L 9 U 82/23

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 52/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 U 82/23
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 53/25 B
Datum
Kategorie
Urteil


I.    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 23. November 2022 wird zurückgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III.    Die Revision wird nicht zugelassen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten in diesem Verfahren darüber, ob die Lungenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 4301 oder der Nr. 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anzuerkennen ist. Die BK Nr. Nr. 1315 war Gegenstand eines weiteren Berufungsverfahrens (L 9 U 83/23). Weitere Verfahren die BK Nrn. 4101 und 4103 betreffend sind bereits rechtskräftig abgeschlossen.

Der 1949 geborene Kläger absolvierte von 1963 bis 1966 eine Lehre zum Maler und Anstreicher. Im Zeitraum von 1966 bis 1967 war er als Geselle bei verschiedenen Maler- und Lackierermeistern angestellt. Im Zeitraum von 1967 bis 1971 war er bei der Firma D. als Chemiearbeiter in der Produktion beschäftigt. Im Zeitraum von 1969 bis 1970 absolvierte der Kläger seinen Wehrdienst im Tankdepot der Bundeswehr und hatte dort vor allem Kontakt mit Dieseltreibstoff. Im Zeitraum von 1971 bis 1973 war der Kläger bei der Firma E. in C-Stadt als Maler und Anstreicher beschäftigt. Im Zeitraum von 1973 bis 1990 war er bei verschiedenen Malermeistern angestellt. Seit 1990 war er als Hausmeister sowie Maler, Anstreicher und Lackierer bei der Baugenossenschaft des Kreises Biedenkopf tätig. Zu seinen Aufgaben bei der Baugenossenschaft gehörten auch die Renovierung von Wohnungen und die Sanierung von Altbauten. Dabei bearbeitete er auch asbesthaltige Fassadenplatten. Des Weiteren musste er Nachtspeicheröfen mit asbesthaltigen Innenisolierungen umplatzieren und reinigen. Als Maler und Anstreicher hatte der Kläger zudem Kontakt mit Lösungsmitteln, Farben und Säuren. Der Kläger konsumiert seit seinem 17. Lebensjahr ca. 20 Zigaretten pro Tag. Wegen Erkrankungen in Zusammenhang mit den Atemwegen war er seit Januar 1993 eine Woche im Oktober 1994, zwei Wochen im September 1994, zwei Wochen im Januar/ Februar 2000 und eine Woche im Februar 2009 arbeitsunfähig. Ab Mitte 2011 war der Kläger mehrmals längerfristig wegen Gesundheitsstörungen auf unterschiedlichen medizinischen Fachgebieten erkrankt (22. August bis 30. September 2011; 6. Februar 2012 bis 9. März 2012; 12. März 2012 bis 16. März; 8. Mai 2012 bis 4. Januar 2013). Vom 18. Februar 2013 bis 16. Oktober 2013 bestand Arbeitsunfähigkeit, die neben diversen orthopädischen Diagnosen nunmehr auch mit Schlafapnoe, essentieller Hypertonie sowie erstmals COPD mit akuter Exazerbation begründet wurde. Seit Januar 2014 bezieht der Kläger Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Mit Schreiben vom 22. April 2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung einer Lungenkrankheit als BK aufgrund von Asbest. Er gab an, seit zwei Jahren unter Luftnot und Atembeschwerden zu leiden, auch spüre er Stiche in der Brust.

Die Beklagte holte ein fachradiologisches Gutachten bei dem Chefarzt der diagnostischen und interventionellen Radiologie der Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg, Prof. Dr. K., ein. In seinem Gutachten vom 30. Juni 2010 kam Prof. Dr. K. zu dem Ergebnis, die typische Radiomorphologie einer Asbeststaublungenerkrankung oder einer durch Asbeststaub bedingten Erkrankung der Pleura würde nicht vorliegen. Im linken dorsalen Obergeschoß würden sich mehrere umschriebene Pleuraverkalkungen finden. Die sich auf der Gegenseite abzeichnenden diskreten Pleuraschwielen seien weit geringer ausgeprägt. Entlang der Thoraxwände und epidiaphragmal beidseits würden keine tafelbergartig erhabenen bindegewebigen Pleuraverdickungen auffallen. Eine typische Kalkverteilung und Konfiguration wie bei asbestinduzierten Pleuraplaques würde nicht vorliegen. Sie würden unmittelbar oberhalb einer anlagebedingten Anomalie und nicht an asbestosetypischen Prädilektionsstellen liegen. Der Strukturumbau, die Kalksalzverteilung und die Lokalisation dieser Veränderungen würden dem typischen Befund posttuberkulöser verkalkter Schwielen entsprechen. Umschriebene Vorbuckelungen der rechten Zwerchfellhälfte rechts dorsobasal würden durch subpleurales Fettgewebe ausgebildet und seien dementsprechend ebenfalls nicht als asbestbedingte Veränderungen einzustufen. Im Lungenfenster würde sich eine mäßiggradige deformierende Bronchopathie andeuten. Die Lungenlappen seien nicht volumengemindert. Es zeichne sich keine unterfeldbetonte interstitielle Strukturvermehrung mit bindegewebig verdickten Interlobularsepten ab. Drei bis ca. 3 mm kleine teilverkalkte Noduli würden in den Mittelfeldern liegen. Im Bereich der Lunge würde keine unterfeldbetonte Lungenstrukturvermehrung wie bei einer Asbestfibrose vorliegen. Dem lag die Durchführung einer Dünnschicht-Computertomographie des Thorax am 18. Juni 2010 zu Grunde. Des Weiteren holte die Beklagte ein Gutachten bei dem Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. H. ein. In seinem Gutachten vom 30. Juni 2010 kam Dr. H. zu dem Ergebnis, dass sich radiologisch keine eindeutigen Brückenbefunde einer Asbestexposition zeigten. Es liege eine bronchiale Hyperreagibilität vor, die am ehesten auf die Nikotinexposition zurückzuführen sei. Die Lungenfunktionsprüfung habe eine normale Lungenfunktion ergeben. Die inhalative Provokation mit Metacholin habe eine bronchiale Hyperreagibilität ergeben. Die Lungendiffusionskapazität liege im Normbereich. Die Blutgase würden in Ruhe und unter Belastung im Normbereich liegen. Bei normaler Histaminreagibilität der Haut und negativer Kochsalzkontrolle würde der Pricktest keine Reaktion gegenüber den getesteten Allergenen ergeben. Ein Arbeitsplatzbezug der Beschwerden sei vom Kläger auch auf Nachfragen verneint worden.

Mit Bescheid vom 17. August 2010 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, da beim Kläger keine Berufskrankheit vorliege. Zur Begründung nahm sie auf die Gutachten von Prof. Dr. K. und Dr. H. Bezug. Hiergegen erhob der Kläger am 13. September 2010 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, obwohl bei ihm eine deformierende Bronchopathie diagnostiziert worden sei, finde nicht einmal eine differenzierte Untersuchung des Technischen Aufsichtsdienstes statt. Lungenveränderungen seien erkennbar. In seinem Berufsleben sei er jahrzehntelang gegenüber Asbest exponiert gewesen. Außerdem sei er auch gegenüber toxisch und allergisierend wirkenden Substanzen exponiert gewesen. Da bei ihm Luftnot beim Treppensteigen auftrete, dürfte auch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigender Höhe erreicht sein. Zudem habe sich sein Bauchumfang auf unerklärliche Art ausgeweitet. Es werde gebeten, die Feststellungen auf alle in Betracht kommenden BKen zu erstrecken.
Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und verwies abermals auf die im Verfahren bisher eingeholten Gutachten, wonach seine Atembeschwerden nicht durch seine berufliche Tätigkeit entstanden seien.

Seinen Anspruch hat der Kläger mit Klage vor dem Sozialgericht Marburg vom 10. Januar 2011 weiterverfolgt. Zur Begründung hat er auf bei ihm vorliegende Pleuraplaques verwiesen. Wenn es sich bei diesen um posttuberkulös verkalkte Schwielen handeln sollte, so würde auch eine Quarzstaublungenerkrankung in Betracht kommen. Wegen der Exposition gegenüber Lösemitteln begehre er die Feststellung einer BK nach den Nrn. 4301 und/oder 4302. Das Sozialgericht hat Beweis durch die Einholung von Befundberichten bei den behandelten Ärzten des Klägers Dr. F. und Dr. G. erhoben. Mit Beschluss vom 6. Juli 2012 hat das Sozialgericht das Verfahren hinsichtlich der BK Nrn. 4301 und 4302 abgetrennt. Die Klage die weiteren geltend gemachten Ansprüche betreffend hat es durch Urteil vom 26. November 2012 abgewiesen, weil weder eine Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) nach der BK Nr. 4101 noch eine Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursache Erkrankung der Pleura nach der Nr. 4103 vorlägen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung vor dem Hessischen Landessozialgericht (L 9 U 1/13) hat der Senat nach Einholung eines auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Arzt für Arbeitsmedizin und Innere Medizin Prof. Dr. R. unter dem 15. April 2015 erstatteten Gutachten mit Urteil vom 11. Dezember 2015 zurückgewiesen.

In dem abgetrennten, die BK Nrn. 4301 und 4302 betreffenden Klageverfahren (S 3 U 45/12) hat die Beklagte auf Aufforderung des Gerichts ihren Präventionsdienst mit Ermittlungen zur Arbeitsplatzexposition beauftragt. In seiner Stellungnahme vom 3. September 2012 hat dieser festgestellt, dass der Kläger im Sinne der BK Nr. 4302 gefährdend tätig gewesen sei. Aufgrund einer - wenn auch geringfügigen - Tätigkeit mit isocyanathaltigem Montageschaum habe auch eine Gefährdung im Sinne der BK Nr. 1315 bestanden. Unter Bezugnahme auf eine weiterhin eingeholte arbeitsmedizinische Stellungnahme bei Dr. L. vom 10. September 2012 und vom 18. Oktober 2012 hat die Beklagte die Voraussetzungen für die Anerkennung der BK Nrn. 4301 / 4302 gleichwohl weiter nicht für gegeben gehalten. 

Das dort geforderte Erkrankungsbild läge nicht vor. Selbst bei Bejahung der Einwirkungen im Sinne der BK Nr. 4302 ergebe sich aufgrund der nicht gesicherten obstruktiven Bronchitis und lediglich des Vorliegens eines hyperreagiblen Bronchialsystems kein BK-konformes Erkrankungsbild. Aufgrund des fehlenden Arbeitsplatzbezugs der Beschwerden sei zudem eine Verursachung durch die festgestellten Einwirkungen nicht mit der geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Ebenfalls seien die zusätzlichen versicherungsrechtlichen Merkmale (Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit) nicht erfüllt. Auch bezüglich der BK Nr. 1315 sei weder das Krankheitsbild einer obstruktiven Atemwegserkrankung im Vollbeweis gesichert noch sei der erforderliche Arbeitsbezug der Beschwerden vorhanden. Mit Bescheid vom 23. Januar 2013 stellte die Beklagte fest, dass bei dem Kläger keine BK nach der Nr. 1315 vorliege. Der Widerspruch des Klägers hiergegen war erfolglos und wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2013 zurückgewiesen. Auch das sich hieran anschließende sozialgerichtliche Verfahren blieb ohne Erfolg (Urteil Sozialgericht Marburg vom 23. November 2022 - S 3 U 75/16 / Urteil des Senats vom 16. Dezember 2024 - L 9 U 83/23).

Vor dem Hintergrund der Ermittlungen in dem Berufungsverfahren L 9 U 1/13 hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 22. Juli 2015 das Ruhen des Verfahrens S 3 U 45/12 angeordnet. Nach Abschluss ist es im September 2016 wiederaufgerufen und unter dem Aktenzeichen S 3 U 52/16 fortgeführt worden. Erkenntnisse aus in dem Berufungsverfahren eingeholten Gutachten haben sich für das hiesige Verfahren nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten nicht ergeben.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das Sozialgericht sodann ein Sachverständigengutachten vom 20. Februar 2020 nebst zwei ergänzenden Stellungnahmen vom 20. Dezember 2021 und 22. Februar 2022 bei Prof. Dr. M. eingeholt. Nach ausführlicher medizinischer, sozialer und auch arbeitsplatzbezogener Anamnese sowie klinischen und apparativen Untersuchungen hat die Sachverständige folgende Gesundheitsstörungen von wesentlichem Krankheitswert diagnostiziert: Leberzellschaden, Verdacht auf periphere Polyneuropathie, Polyarthrose, arterielle Hypertonie, Sklerose der distalen hirnversorgenden Gefäße, Hiatushernie, obstruktive Atemwegserkrankung, überwiegend im Sinne eines Asthmas bronchiale, Zustand nach abgelaufener Pneumonie. Die obstruktive Atemwegserkrankung sei bereits im Juni 2010 diagnostiziert worden. Ob sie Folge von allergisierenden Substanzen wie von Isocyanaten und/oder weiteren chemisch-irritativ toxischen Produkten des Maler-/Lackierhandwerks sei, sei noch nicht zu beantworten. Die Exposition sei nach Art, Intensität und Dauer arbeitstechnisch bisher nicht ausreichend ermittelt worden. Brückensymptome in Form des Leberleidens wie durch hepatotoxische Lösungsmittel und eine periphere Polyneuropathie durch neurotoxische Substanzen würden die berufliche Ursache des Atemwegleidens stützen. Durch den Zigarettenkonsum sei eine (Mit-)Verursachung der Atemwegserkrankung wahrscheinlich. Der Anregung der Sachverständigen nach weiteren Sachermittlungen von Amts wegen ist das Sozialgericht durch Beiziehung weiterer Unterlagen bei den behandelnden Ärzten des Klägers, seiner Krankenkasse, seinem Rentenversicherungsträger und auch dem Versorgungsamt nachgekommen. Unter Einbeziehung dieser hat die Sachverständige Prof. Dr. M. unter dem 28. September 2021 ihr Gutachten ergänzt und die Beweisfragen abschließend beantwortet. Sie hat ausgeführt, eine pulmonale Obstruktion sei bei dem Kläger bereits 06/2010 (Thoraxklinik Heidelberg) und 12/2010 (Lungenfacharzt Dr. F.) sowie erneut 2015 bei der Begutachtung durch Prof. Dr. R. gesichert. Weitere relevante Befunde ergäben sich aus den hausärztlichen Unterlagen bereits für 2006, mindestens 2007. Die chronisch obstruktive Bronchitis sei somit nicht erst zwei Jahre nach Expositionsende, sondern bereits während der bg-lich bestätigten beruflichen Exposition aufgetreten. Sie unterfalle dem Begriff der chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen. Das in der Thoraxklinik Heidelberg nachgewiesene hyperreagible Bronchialsystem sei typisch für einen wiederkehrenden Hautkontakt mit Isocyanatexposition. Ein direkter Arbeitsplatzbezug sei nicht obligat. Allerdings ergäben sich auch Hinweise auf Reizhusten aus den hausärztlichen Unterlagen seit 2006. Zum Erkrankungsverlauf hat die Sachverständige ausgeführt, es habe nach etwa dreijähriger Karenz ab April 2015 eine eindeutige Verbesserung, sogar Beendigung des obstruktiven Atemwegsleidens bestanden; bis zum ersten Quartal 2019 seien keine ärztlichen Untersuchungen oder Medikamente wegen Erkrankungen der Atemwege notwendig gewesen; der „Pulmologe“ habe den Kläger nach einer letzten Vorstellung im März 2011 erst im März 2019 wieder behandelt. Als Grund für die im April 2019 akut aufgetretene wesentliche, aber kurzzeitige Verschlimmerung in Form einer Pneumonie sei allein das fortgesetzte Inhalationsrauchen anzusehen. Ab Juni 2010 bis Ende 2015 habe eine BK nach Nrn. 4302/1315 BKV vorgelegen. Zur Aufgabe der beruflichen Tätigkeit hätten wahrscheinlich Muskel-Skelett-Erkrankungen und das Atemwegsleiden geführt. Zur Vermeidung einer weiteren Belastung mit Berufsstoffen in 2012 und damit einer Verschlimmerung der Atemwegserkrankung hätte das Tragen eines geeigneten Atemschutzes und geeigneter Handschuhe zielführend beigetragen. Ab 06/2010 bis Ende 2015 sei die MdE mit 20 vom Hundert v. H. einzuschätzen gewesen.

Dem ist die Beklagte durch ihre Beratungsärztin Dr. L. entgegengetreten. Bei der Begutachtung durch Dr. H. in 2010 habe der Kläger einen Arbeitsplatzbezug seiner Beschwerden auf Nachfrage verneint. Auch sei dort eine bronchiale Hyperreagibilität, aber keine manifeste Obstruktion, festgestellt worden. Der behandelnde Lungenfacharzt Dr. F. habe im Dezember 2010 eine sehr leichtgradige obstruktive Ventilationsstörung mit völliger Reversibilität im Bronchospasmolysetest gefunden. Nach der Vorstellung im März 2011 habe er attestiert „eine relevante obstruktive oder restriktive Ventilationsstörung scheint nicht vorzuliegen“. Eine weitere Vorstellung sei dort erst 2019 erfolgt. Bei fortgesetztem Inhalationsrauchen habe sich dann eine mittelgradige nicht reversible obstruktive Ventilationsstörung gezeigt. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 20. Februar 2022 hat die Sachverständige Prof. Dr. M. dargelegt, weshalb ihrer Ansicht nach von einer seit Juni 2010 nachgewiesenen obstruktiven Ventilationsstörung auszugehen sei. Weiter hat sie konkretisierende Fragen des Gerichts beantwortet, insgesamt an ihrer Einschätzung festgehalten und zu der Frage des Unterlassungszwangs ausgeführt, bei der Anwendung geeigneter Schutzmaßnahmen hätte ab 2010 theoretisch kein objektiver Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit bestanden. Die Beklagte hätte den Kläger bereits 2010 dahingehend beraten müssen. Die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit sei dem Tragen von Atemschutz unter Beachtung hygienischer Maßnahmen und Geeignetheit entsprechend den Belastungen gleichzusetzen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. November 2022 abgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung seiner Atemwegserkrankung als BK. Die angegriffenen Bescheide seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Rechtsgrundlage für die begehrte Anerkennung sei § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i. V. m. Nr. 4301 bzw. 4302 der Anlage 1 zur BKV. Berufskrankheiten seien nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erlitten. Nach Nr. 4301 gehörten dazu „Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“, nach Nr. 4302 weiterhin „Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“. (Erst) ab dem 1. Januar 2021 sei der sog. Unterlassungszwang weggefallen.

Das Gericht gehe zwar vom Nachweis obstruktiver Ventilationsstörungen im Juni und Dezember 2010 sowie im April 2015 aus. Inwieweit die damaligen vereinzelten Feststellungen jeweils nur leichter Obstruktionen geeignet seien, eine überdauernde obstruktive Atemwegserkrankung zu belegen, bleibe offen. Ebenso könne auf der Grundlage der vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer zeitlichen Kongruenz zwischen der dem Grunde nach expositionsbelasteten Tätigkeit des Klägers und dem Auftreten von Krankheitserscheinungen ausgegangen werden. Nachdem der Kläger im Rahmen der Untersuchung in der Thoraxklinik Heidelberg im Juni 2010 auf die ausdrückliche Nachfrage einen Arbeitsplatzbezug seiner Beschwerden gerade verneint gehabt habe, erscheine die gegenteilige Angabe erstmals im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung durch die Sachverständige Prof. Dr. M. wenig plausibel. Fernliegend erscheine der Kammer die von der Sachverständigen dafür vorgebrachte Erklärung, der Kläger sei in Heidelberg nur wegen asbestbezogener Erkrankungen zur Begutachtung gewesen. Dies sei zum einen nicht richtig, denn die Thoraxklinik sei mit Schreiben der Beklagten vom 25. Mai 2010 ohne Einschränkung beauftragt worden, den Kläger ausführlich zu untersuchen und einen Bericht über Diagnose, Art und Ursache der Erkrankung zu erstatten. Bei der Ermittlung der beruflichen Exposition sei ausdrücklich auch der Kontakt zu Lösungsmitteln und Farben - sogar vor dem Asbestkontakt - angegeben worden. Insbesondere aber sei kaum denkbar, dass der Kläger (wie auch sonst erkrankte medizinischen Laien) zwischen Atemwegsbeschwerden, die auf einer durch Asbest verursachten Erkrankung beruhen könnten, und anderen hätte unterscheiden können, sodass er auch kaum derart differenziert befragt worden sein dürfte. Vielmehr erwähne die Gutachterin als geltend gemachte Beschwerden alleine „Belastungsdyspnoe, Reizhusten und chronischen Schnupfen“, wozu der Arbeitsplatzbezug abgefragt worden sei. Nicht valide erscheine auch die Aussage der Sachverständigen, Luftnot habe wohl bei dem Kläger bereits 2007 vorgelegen, die sie ausschließlich auf die Teilnahme an einer Atemgymnastik im Rahmen einer gastroenterologischen Rehabilitationsmaßnahme stütze, zu der aber keinerlei Angaben zu Lungen-/ Atembeschwerden vorgelegen hätten. Insbesondere aber sei der Kläger auch zu jenem Zeitpunkt bereits langjähriger und starker Raucher gewesen, sodass ein Bezug gerade zu Arbeitsplatzexpositionen daraus in keiner Weise geschlussfolgert werden könne.

Weitere Ermittlungen seien jedoch nicht erforderlich gewesen. Denn der Anspruch des Klägers auf Feststellung der Atemwegsbeschwerden als BK scheitere bereits an dem zusätzlichen, bis zum 31. Dezember 2020 bestehenden Erfordernis, dass die Erkrankung zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben müsste, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Damit sollten zum einen Bagatellerkrankungen von der Anerkennung ausgeschlossen und zum anderen das Verbleiben in der gefährdenden Umgebung mit dem Risiko der Leidensverschlimmerung mit der Folge einer erhöhten Entschädigungspflicht verhindert werden (BSG vom 9. Dezember 2003 - B 2 U 5/03 R; Koch in Lauterbach, SGB VII, § 9 Rn. 202). Das Unterlassen müsse deshalb aus arbeitsmedizinischen Gründen zwingend geboten sein; andere geeignete, zumutbare und realisierbare Präventionsmaßnahmen dürften nicht ausreichen. Der Zwang sei nicht gegeben, wenn noch nicht alle geeigneten Mittel ausgeschöpft worden seien, die aus arbeitsmedizinischer Sicht sicherstellen könnten, dass der Versicherte die Tätigkeit ungefährdet ausüben könne. Außerdem müsse die gefährdende Tätigkeit auch tatsächlich endgültig und in vollem Umfang aufgegeben werden (Koch a. a. O. Rn. 202a m. w. N.).

Ungeachtet der langen Phasen der Arbeitsunfähigkeit des Klägers seit 2012 habe er vor Eintritt in die Altersrente zum Januar 2014 seine Tätigkeit jedenfalls tatsächlich nicht endgültig und in vollem Umfang aufgegeben gehabt. Das zeigten die - wenngleich jeweils nur kürzeren - Phasen von März bis Mai 2012, im Januar/ Februar 2013 und ab Mitte Oktober 2013, in denen keine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen und das Arbeitsverhältnis fortbestanden habe. Insbesondere aber sei nach der auf Nachfrage des Gerichts konkretisierten, nunmehr eindeutigen Aussage der Sachverständigen Prof. Dr. M. in ihrer Stellungnahme vom 20. Februar 2022 die Unterlassung arbeitsmedizinisch nicht objektiv erforderlich gewesen. Nachdem die Sachverständige in ihren vorherigen Expertisen auf die Frage nach dem Unterlassungszwang jeweils lediglich auf die Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen bzw. Aussagen des Klägers und des kaufmännischen Leiters des Beschäftigungsunternehmens abgestellt und erklärt gehabt habe, die Berufstätigkeit sei „wegen Beschwerden im Bereich des Muskel-Skelett-Apparates und Luftnot“ beendet worden, habe sie auf die gerichtliche Nachfrage nunmehr wie erforderlich eigenständig sachverständig die Notwendigkeit der Arbeitsaufgabe beurteilt. Dabei sei sie zu dem Ergebnis gelangt, dass „ab 2010 theoretisch kein objektiver Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit bestanden“ habe. Sie habe dies nachvollziehbar damit begründet, dass bei Anwendung geeigneter Schutzmaßnahmen wie dem Tragen von Atemschutz und auch der Empfehlung zur Anwendung von Hautschutz der Eintritt und die Ausprägung der Schwere der chronischen Bronchitis hätte verzögert bzw. möglicherweise sogar verhindert werden können. Die Kammer schließe sich ihren Ausführungen an. Sie erschienen insbesondere auch deshalb nachvollziehbar, weil der Kläger selbst ohne die Schutzmaßnahmen ausgesprochen selten ärztliche Behandlung wegen Atemwegsbeschwerden in Anspruch genommen habe, auch nur sehr selten und in mehrjährigen Abständen (1994, 2000, 2009) deswegen arbeitsunfähig gewesen sei, was eher mit üblichen Infekten als mit arbeitsstoffbedingter Belastung vereinbar erscheine. Erstmals im Rahmen der letzten Langzeiterkrankung von Februar bis Oktober 2013 werde neben diversen orthopädischen Diagnosen und einer Hypertonie auch eine COPD erwähnt. Dass dennoch die Unterlassung der Tätigkeit zwingend erforderlich gewesen wäre, sei nicht erkennbar. Unerheblich sei dabei für den Anspruch auf Feststellung einer BK, dass die von der Sachverständigen angeregten Maßnahmen tatsächlich nicht ergriffen worden seien und eine entsprechende Beratung durch die Beklagte nicht erfolgt sei. Denn es komme ausschließlich darauf an, ob alle aus arbeitsmedizinischer Sicht geeigneten Mittel ausgeschöpft worden seien. Weshalb dies gegebenenfalls nicht erfolgt sei, sei nicht ausschlaggebend. 

Nicht gefolgt werden könne der Sachverständigen in ihrer - rechtlichen - Einschätzung, die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit sei dem Tragen von Atemschutz unter Beachtung hygienischer Maßnahmen und Geeignetheit entsprechend den Belastungen gleichzusetzen. Eine Gleichstellung komme - in eng begrenzten Ausnahmefällen - allenfalls dann in Betracht, wenn durch persönliche Schutzausrüstung und/oder technische Schutzeinrichtungen zwar nicht die Tätigkeit, aber die schädigende Einwirkung tatsächlich vollständig beendet werden könnte (vgl. Koch in Lauterbach, SGB VII, § 9 Rn. 202a). Die Schutzmaßnahmen müssten das verfolgte Ziel der Gefährdungsprävention ebenso gut erreichen können wie die Aufgabe der Berufstätigkeit selbst. Erforderlich wäre, dass der Arbeitsplatz so umgestaltet werde, dass die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlichen Faktoren vollständig und dauerhaft ausgeschaltet seien (BSG vom 9. Dezember 2003 - B 2 U 5/03 R). Dem hätten die von der Sachverständigen angeregten Präventionsmaßnahmen zweifelsohne nicht entsprochen. Sie seien vielmehr solche, die nicht der vollständigen Unterlassung gleichgestanden, sondern den Unterlassungszwang gerade vermieden hätten. Letztlich komme es darauf allerdings deshalb nicht an, weil tatsächlich kein Atemschutz getragen und die Exposition deshalb nicht einmal verringert, geschweige denn ausgeschlossen worden sei.

Auch für die Zeit ab dem 1. Januar 2021, als die Voraussetzung des Unterlassungszwangs entfallen gewesen sei, habe der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung einer Erkrankung als BK. Insoweit habe die Sachverständige Prof. Dr. M. in ihrem „Abschließenden Gutachten“ vom 28. September 2021 nach Auswertung auch der zusätzlich durch das Gericht beigezogenen umfangreichen Unterlagen ausgeführt, dass zunächst - während der gefährdenden beruflichen Tätigkeit und für eine etwa dreijährige Karenzzeit danach - eine Mitverursachung der Atemwegsbeschwerden des Klägers durch die berufliche Exposition neben der Belastung mit Zigarettenrauch anzunehmen sei. Ab April 2015 hätte sich dann eine eindeutige Besserung, sogar eine Beendigung des obstruktiven Atemwegsleidens, ergeben. Weder der bis dahin behandelnde Hausarzt noch der „Pulmologe“ seien wegen einer Bronchitis oder einer Verengung der Bronchien konsultiert worden, es seien ärztlicherseits weder atemwegsspezifische Medikamente verschrieben noch Untersuchungen der Atemwege notwendig geworden. Jedoch läge auch nach der Beendigung der beruflichen Einwirkungen weiterhin eine Belastung mit Zigarettenrauch vor, deren Anfang, endgültiges Ende und Pausen im Verfahrensverlauf erheblich unterschiedlich angegeben worden seien. Ein Infekt als radiomorphologisch nachgewiesene Lungenentzündung im März/April 2019 und das fortdauernde Zigarettenrauchen hätten die klinisch stumme, nicht mehr ärztlich therapiebedürftige Bronchitis kurzzeitig wieder auflodern lassen. Dies gehe nach den Ausführungen der Sachverständigen allerdings allein zulasten des Zigarettenkonsums und des Infekts. Angesichts keinerlei erkennbarer Beschwerden oder Behandlungsbedürftigkeit über einen Zeitraum von vier Jahren seit April 2015, des Endes jeglicher beruflichen Exposition spätestens seit Januar 2014 und bereits zuvor aufgrund der langen Arbeitsunfähigkeitsphasen sehr eingeschränkten Belastung sei diese Einschätzung für die Kammer ohne Weiteres nachvollziehbar. Sie schließe sich den Ausführungen der Sachverständigen, die die BK (ungeachtet des nicht bestandenen Unterlassungszwangs) nur für den Zeitraum bis Ende 2015 eingeschätzt habe, daher an, ohne dass es auf das genaue Ende ankäme. Jedenfalls bestünde im hier fraglichen Zeitpunkt des Wegfalls der Voraussetzung des Unterlassungszwangs ab Januar 2021 keine Atemwegserkrankung des Klägers mehr, die wesentlich auf die frühere berufliche Belastung zurückgeführt werden könnte. Eine BK sei deshalb auch ab diesem Zeitpunkt nicht festzustellen.

Der Kläger hat am 24. Mai 2023 Berufung gegen das ihm am 24. April 2023 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Marburg bei dem Hessischen Landessozialgericht erhoben. Zur Begründung hat er sein Vorbringen von zuvor wiederholt und auf die besondere Expertise von Prof. Dr. M. die hier streitgegenständlichen BKen betreffend hingewiesen, die eine berufliche Mitverursachung seiner Atemwegserkrankung angenommen habe. Da er die gefährdende Tätigkeit unstreitig aufgegeben habe, erübrige sich die Diskussion um den Zwang zur Aufgabe.

Der Kläger beantragt wörtlich,
unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Marburg vom 23. November 2022, zu dem Aktenzeichen S 3 U 52/16, zugestellt am 24. April 2023, wird die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 17. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2010 abzuändern und die Beklagte wird verpflichtet, die Berufskrankheiten Nr. 4301 und 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und zu entschädigen, insbesondere in Form der Verletztenrente und gegebenenfalls der Übergangsleistungen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Das Sozialgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Die Berufungsbegründung enthalte keinen weitergehenden Vortrag, der nicht bereits in der erstinstanzlichen Entscheidung berücksichtigt worden sei. 

Die Beteiligten haben sich schriftsätzlich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. 

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zu dem Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene (§§ 143, 151 SGG) Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, soweit ein Anspruch auf Anerkennung einer BK verneint wurde. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.

Zunächst ist die Klage unzulässig, soweit der Kläger über die Feststellung der BK hinaus auch die Gewährung von Versicherungsleistungen (Verletztenrente, Übergangsleistungen) geltend macht. Über die Gewährung von Sozialleistungen, wie die Verletztenrente, ist vor Klageerhebung in einem Verwaltungsverfahren zu befinden, das mit einem Verwaltungsakt abschließt, gegen den die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage oder Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig ist (§ 54 Abs. 1, 2, 4 SGG). Vorliegend hat die Beklagte in dem angefochtenen Ausgangsbescheid, der allerdings vom 17. August 2010 und nicht vom 17. Oktober 2010 datiert, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2010 nur über die Nichtanerkennung einer BK bei dem Kläger entschieden. Die darüber hinausgehende abstrakte Feststellung, dass  „Entschädigungsleistungen wegen einer Atemwegserkrankung“ nicht zu gewähren seien, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn eine konkrete Entscheidung in Bezug auf eine Verletztenrente oder Übergangsgeld wurde insoweit nicht getroffen, die Leistungen selbst auch mit gar keinem Wort erwähnt. Mit der pauschalen Leistungsablehnung sollten nur allgemein die Folgerungen beschrieben werden, die sich aus der Nichtanerkennung einer BK ergeben. Eine Entscheidung über einzelne konkrete Leistungsansprüche war damit nicht verbunden. Stattdessen handelt es sich bei diesen Ausführungen des Bescheids um einen bloßen Textbaustein ohne Regelungsgehalt (BSG vom 16. Novembert 2005 - B 2 U 28/04; BSG vom 16. März 2021 - B 2 U 7/19 R und B 2 U 17/19 R). Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist damit alleinig die Feststellung einer BK. Nachdem die Beklagte eine Entschädigung schon dem Grunde nach abgelehnt hatte, weil kein Versicherungsfall eingetreten sei, konnte es dem Kläger in der Sache daher zunächst nur um die Anerkennung seiner Erkrankung als BK, also um die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses, aus dem im weiteren Verlauf gegebenenfalls Leistungsansprüche abgeleitet werden können, gehen. Die Gewährung konkreter Entschädigungsleistungen - hier einer Verletztenrente und Übergangsleistungen - wegen dieser BK ist aus den genannten Gründen nicht streitgegenständlich, die hierauf gerichtete Klage in Ermangelung einer gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG anfechtbaren Entscheidung der Beklagten unzulässig (zum Ganzen siehe auch BSG vom 7. September 2004 - B 2 U 35/03 R; BSG vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R). 

Die darüber hinaus zulässige Klage ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 17. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2010 ist materiell rechtmäßig. Eine Berufskrankheit liegt weder nach der Nr. 4301 noch nach der Nr. 4302 vor.

Das Sozialgericht hat die Sach- und Rechtslage zutreffend bewertet und seine Entscheidung über den dokumentierten Verwaltungsvorgang der Beklagten hinaus auf das Ergebnis des von Amts wegen bei Prof. Dr. M. eingeholten Sachverständigengutachten vom 10. Februar 2020 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 28. September 2021 und 20. Februar 2022 gestützt. Der Senat sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und verweist auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG), denen er sich nach eigener sorgfältiger und umfassender Prüfung vollumfänglich anschließt. 

Die tragenden Entscheidungsgründe fasst der Senat der Vollständigkeit halber nochmals zusammen:

Die Anerkennung sowohl der BK Nr. 4301 als auch der BK Nr. 4302 nach der Anlage 1 zur BKV erfordert in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung - neben anderen BK-spezifischen Voraussetzungen - jeweils obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“.

Ungeachtet der Frage des Vorliegens eines medizinischen Krankheitsbildes in diesem Sinne liegt bei dem Kläger für die Zeit vor dem 1. Januar 2021 bereits deshalb keine BK der Nrn. 4301 / 4302 vor, weil sich auch der Senat nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger aufgrund seiner Atemwegserkrankung gezwungen gewesen wäre, seine Tätigkeit als Maler, Anstreicher und Lackierer aufzugeben. Das auf der Ermächtigung in § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII fußende, noch in einer Reihe weiterer BK-Tatbestände bis zum 31. Dezember 2020 gleichlautend verwandte Merkmal des Zwangs zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten setzt regelmäßig voraus, dass die Tätigkeit, die zu der Erkrankung geführt hat, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden soll und dass der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich aufgegeben hat und unterlässt bzw. nicht (wieder) aufnimmt. Die Entschädigungspflicht tritt bei einer BK mit Unterlassungszwang nicht schon mit dem Auftreten der beruflich verursachten Erkrankung, sondern erst dann ein, wenn alle Tatbestandsmerkmale der BK, also auch die Aufgabe der belastenden Tätigkeit, erfüllt sind (BSG vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 12/06 R). Grundsätzlich liegt ein Unterlassungszwang demnach nicht vor, wenn dem Unterlassen durch geeignete Schutzmaßnahmen begegnet werden kann. Ausnahmsweise ist ein Unterlassungszwang gleichwohl zu bejahen, wenn zur Zeit des Wirksamwerdens von Schutzmaßnahmen die BK bereits die Erwerbsfähigkeit mindernde Folgen hatte (BSG vom 9. Dezember 2003 - B 2 U 5/03 R). Der Unterlassungszwang hat dabei zwei Funktionen: Zum einen soll damit eine typisierende Festlegung des Schweregrades der Krankheit erfolgen, um Bagatellerkrankungen, auch wenn sie kausal auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen sind, von einer Anerkennung und Entschädigung als BK auszuschließen. Vor allem aber soll ein Verbleiben des Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz verhindert und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit mit der Folge einer erhöhten Entschädigungspflicht verhütet werden. Der zuletzt genannte Zweck wird nicht nur dann erreicht, wenn der Versicherte seine Berufstätigkeit aufgibt, sondern auch dann, wenn die schädigenden Einwirkungen am Arbeitsplatz durch geeignete Schutzmaßnahmen beseitigt werden und deshalb die Gefahr einer Verschlimmerung oder des Wiederauflebens der Krankheit durch Fortsetzung der Berufstätigkeit nicht mehr droht (BSG vom 9. Dezember 2003 – B 2 U 5/03 R; LSG Berlin-Brandenburg vom 15. März 2012 - L 3 U 55/09, siehe dazu auch schon das Senatsurteil vom 30. April 2021 - L 9 U 169/19). 

Dies zugrunde gelegt lässt sich ein Unterlassungszwang bei dem Kläger nicht annehmen. Ein solcher ist den vorgenannten Grundsätzen folgend zu verneinen, wenn die Krankheit zwar bereits ausgeprägt ist, dies jedoch noch nicht dauerhaft, weil es noch geeignete Maßnahmen medizinischer und/oder arbeitsfördernder Natur gibt, sie zu heilen oder die gefährdenden Elemente der Tätigkeit so umfassend auszuschließen (zu neutralisieren), dass sie keinerlei gefährdende Auswirkungen mehr zeitigen. Denn dann besteht noch keine arbeitsmedizinische Notwendigkeit, die gefährdende Tätigkeit zu unterlassen (BSG vom 22. März 2011 - B 2 U 4/10 R). Bei der Frage, ob eine gefährdende Tätigkeit zu unterlassen ist, ist der Senat auf medizinischen Sachverstand angewiesen. 

Der Senat folgt insoweit den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. M., die einen Unterlassungszwang nachvollziehbar unter Hinweis auf unzureichende Arbeitsschutzmaßnahmen in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 20. Februar 2022 verneint hat. Bei der Anwendung geeigneter Schutzmaßnahmen, z. B. bei einwandfreiem Tragen von Atemschutz, habe hiernach ab 2010 theoretisch kein objektiver Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit bestanden. Diese Maßnahmen hätten den Eintritt und die Ausprägung der Schwere der chronischen Bronchitis (wie z. B. eitrige Bronchitis) verzögert bzw. möglicherweise sogar verhindert. Dies zugrunde legend bestand gerade kein Unterlassungszwang. Der objektive Zwang zur Tätigkeitsaufgabe kann erst dann bejaht werden, wenn alle zumutbaren und erfolgversprechenden Möglichkeiten der Abhilfe ausgeschöpft sind (LSG Saarland vom 25. Mai 2011 - L 2 U 1/10; LSG Berlin-Brandenburg vom 16. August 2005 - L 2 U 7/04; LSG Nordrhein-Westfalen vom 28. September 2005 - L 17 U 2/04; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auf. 2017, S. 74 <Vorauflage>; „Empfehlung für die Begutachtung der Berufskrankheiten der Nummern 1315, 4301 und 4302 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung“ des Spitzenverbandes der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung < Reichenhaller Empfehlung, Stand 2012 >, Kap. 4.7). Dies war vorliegend jedoch gerade nicht der Fall. 

Auf die darüber hinaus fallbezogen weiteren Fragen, ob aus den lediglich vereinzelten Befunden einer obstruktiven Atemwegserkrankung, in mehrjährigen Abständen erhoben, überhaupt auf eine überdauernde Erkrankung geschlossen werden kann und ob und gegebenenfalls in welcher Intensität ein Arbeitsplatzbezug der Beschwerden für die Feststellung der BK Nrn. 4301/4302 erforderlich ist, kommt es bei dieser Sachlage nicht mehr an. Das Sozialgericht hat all dies zu Recht offengelassen.

Für die Zeit nach Wegfall des Unterlassungszwangs nach dem 31. Dezember 2020 fehlt es bereits an den arbeitsmedizinischen Voraussetzungen, da ein dem BK-Tatbestand unterfallendes Krankheitsbild nicht (mehr) im Vollbeweis gesichert ist. 

Bei dem Kläger wurden zwar unstreitig Erkrankungen der unteren Atemwege diagnostiziert. An konkreten Funktionsstörungen der Atemwege lagen bis Ende 2015 zur Überzeugung des Senats eine behandlungsbedürftige chronische Bronchitis und Obstruktion mit Reversibilität und eine unspezifische bronchiale Hyperreagibilität vor. Gesichert wurde diese Diagnose erstmals im Juni 2010 (Bericht mit Lungenfunktionsprüfung Thorax Klinik Heidelberg vom 18. Juni 2010). Die abweichende medizinische Bewertung des Krankheitsbildes von der Beratungsärztin der Beklagten Dr. L., u. a. in deren Stellungnahme vom 16. November 2021 (bronchiale Hyperreagibilität bzw. höchstens sehr leichte obstruktive Ventilationsstörung), teilt der Senat ausdrücklich nicht. Eine Befundverbesserung ergab sich nach 2015, die Prof. Dr. M. - ohne, dass es darauf ankäme - auf die völlig fehlende inhalative Belastung mit chemisch-irritativ/toxischen Substanzen am Arbeitsplatz seit 2012/2013 zurückführt. In ihrer Expertise führt die Sachverständige dazu aus, dass nach Aufgabe der Einwirkung mit Berufsstoffen nach etwa dreijähriger Karenzdauer ab April 2015 bis März 2019 eine eindeutige Besserung, sogar Beendigung des obstruktiven Atemwegsleidens festzustellen gewesen sei. Weder der bisher behandelnde Hausarzt noch der „Pulmologe“ seien von dem Kläger wegen einer Bronchitis oder einer Verengung der Bronchien konsultiert worden, auch seien ärztlicherseits weder atemwegsspezifische Medikamente verschrieben worden noch Untersuchungen der Atemwege notwendig gewesen. Den stattgehabten Infekt im März / April 2019 als radiomorphologisch nachgewiesene Pneumonie führt die Sachverständige konsequent und höchst nachvollziehbar entsprechend auf das fortdauernde Zigarettenrauchen zurück, das die klinisch stumme, nicht mehr ärztlich therapiebedürftige Bronchitis kurzzeitig habe auflodern lassen. Im Dezember 2019 sei (wieder) nur noch eine grenzwertige, auf Reize reagierende Obstruktion nachweisbar gewesen.

Im Ergebnis hat damit zum 1. Januar 2021 als maßgeblichem zweiten Beurteilungszeitpunkt für die Frage der Feststellungsfähigkeit der BK Nrn. 4301/4302 jedenfalls keine obstruktive Atemwegserkrankung mehr vorgelegen. Auch dies hat das Sozialgericht gestützt auf das medizinische Berichtswesen und die Würdigung der Befunde, insbesondere durch Prof. Dr. M., sehr klar und nachvollziehbar herausgestellt. Der Senat teilt diese Beweiswürdigung uneingeschränkt. 

Nach allem liegen die Voraussetzungen für die Feststellung der begehrten BKen nicht vor, so dass die Berufung gegen das den Klageanspruch abweisende Urteil zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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