S 20 R 1430/23

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 1430/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Der Bescheid der Beklagten vom 15.03.2023 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.11.2023 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.09.2022 bis zum 31.08.2027 in gesetzlichem Um-fang zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die 1964 geborene Klägerin bezog vom 01.09.2019 bis 31.08.2022 von der Beklagten eine zeitlich befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung und beantragte am 07.04.2022 bei der Beklagten eine Verlängerung der Erwerbsminderungsrente.

Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte mit Bescheid vom 15.03.2023 nach Einholung von Gutachten auf internistisch-rheumatologischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet den Antrag der Klägerin ab. Dagegen legte diese am 06.04.2023 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2023 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei der Klägerin noch ein Leistungsvermögen für Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes  für mindestens 6 Stunden täglich vorliege.

Hiergegen hat die Klägerin am 23.11.2023 Klage erhoben.

Sie führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben sei.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15.03.2023 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom  09.11.2023  aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung über den 31.08.2022 hinaus in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.

Das Gericht hat Befundberichte von V, K, S, S1 und der Universitätsmedizin G beigezogen  sowie ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei W und ein internistisch-rheumatologisches  (Zusatz-)Gutachten bei L  eingeholt.

Nach dem Gutachten L vom 28.07.2024 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:

1. Anamnestisch seronegative rheumatoide Arthritis (chronische Polyarthritis), derzeit in Remission. Keine Zeichen einer Aktivität mit Funktionsstörungen.

2.         Chronisches somatoformes Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren

3.         Chronische Niereninsuffizienz, Zustand nach Nierenversagen

4.         Zustand nach zweimaliger Schilddrüsenoperation mit Entfernung des Organs, hormonelle Substitution

5.         Medikamentös behandelter Bluthochdruck

6.         Degeneratives Halswirbelsäulen-Syndrom mit Vorwölbung der Bandscheibe HWK 5/6.

7.         Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei degenerativen Veränderungen

8.         Finger-Polyarthrose vom Bouchard- und Heberden-Typ sowie Rhizarthrose rechtsbetont

9.         Beginnende Verschleißerscheinungen, auch an Knien und Vorfüßen bei Senk-Spreizfüßen

10. Restless-Legs-Syndrom

11. Substituierter Vitamin-D-Mangel

Die Klägerin könne leichte Arbeiten unter 3 Stunden täglich in der Woche ausführen.

Arbeiten könnten vorwiegend im Sitzen, aber auch zeitweilig in stehender und gehender Position durchgeführt werden. Zwangshaltungen sowie Besteigen von Leitern und Gerüsten seien wegen degenerativer Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen nicht zumutbar. Wegen der Gefahr eines Wiederaufflackerns des entzündlich rheumatischen Prozesses sollten Nachtschichtbelastungen auf jeden Fall vermieden werden. Schweres Heben oder Tragen seien nicht mehr leidensgerecht. 10 kg als Einzellast können gelegentlich bewältigt werden. Was Tätigkeiten unter Zeitdruck, unter nervlicher Belastung sowie mit Anforderungen an das Konzentrationsvermögen und die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit anlangt, wird auf das psychiatrische Hauptgutachten verwiesen. Repetitive manuelle Tätigkeiten sind bei der Fingerpolyarthrose nicht zumutbar. Die Arbeiten sollten in geschlossenen, warmen Räumen stattfinden.

Nach dem Gutachten von W vom 15.10.2024 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:

A) auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet:

Nach ICD-10:

  • F 33.0 rezidivierend depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode
  • F 45.41chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Bei belastungs- und bewegungsabhängigem Schmerzsyndrom der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule bei allenfalls leichten degenerativen Veränderungen und Funktionseinschränkungen, ohne sensomotorische Wurzelreizsymptomatik und seronegative Rheumatoid-Arthritis
  • Restless-Legs-Syndrom (Syndrom der unruhigen Beine)

B) im Übrigen

  • arterielle Hypertonie
  •  chronische Niereninsuffizienz,
  • Refluxösophagitis.

Die Klägerin könne unter 8 aber mehr als 6 Stunden  leichte körperliche Tätigkeiten verrichten. Ausgeschlossen seien Tätigkeiten nur im Sitzen, Gehen, Stehen, in Zwangshaltungen, mit überwiegend vorn übergebeugtem Oberkörper, Überkopfarbeiten, in überwiegend kniender und hockender Position, mit Hebe- und Bückarbeiten mit maximaler Hebebelastung von 5 kg als Dauer- und Einzelleistung, mit Vibrationen und Stauchungen der Wirbelsäule, mit Absturzgefahr Arbeiten auf Leitern und Gerüsten können aufgrund des polytopen Schmerzsyndroms nicht mehr verrichtet werden. Es könnten nur noch geistig einfache Arbeiten verrichtet werden. Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die kognitive Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit, mit besonderer nervlicher Belastung, mit besonderem Zeitdruck, im Akkord, im 3-Schichtsystem seien aufgrund der psychischen Erkrankungen (siehe 1 a) nicht mehr möglich.

Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Beklagtenakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig.

Sie ist auch (überwiegend) begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze

Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 S 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist, ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise, vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris Rdnr. 24).

Die Klägerin leidet unter Erkrankungen vor allem auf internistischem, rheumatologischem, orthopädischem und psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Auf die in den Gutachten angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen.

Die Klägerin ist auch erwerbsgemindert.

Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin über den 31.08.2022 (dem Zeitpunkt des Auslaufens der befristet gewährten Rente)  voll  erwerbsgemindert war, da sie nur noch in der Lage war, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter 3 Stunden täglich zu verrichten.

Soweit beklagtenseitig darauf verwiesen wird, dass offenbar auch L leistungslimitierend insbesondere die chronische Schmerzstörung werte und aus rein internistischer Sicht nicht zu einer qualitativen Leistungseinschränkung komme, weshalb  W als insoweit sachnäherem Gutachter zu folgen sei, überzeugt dieser Einwand nicht.

Zur Grundproblematik, insbesondere zur Einordnung  der Diagnose anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (inkomplette Fibromyalgie), ist folgendes anzumerken: In der Schmerzforschung herrschte für Jahrzehnte ein Kampf der Ideen zu den Entstehungsmechanismen von chronischen Schmerzen. Dabei schwang das Pendel hin und her zwischen peripher und zentral oder zwischen somatisch und psychisch. Konsequenz dieser Entwicklung war in der ICD-10-GM 2009 die Aufteilung der Schmerzdiagnose F45.4 in die F45.40, wie bisher die „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“, und F45.41 als „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.  Die hohe Akzeptanz der F45.41 zeigt sich an der Häufigkeit, mit der sie seit ihrer Einführung vergeben wurde.  Die Erfolgsgeschichte der F45.41 ist – obwohl weiterhin im F-Kapitel für psychische Störungen verortet – wesentlich auf ihre Funktion als „Brückendiagnose“ zurückzuführen, denn in der klinischen Praxis funktionieren weder monokausale somatische (z. B. M54 Rückenschmerz) noch monokausal psychische Diagnosen (F45.4, F62.80). Mit der F45.41 wurde erstmals in der ICD für Schmerz auf kausale Annahmen verzichtet und beide Aspekte deskriptiv als relevant integriert. Diese Entwicklung wurde mit der MG30 in der ICD-11 konsequent fortgesetzt. (entnommen: Barke, Antonia & Korwisi, Beatrice & Nilges, Paul & Rief, Winfried & Treede, Rolf-Detlef. (2023). Alles anders? Chronische Schmerzen sind in der ICD-11 keine psychische Störung mehr!. 22. 4-12.)

Hieraus folgt, dass nicht im Zweifel dem psychiatrischen Gutachter die höhere fachliche Nähe zu unterstellen ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn wie hier deutliche Hinweise auf eine somatische Ursache des Schmerzgeschehens auf rheumatischem Fachgebiet vorliegen und so auf das spezielle Fach- und Erfahrungswissen auf dem spezifischen Fachgebiet bei komplexen (psychosoziale Faktoren und eine psychische Komorbidität einschließende) Krankheitsbildern zurückgegriffen werden kann. Von Bedeutung ist im Hinblick auf die rasche Ermüdbarkeit und die deutliche Erschöpfbarkeit bei leichten körperlichen und geistigen Belastungen nach dem Gutachten von L (S.19) in somatischer Hinsicht auch die chronische Nierenerkrankung mit grenzwertigen Suffizienzzeichen bei einer interstitiellen Nephropathie und einer hypertensiven Nephropathie. L zieht daraus nachvollziehbar den Schluss, dass aufgrund dieser  Erschöpfbarkeit  auch bei nicht vollständiger beruflicher Belastung häufige Krankschreibungen zu erwarten sind. Dies korrespondiert mit dem klägerischen Vortrag in der mündlichen Verhandlung. Die Klägerin schildert für die Kammer vor oben genanntem Krankheitshintergrund nachvollziehbar und durch die Feststellungen von L objektiviert, dass sie sich eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schon deshalb nicht vorstellen könne, weil sie die bisherige Tätigkeit  als Bürofachkraft u.a. mit den Aufgaben Assistenz, Kundenberatung und Buchhaltung, nicht mehr wettbewerbsfähig ausüben könne. Obwohl zu dem Arbeitgeber ein gutes Verhältnis bestehe, habe dieser die weitere Tätigkeit der Klägerin abgelehnt, weil aufgrund der Einschränkungen und insbesondere auch aufgrund von Konzentrationseinschränkungen es zu einer erhöhten Fehleranfälligkeit gekommen sei.

Die Kammer ist der Auffassung, dass die Klägerin  sowohl im Hinblick auf die zu erwartenden häufigen Kurzzeiterkrankungen als auch auf die quantitativen und qualitativen Arbeitsanforderungen nicht mehr in der Lage ist, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wettbewerbsfähig auszuführen.

Entscheidend ist insoweit nicht, ob es der Klägerin gelingt, einzelne Verrichtungen auszuüben, sondern ob sie imstande ist, diese in qualitativer und quantitativer Hinsicht so auszuführen, dass die Mindestanforderungen einer wie auch immer gearteten Beschäftigung erfüllt werden können.

Unter den "üblichen Bedingungen" i.S. des § 43 SGB VI ist das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, d.h. unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Hierzu gehören sowohl rechtliche Bedingungen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche und tarifvertragliche Vorschriften, als auch tatsächliche Umstände, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz (vgl. z.B. Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung - SGB VI, a.a.O. Rn 86 ff, Stand September 2009). Üblich sind Bedingungen, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Anzahl (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R –, BSGE 109, 189-199, SozR 4-2600 § 43 Nr 16, Rn. 29). So hat das BSG entschieden, dass das Risiko einer häufigen Arbeitsunfähigkeit dann zu einer Erwerbsminderung führen kann, wenn feststeht, dass die (vollständige) Arbeitsunfähigkeit so häufig auftritt, dass die während eines Arbeitsjahres zu erbringenden Arbeitsleistungen nicht mehr den Mindestanforderungen entsprechen, die ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ zu stellen berechtigt ist, sodass eine Einstellung oder Weiterbeschäftigung eines solchen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen ist und dies somit den „unüblichen Arbeitsbedingungen“ zugeordnet werden kann. (Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 8 (Stand: 27.06.2022), Rn. 39 m.w.N.) Verallgemeinert bedeutet dies, dass jedenfalls dann, wenn ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ einen solchen Arbeitnehmer aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwartenden quantitativen und qualitativen Minderleistungen oder fehlender Integrationsfähigkeit in die üblichen betrieblichen Abläufe entweder gar nicht erst einstellen würde oder aber berechtigt wäre, ihn (weil die fehlende Leistungsfähigkeit oder das Verhalten nicht subjektiv vorwerfbar, sondern behinderungsbedingt sind) personenbedingt sozial gerechtfertigt zu kündigen, eine Leistungsfähigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr vorliegt.

In dieser  Hinsicht  ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass die von W verwendete Bewertungsmethode (Mini -ICF-APP) nach Linden (Linden et al.: Fähigkeitsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen, Bern 2015), dem oben genannten rechtlichen Maßstab nicht in ausreichendem Maß Rechnung trägt.

Diese  Methode stellt  nach den Leitlinien der Beklagten ein zulässiges Bewertungsinstrument dar. Zu hinterfragen ist jedoch sowohl die Anwendung der Methoden in diesem Einzelfall, als auch  im Hinblick auf die Vagheit der die Methode konkretisierenden Ankerbeispiele. Bei der Anwendung des Mini-ICF-APP von W ist eine  Abweichung dahingehend festzustellen, dass er vier unterschiedliche Beeinträchtigungsstufen vorsieht, keine, leichte, mittlere und schwere. Während in den Veröffentlichungen von Linden (vgl. Linden, Muschalla, Weih, Mini ICF-Operationalisierung psychischer Funktionseinschränkungen, Neurotransmitter 2021, 32(11) ) fünf unterschiedliche Beeinträchtigungsgrade ausgewiesen sind: keine, leichte, mäßige, erhebliche und volle Beeinträchtigungen.  Diese Methode nimmt hinsichtlich der Definition des allgemeinen Arbeitsmarktes auf eine mögliche Tätigkeit in einem Hotel Bezug, wobei die genannten Tätigkeiten vom Kofferträger bis zum Hotelmanager reichen. Im Grunde wird hierbei eine ganze Sammlung von nicht explizierten und berufskundlich (z.B.im Hinblick auf Zugangsvoraussetzungen oder nötige Vorkenntnisse) validierten  Verweisungstätigkeiten herangezogen.

Dies ist vorliegend nur deshalb weniger problematisch, weil  auch  Tätigkeitsbereiche herangezogen werden,  die der bisherigen Tätigkeit der Klägerin  (z.B. Rezeption, Buchhaltung ) vergleichbar sind.

Linden sieht erst bei einer vollen Beeinträchtigung den Leistungsfall als gegeben, nicht jedoch bei einer erheblichen Beeinträchtigung die im Ankerbeispiel wie folgt erläutert wird: „Ich versuche immer alles richtig zu machen. Das ist alles furchtbar kompliziert, mit der neuen Software, beispielsweise für die Arbeitsaufträge für die Produktion und so. Ich versuche das richtig zu machen, das kostet wahnsinnig viel Zeit. Wenn es dann Terminsachen sind, dann kommt es vor, dass die Sache nicht richtig fertig werden und die Teamleiterin mich nicht nur anmotzt, sondern die Sache einer jungen Kollegin gibt. Deshalb bin ich völlig fertig und habe mich dann am nächsten Tag krank gemeldet“ (a.a.O. S.54).

Bei dieser  Beschreibung sind  Elemente im Hinblick auf belastungsbedingte Kurzzeiterkrankungen und zumindest quantitative Minderleistungen enthalten, die aber nicht erkennen lassen, ob diese u.U. schon ein so gravierendes Ausmaß angenommen haben, dass sie den Arbeitgeber zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses berechtigen würden, da die Abgrenzung zur  nächsten Stufe der vollen Beeinträchtigung gradueller Natur ist: „Meine Teamleiterin hat keine Nachsicht mehr. Sie hat mir alle Auftrags- und Terminsachen weggenommen. Sie wirft mir vor, dass ich nicht mal in der Lage bin, Routinesachen zu bearbeiten“ (a.a.O. S.55).

Diese Beschreibung zeigt zwar ein Beispiel für volle Erwerbsminderung, da nach dieser Beschreibung nicht einmal mehr Routineaufgaben – also überhaupt keine sinnvolle Arbeitsleistung mehr erbracht werden kann, lässt aber die Frage unbeantwortet, bei welchen Grad quantitativer und qualitativer Minderleistung dem Arbeitgeber ein Festhalten am Arbeitsverhältnis nicht mehr zumutbar ist.  Im Hinblick auf diese Vagheit  des Mini-ICF- APP wäre eine weitere Präzisierung anhand arbeits- und sozialrechtlicher Vorgaben und ggfs. notwendiger weiterer empirischer Erhebungen wünschenswert.

Dies entwertet den Mini-ICF-APP zwar nicht als hilfreiches Bewertungsraster, erfordert aber in Grenzfällen  eine weitere kritische Bewertung und Betrachtung.

Von W wird angeführt, die psychische Widerstands- und Durchhaltefähigkeit sei mittelgradig beeinträchtigt, da die Klägerin teilweise nicht in der Lage sei , durchgehend bei einer Sache zu bleiben und sei wegen Erschöpfung an der Fortführung von Aufgaben  gehindert, es komme aber nicht generell zu Abbruch oder Unterbrechung.

Dies lässt jedoch offen, ob damit eine Beeinträchtigung vorliegt, die zu einer nicht mehr zu tolerierenden Minderleistung führt.

Soweit die Klägerin eine unbefristete Rentengewährung begehrt, ist die Klage unbegründet, da eine Besserung nicht unwahrscheinlich ist. 

Insoweit folgt die Kammer der Bewertung des Gutachters W, der bei einer optimierten fachpsychiatrischen Betreuung, für die er konkrete Optionen aufzeigt, eine Besserungsaussicht sieht.

Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 101 Abs. 1. SGBVII nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbs-fähigkeit geleistet. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Klägerin bereits zuvor in der Zeit des Bezuges der Erwerbsminderungsrente erwerbsgemindert war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem überwiegenden Obsiegen.

Rechtskraft
Aus
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