Der Bescheid der Beklagten vom 31.05.2022 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2023 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes befristet vom 01.08.2024 bis 31.07.2027 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die 1987 geborene Klägerin beantragte am 10.05.2022 bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente.
Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte mit Bescheid vom 31.05.2022 den Antrag der Klägerin ab. Dagegen legte diese am 24.06.2022 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.06.2023 wurde der Widerspruch nach Einholung eines Gutachtens auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet als unbegründet zurückgewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei der Klägerin noch ein Leistungsvermögen für leichte Arbeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen für mindestens 6 Stunden täglich vorliege.
Hiergegen hat die Klägerin am 27.06.2023 Klage erhoben.
Sie führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben sei.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 31.05.2022 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.
Das Gericht hat Befundberichte von der Fachärztin für innere Medizin und Pneumologie S, dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie L, des Universitätsklinikums J und des Heilpraktikers für Psychotherapie B beigezogen sowie ein internistisch-pneumologisches (Zusatz-) Gutachten bei dem Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Notfallmedizin K und ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei B eingeholt.
Nach dem Gutachten vom Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Notfallmedizin K vom 01.04.2024 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:
- Asthma Bronchiale Mischform GINA III, gut kontrolliert
- Adipositas I-II
- Post-Covid Syndrom mit Somatisierungsstörung
Die Klägerin könne leichte Arbeiten größer/gleich 6 Stunden täglich in der Woche ausschließlich im Tagdienst in geschlossenen warmen Räumen ohne Gefährdung durch Kälte, Nässe Zugluft oder Reizstoffen ausführen.
Nach dem Gutachten von B vom 09.11.2022 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:
Auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet:
Symptomdiagnosen:
- rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig; (ICD-10: F 33.1), eingebunden in eine Dysthymia; (ICD-10: F 34.1)
- Bruxismus, mit Bissschiene versorgt seit anderthalb Jahren; (ICD-10: F 45.8)
- Konversionsstörung/dissoziative Störung gemischt (dissoziative Bewegungsstörungen)
- Empfindungsstörungen, hohe Berührungsempfindlichkeit); (ICD-10: F 40.7)
Strukturmerkmale:
altruistisch-pflichtbewusste Bildung der Persönlichkeit mit aktuell aufgehobener individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur
Körperliche Diagnosen im Übrigen (übernommen):
- bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen und Funktionsstörungen der LWS (abgelaufener Morbus Scheuermann), des Fußes (Zustand nach Bänderriss 2019), der HWS (BSV C5/6), bei degenerativen Veränderungen, kein Hinweis auf neurologisches Defizit
- Ganzkörperschmerzsyndrom, somatoforme Schmerzstörung
- Post-COVID-Syndrom seit 04/2021 mit Fatigue- und Schmerzsyndrom/sensible Berührungsüberempfindlichkeit
- fluktuierender Tinnitus bds.
- gemischtes Asthma bronchiale seit Jugendzeit, unter medikamentöser Behandlung
Das Gutachten ergab einen Fähigkeitsstatus mit einem Leistungsvermögen von unter 3 Stunden arbeitstäglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Der Leistungsfall wurde gesehen zum Zeitpunkt der Untersuchung, am 08.01.2024.
Als qualitative Einschränkungen werden vom Gutachter benannt:
- Arbeiten nur in wechselnder Körperhaltung
- ohne feinmotorische Arbeiten
- Nicht auf Leitern und Gerüsten
- ohne Akkord-, Schicht- und Nachtarbeit
- Gefährdung durch Witterungseinflüsse nur in begrenztem Maß
- nur durchschnittliche Lärmbelastungen
- nur unterdurchschnittliche Anforderungen an nervliche Belastungen, Arbeits- und Zeitdruck und Konzentrationsvermögen
Dem Gericht liegen ferner ergänzende Stellungnahmen von B vom 25.06.2024 und 19.02.2025 vor.
Von der Klägerin sollte eine Mitwirkungspflicht bezüglich einer teilstationären Behandlung in der Klinik L (Wohnort der Klägerin) gefordert werden.
Aus der teilstationären Behandlung könnten in den nächsten Monaten weitere Erkenntnisse über psychische Zusammenhänge erwartet werden, um die Wahrscheinlichkeitsaussage/zukünftige Vorhersage der Prognose abschließend zu beurteilen.
Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Beklagtenakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Sie ist auch (überwiegend) begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze
Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 S 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist, ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise, vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris Rdnr. 24).
Die Klägerin leidet unter Erkrankungen vor allem auf internistischem, rheumatologischem, orthopädischem und psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Auf die in den Gutachten angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen. Die Kammer hat keine Zweifel, dass die Sachverständigen die medizinischen Befunde zutreffend erhoben und aus ihnen die richtigen sozial-medizinischen Schlussfolgerungen gezogen haben.
Die Klägerin ist voll erwerbsgemindert, denn sie ist nur noch in der Lage, weniger als 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die diesbezügliche Leistungseinschätzung vom Gutachter B wird gestützt durch den Befundbericht des Universitätsklinikums J vom 23.08.2024, der von einer ausgeprägten Fatigue mit PEM (post-exertional-malaise) berichtet, die Funktionseinschränkungen in den Bereichen spezieller motorischer Funktionen und eine leicht bis mittelgradige neurokognitive Störung mit Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bewirken. Ferner wird mitgeteilt, dass die neuropsychologische Testung Defizite im Bereich Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen, insbesondere durch eine deutliche Grundverlangsamung ergab. Zusammenfassend wird eine schwere Ausprägung des Post-Covid-Syndroms diagnostiziert. Wie dem Arztbrief vom 08.04.2024 , der dem Befundbericht beigefügt war, zu entnehmen ist, ist auch von einer Interaktion somatischer und psychischer Faktoren auszugehen.
Eine gefestigte sozialgerichtliche Rechtsprechung zur Bewertung des Post-Covid -Syndroms besteht derzeit nicht. Einige Sozialgerichte thematisieren im Bereich des Unfallrechts Kausalitätsprobleme zwischen einer COVID Infektion und einem Post-Covid-Syndrom (vgl. z.B. . SG Konstanz, Urteil vom 8. Februar 2023 – S 1 U 1682/23 –, juris SG Heilbronn, Urteil vom 12. Dezember 2024 – S 2 U 426/24 –, juris).
Der gegenwärtige und nach wie vor vorläufige Erkenntnisstand bezüglich des Post-Covid-Syndroms kann entsprechend der zusammenfassenden Überblicksdarstellung von Widder, (Update Post-Covid-Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet MedSach 121 1/2025: 24-32) wie folgt charakterisiert werden:
- Ganz überwiegend aber nicht ausschließlich (Weitere häufig beschriebene Beschwerden
sind Schwindel oder plötzliches Herzrasen, die sowohl in Ruhe, beim Lagewechsel oder bei Belastung auftreten können.) werden das neurologisch-psychiatrische Fachgebiet betreffende Beschwerden wie Fatigue Symptome (Müdigkeit und krankhafte Erschöpfung), kognitive Einschränkungen, ein „brain-fog“ (Schwierigkeiten, sich z.B. Dinge zu merken, schwierige Zusammenhänge zu verstehen, strukturiert zu denken bzw. sich ausdauernd zu konzentrieren, eine Post-exertional-Malaise (PEM, die Beschwerden nehmen bereits nach kleinen Anstrengungen körperlicher, geistiger und seelischer Art deutlich zu, ohne dass die Betroffenen sich wie gewohnt erholen) und /oder depressive Symptome geschildert. (vgl. hierzu auch: Leitlinie “Long/Post-COVID-Syndrom" für Betroffene, Angehörige ,nahestehende und pflegende Personen, die sich auf eine ärztliche Leitlinie stützt („S1-Leitlinie Long-/Post-COVID Living Guideline“ der- AWMF; Registernummer 020 – 02, https://register.awmf.org/assets/guidelines/020-027p1_S1_Post_COVID_Long_COVID_2024-10.pdf, S1-Leitlinie „Long/Post-Covid“: https://register.awmf.org/assets/guidelines/020-027l_S1_Long-Post-Covid_2024-06_1.pdf )
- Der Ursachenzusammenhang ist nach wie vor ungeklärt. Als denkbare Mechanismen werden mögliche Gewebeschäden, eine Persistenz von Viren oder Virusbestandteilen, eine metabolische Störung, eine chronische (Hyper-) Inflammation, eine Koagualopathie und/oder Autoimmunphänomene diskutiert.
- Ein verwertbarer , zuverlässiger Biomarker , der einen labortechnische Nachweis ermöglicht, konnte bisher nicht identifiziert werden.
- Bei Personen, die anfangs leicht an Covid erkrankt waren und bei denen bereits psychische, respiratorische oder sonstige unspezifizierte Beschwerden auftraten, besteht eine positive Korrelation zur Diagnose eines Post-Covid-Syndroms.
- Die Symptomatiken insbesondere der Fatigue, kognitiver Störungen und PEM sind nicht auf den Zusammenhang mit Covid-Erkrankungen beschränkt, sondern wurden u.a nach Infektionen, oder im Rahmen negativer Lebensereignisse beobachtet.
- Eine PCS-Diagnose ist mit erheblichen differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten verbunden und erfordert stets eine eingehende Indiziensammlung und Plausibilitätsprüfung. Eine umfassende Gesamtwürdigung von positiven Indizien, Abgleich von Aktenlage, Verlauf und klinischen und neuropsychologischen Befunden, sowie geeigneter Beschwerdevalidierungsverfahren ist erforderlich.
Letzteres ist allerdings generell bei der Erstellung von psychiatrischen Gutachten zur Feststellung einer Erwerbsminderung geboten. Erforderlich ist es, aufgrund aller verwertbaren Gesichtspunkte zu einem kohärenten Gesamtbild zu kommen, das geeignet ist, eine der richterlichen Überzeugung vergleichbare Überzeugung des Sachverständigen zu begründen, die im weiteren gerichtlichen Verfahren überprüft und rational diskutiert werden kann. (SG Nordhausen, Urteil vom 18. Juli 2024 – S 20 R 386/22 –, Rn. 44ff, juris. zu den Voraussetzungen, Anforderungen i.S. eines pragmatischen Vorgehens und möglichen methodischen Hilfsmitteln). Da die unfallversicherungsrechtlichen Kausalitätsprobleme nicht relevant sind für einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente, sind nicht die Diagnosen, sondern die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen maßgebend. Daher können differentialdiagnostische Überlegungen dahinstehen, wenn nur festgestellt werden kann, dass eine Gesundheitsstörung vorliegt, die die Erwerbsfähigkeit des Versicherten herabsetzt. Ungeachtet dessen ist grundsätzlich zu fordern, dass medizinische Sachverständige die von ihnen festgestellten Gesundheitsstörungen möglichst an einem der genannten Klassifikationssysteme orientieren. (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 03.04.2024), Rn. 63). Beispielweise kann dahinstehen, ob ein Krankheitsbild der Diagnose Fibromyalgie oder der somatoformen Schmerzstörung (vgl z.B. SG Nordhausen, Urteil vom 23. Oktober 2014 – S 20 R 1990/12 –, juris) bzw. chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren zuzuordnen ist, entscheidend ist allein Art und Umfang der Leistungseinschränkung. Die Leistungseinschätzung vom Gutachter B wird nach Auffassung der Kammer im Rahmen einer umfassenden Gesamtbetrachtung entsprechend der oben genannten Maßstäbe überzeugend und nachvollziehbar begründet.
Die abweichende Auffassung des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten im Schriftsatz vom 02.12. 2024 vermag die Kammer nicht zu überzeugen. Es wird dort angeführt, dass die Angaben der Klägerin auch bei den von dem Uniklinikum verwendeten Selbstbeurteilungsbögen, auf der subjektiven Beschwerdeschilderung der Klägerin beruhten und dass die neuropsychologische Testung von der Mitarbeit der Probandin abhängig sei. Dies dürfte zwar korrekt sein, unklar bleibt jedoch, was aus Sicht der Beklagten daraus folgt z.B. (fälschlicherweise) die Unerheblichkeit der so gewonnenen Befunde? Im Schriftsatz vom 18.03.2025 wird insinuiert, weder die Leistungseinschätzung des Gutachters noch der Befundbericht des Universitätsklinikums beruhten auf objektiven Befunden. Dies ist aus Sicht der Kammer im Hinblick auf die Befunderhebung des Gutachters und auch im Hinblick auf die dokumentierte Befunderhebung durch das Universitätsklinikum nicht nachvollziehbar und deutet auf eine überzogene und nicht fachlich begründete Vorstellung des Begriffs eines objektiven psychiatrischen Befundes hin (vgl. hierzu eingehend: SG Nordhausen, Urteil vom 18. Juli 2024 – S 20 R 386/22 –, Rn. 48ff., juris).
Im Hinblick auf die vom Gutachter aufgezeigten Behandlungsmöglichkeiten ist eine relevante Besserungsmöglichkeit gegeben, so dass die Rente befristet zu gewähren ist (§ 101 Abs. 2 S.5 SGB VI) . Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 101 Abs. 1. SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Umfang des Obsiegens.