu erkennen und gewährleistet die inhaltliche Zuordnung der Erklärung zum Erklärenden (Identitätsfunktion und Echtheitsfunktion). Daneben ist sie zum Nachweis der Erklärung geeignet (Beweisfunktion) und wird der Erklärende auf die rechtliche Verbindlichkeit der Erklärung hingewiesen und vor Übereilung geschützt (Warnfunktion). Diese Funktionen kann eine (einfache) E-Mail nicht sicherstellen.
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b) Der Formmangel ist nicht deshalb unbeachtlich, weil die Beklagte über den Widerspruch insgesamt in der Sache entschieden hat, anstatt ihn im Hinblick auf den Bescheid vom 19.1.2018 als unzulässig zu verwerfen. Die Sachentscheidung der Widerspruchsbehörde bindet die Gerichte nicht (vgl BVerwG vom 2.7.2020 2 WRB 1.20 BVerwGE 169, 112, juris RdNr 21 zur unzulässigen Einlegung einer Wehrbeschwerde per E-Mail; vgl auch bereits BSG vom 13.12.1962 8 RV 290/61 juris RdNr 18). Die Behörde kann nicht bewusst oder unbewusst über gesetzliche Formerfordernisse mit der Folge frei verfügen, dass die mangels formgerechten Widerspruchs eingetretene Bindungswirkung des Verwaltungsakts (§ 77 SGG) wieder entfällt. Vielmehr ist die formgerechte Erhebung eines Widerspruchs auch noch im Revisionsverfahren voll zu überprüfen (vgl zu § 70 Abs 1 VwGO bereits BVerwG vom 20.4.1977 VI C 26.75 Buchholz 448.0 § 33 WPflG Nr 22 S 13; BVerwG vom 9.6.1982 6 C 119.81 Buchholz 448.0 § 33 WPflG Nr 28, juris RdNr 13; BVerwG vom 20.6.1988 6 C 24.87 ZfSH/SGB 1988, 644, juris RdNr 10; vgl auch BVerwG vom 2.7.2020 2 WRB 1.20 BVerwGE 169, 112, juris RdNr 21; gegen eine Dispositionsbefugnis der Behörde, über einen nicht formgerechten Widerspruch in der Sache zu entscheiden ua J. Becker in BeckOGK, § 84 SGG RdNr 31, Stand Mai 2025; Hintz in BeckOK SozR, § 84 SGG RdNr 8, Stand März 2025; Jüttner in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 84 RdNr 16; zu § 70 VwGO zB Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl 2021, § 70 RdNr 22 mwN; aA ua Gall in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 84 RdNr 47; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 84 RdNr 7; ausführlich zum Streitstand zuletzt Roller, SGb 2023, 100, 102 ff).
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Die in der Rechtsprechung entwickelte Ausnahme, dass die Versäumung der Widerspruchsfrist der Zulässigkeit der Klage nicht entgegensteht und der angefochtene Bescheid nicht als bindend anzusehen ist, wenn die Widerspruchsbehörde über einen verspätet eingelegten Widerspruch in der Sache entscheidet (stRspr; grundlegend BSG vom 12.10.1979 12 RK 19/78 BSGE 49, 85 = SozR 2200 § 1422 Nr 1, juris RdNr 15 ff unter Anschluss ua an BVerwG vom 16.1.1964 VIII C 72.62 Buchholz 310 § 79 VwGO Nr 2; ferner BSG vom 14.4.2011 B 8 SO 12/09 R BSGE 108, 123 = SozR 43500 § 82 Nr 7, RdNr 17; aA etwa J. Becker in BeckOGK, § 84 SGG RdNr 29 mwN, Stand Mai 2025; Burkiczak, SGb 2016, 189, 193 f mwN; Porsch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 70 VwGO RdNr 40 mwN, Stand März 2023), soweit der Verwaltungsakt nicht zugleich einen Dritten begünstigt (vgl nur BVerwG vom 4.8.1982 4 C 42.79 Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr 49, juris RdNr 12 ff), ist auf den Fall der Nichteinhaltung der Formvorschrift nicht übertragbar. Hiergegen sprechen die Funktionen, die der Gesetzgeber der "Schriftförmlichkeit" oder einer gleichgestellten elektronischen Form beimisst, wie insbesondere die Identitäts- und die Echtheitsfunktion sowie die Warnfunktion bei der Abgabe rechtlich verbindlicher Erklärungen. Vergleichbare Funktionen kommen der Widerspruchsfrist nicht zu, weshalb die ständige Rechtsprechung es der Widerspruchsbehörde überlässt, trotz Verspätung des Widerspruchs in der Sache selbst über ihn zu entscheiden (vgl zur fehlenden Übertragbarkeit bereits BVerwG vom 20.6.1988 6 C 24.87 ZfSH/SGB 1988, 644, juris RdNr 10).
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c) Die Formwidrigkeit ist auch nicht aus anderen Gründen unbeachtlich. Insbesondere hat der Kläger nicht zu einem anderen Zeitpunkt einen formgerechten Widerspruch erhoben (hierzu aa) und es ergibt sich auch kein anderes Ergebnis nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs oder von Treu und Glauben (hierzu bb). Unerheblich ist zudem, ob nicht formgerecht elektronisch eingereichte Dokumente durch ihren Ausdruck - bei Hinzutreten weiterer Umstände - die Anforderungen erfüllen können, die an schriftliche Dokumente zu stellen sind (dies verneinend BSG vom 12.10.2016 B 4 AS 1/16 R BSGE 122, 71 = SozR 41500 § 65a Nr 3, RdNr 15 ff), weil es bereits an Anhaltspunkten dafür fehlt, dass ein solcher Ausdruck hier erfolgt sein könnte.
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aa) In der am 3.4.2018 beim SG eingegangenen Klageschrift liegt nicht zugleich ein formgerechter Widerspruch. Eine Klageerhebung kann in diesem Sinne ausgelegt werden, wenn die Nachholung eines bislang fehlenden Vorverfahrens während des Prozesses in Betracht kommt (vgl BSG vom 18.2.1964 11/1 RA 90/61 BSGE 20, 199 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG, juris RdNr 21; BSG vom 12.7.1989 7 RAr 46/88 SozR 7815 Art 1 § 7 Nr 1, juris RdNr 30; BSG vom 18.3.1999 B 12 KR 8/98 R SozR 31500 § 78 Nr 3, juris RdNr 19; zuletzt etwa BSG vom 1.11.2023 B 6 KA 3/23 BH juris RdNr 12; vgl auch B. Schmidt in MeyerLadewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 78 RdNr 3b). Für eine solche Auslegung besteht im vorliegenden Fall kein Raum, weil bereits ein Vorverfahren durchgeführt wurde, das mit einer Sachentscheidung endete. Vor diesem Hintergrund bestand - unabhängig von der Frage, ob vorliegend aufgrund einer unrichtig erteilten Rechtsbehelfsbelehrung die Jahresfrist galt (§ 84 Abs 2 Satz 3 iVm § 66 Abs 2 Satz 1 SGG) - für den Kläger kein Anlass, mit seiner Klage zugleich (nochmals) Widerspruch erheben zu wollen.
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bb) Die Formwidrigkeit des Widerspruchs ist nicht nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs unbeachtlich, weil selbst bei einer Verletzung von Auskunfts- und Beratungspflichten nicht durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden könnte, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (vgl zu dieser Voraussetzung nur BSG vom 30.9.2009 B 9 VG 3/08 R BSGE 104, 245 = SozR 43100 § 60 Nr 6, RdNr 41 mwN). Zuletzt ist die Beklagte auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (Rechtsgedanke des § 242 BGB) gehindert, sich auf die Nichteinhaltung der Form "zu berufen". Dies gilt unabhängig von der Frage, ob für eine entsprechende Anwendung dieser Generalklausel vorliegend überhaupt ein Anwendungsbereich verbleibt (vgl zuletzt BSG vom 11.9.2024 B 4 AS 6/23 R SozR 41300 § 105 Nr 11 RdNr 27 mwN, vorgesehen auch für BSGE). Zwar ging die Initiative zur Auslegung der E-Mail als Widerspruch nach den Feststellungen des LSG von der Beklagten aus, die nunmehr im Revisionsverfahren eine Verletzung des § 84 SGG durch das LSG rügt. Diese Umstände können aber nicht dazu führen, dass die Formerfordernisse des § 84 SGG nicht gelten. Sie können im Rahmen einer Wiedereinsetzung zu berücksichtigen sein, die vorliegend schon deshalb ausscheidet, weil die Jahresfrist lange abgelaufen ist (vgl § 84 Abs 2 Satz 3 iVm § 67 Abs 3 SGG). Im Übrigen sind die formwidrig erhobenen Widersprüche vorliegend als Überprüfungsanträge gemäß § 44 SGB X auszulegen (vgl Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 44 RdNr 40). In diesem Sinne hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, diese unter Berücksichtigung des Ausgangs des Verfahrens zu bescheiden.
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3. Aus den gleichen Gründen ist die Revision begründet, soweit die Beklagte zu höheren Leistungen für Mai und Juni 2018 unter Aufhebung des Bescheids vom 29.5.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.8.2018 verurteilt worden ist. Die diesbezügliche Klage bleibt ebenfalls erfolglos. Der Widerspruch per einfacher E-Mail war nicht formgerecht. Dass auch dieser Widerspruch per E-Mail erhoben worden ist, ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG.
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4. Die Revision hat hingegen keinen Erfolg, soweit das LSG unter entsprechender Aufhebung des Gerichtsbescheids des SG die Bescheide vom 6.2.2018 und 9.3.2018 aufgehoben hat. Die Klage ist insoweit begründet. Diese die Monate Februar bis April 2018 betreffenden Aufhebungsbescheide sind rechtswidrig, weil die dem Kläger mit Bescheid vom 19.1.2018 bewilligten Leistungen nicht zu hoch waren. Dies folgt bereits daraus, dass entgegen der Ansicht der Beklagten eine Haushaltsgemeinschaft gemäß § 9 Abs 5 SGB II nicht bestand.
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Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Kinderzuschlag nach § 6a Abs 1 BKGG (§ 6a BKGG in der Fassung vom 20.12.2016, BGBl I 3000). Insbesondere wurde durch den Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II vermieden (§ 6a Abs 1 Nr 4 BKGG; hierzu zuletzt BSG vom 13.7.2022 B 7/14 KG 1/21 R BSGE 134, 258 = SozR 45870 § 6a Nr 10, RdNr 13 mwN). Eine grundsätzliche Leistungsberechtigung nach dem SGB II bestand hier schon deshalb, weil der Kläger selbst bei fehlender eigener Erwerbsfähigkeit eine Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau (§ 7 Abs 2 Satz 1, Abs 3 Nr 3 Buchst a SGB II) bildete.
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Das Einkommen der Mutter des Klägers war nicht zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen für eine vermutete Unterstützungsleistung aufgrund einer Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten (§ 9 Abs 5 SGB II) liegen nach den nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen und deshalb für den Senat bindenden (vgl § 163 SGG) Feststellungen des LSG nicht vor. Das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft ist Tatbestandsvoraussetzung dafür, dass die gesetzliche Vermutung - der Hilfebedürftige erhält Leistungen von den Verwandten oder Verschwägerten - eingreifen kann. Sie ist mithin von Amts wegen (§ 20 SGB X) festzustellen. Für die Unterhaltsvermutung in § 9 Abs 5 SGB II reicht es gerade nicht aus, wenn Verwandte oder Verschwägerte in einem Haushalt lediglich zusammen wohnen. Vielmehr muss über die bloße Wohngemeinschaft hinaus der Haushalt im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam geführt werden (grundlegend BSG vom 27.1.2009 B 14 AS 6/08 R SozR 44200 § 9 Nr 6 RdNr 15 f mwN). Hiervon ist das LSG zutreffend ausgegangen, als es das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft verneint hat. Zuletzt ist nicht ersichtlich, dass durch den Bescheid vom 19.1.2018 unabhängig vom Nichtbestehen einer Haushaltsgemeinschaft rechtswidrig zu hohe Leistungen bewilligt wurden.
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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.