L 1 U 2482/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 1032/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2482/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29.11.2007 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) nach der Ziff. 2301 (Lärmschwerhörigkeit) der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Streit.

Der 1959 in Polen geborene Kläger arbeitet seit 1990 bei der Firma N. in S. als Betriebsschlosser und ist seit dem Jahr 2000 mit Hörgeräten versorgt. Vor seinem Zuzug nach Deutschland im Jahr 1990 arbeitete der Kläger in Polen vom 26.06.1978 bis zum 21.04.1980 in einem Bergwerk, vom 01.10.1981 bis zum 31.07.1988 als Mechaniker in der Landwirtschaft und vom 10.08.1988 bis zum 24.01.1990 als LKW-Fahrer.

Mit Schreiben vom 26.07.2004 zeigte Dr. B. den Verdacht auf das Vorliegen einer beruflich bedingten Schwerhörigkeit an. Der Kläger habe eine seit vielen Jahren zunehmende Schwerhörigkeit und Ohrgeräusche beklagt. Am 26.08.2004 zeigte auch der Arbeitgeber des Klägers den Verdacht auf eine beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit an. Der Kläger sei in der Schlosserei und in der Fertigungshalle des Unternehmens Lärm ausgesetzt, wenn er Maschinen, unter anderem auch Druckluftgeräte, warte. Am Arbeitsplatz seien Messungen vorgenommen und Gehörschutz ausgehändigt worden.

Der Kläger gab am 07.03.2005 gegenüber dem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten an, erstmalig 1982 Probleme mit seinem Gehör gehabt zu haben, nachdem er seine Tätigkeit im Kohlebergwerk beendet hatte. Am Arbeitsplatz des Klägers bei der Firma N. ermittelte die Beklagte einen durchschnittlichen entfernungsabhängigen Schalldruckpegel von 86 Dezibel (dB[A]), woraus sich ein Risikomaß "nach von Lüpke" in Höhe von 2,5 ergebe.

Der HNO-Arzt Dr. B ... gab am 22.03.2005 an, dass sich aus dem Sprachaudiogramm rechts ein zentraler Hörverlust von 40 % und links von 60 % ergebe. Bei einer ersten Untersuchung im Jahre 1998 seien eine Sinusitis maxilaris links sowie eine Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits im Hochtonbereich festgestellt worden. Der Kläger sei damals mit Hörgeräten beidseits versorgt worden und habe sich danach sieben Jahr nicht mehr vorgestellt, allerdings seien nach Angaben des Klägers regelmäßige Hörkontrollen durch die Berufsgenossenschaft erfolgt. Die Befunde des 2005 erhobenen Tonaudiogramms seien gegenüber dem Tonaudiogramm von 1998 unverändert.

Im Gutachten von Prof. Dr. J. vom 31.08.2005 ist angegeben, dass der Kläger in den Jahren 1980 und 1981 seinen Wehrdienst bei den Pionieren der polnischen Armee abgeleistet und dort teilweise an Sprengungen teilgenommen habe. Der Kläger habe angegeben, bei der Firma N. anfänglich Gehörschutzkapseln und später dann Gehörschutzstöpsel "recht konsequent" verwendet zu haben. Bei allen Tätigkeiten zuvor in Polen hätten solche Mittel nicht zur Verfügung gestanden. Erstmalig sei 1982 bei einer allgemeinen Gesundheitsprüfung eine Hörminderung aufgefallen. Seit dieser Zeit habe seine Schwerhörigkeit kontinuierlich zugenommen. Schon bei seinem Zuzug nach Deutschland habe er Gesprächen mit Nebengeräuschen oder in größeren Gruppen nicht mehr gut folgen können. Jetzt könne er an Diskussionen überhaupt nicht mehr teilnehmen. Inzwischen hätten sich auch konstante hohe Pfeiftöne eingestellt. Audiometrisch sei bei dem Kläger eine weitgehend symmetrische reine Schallempfindungsschwerhörigkeit beiderseits mittelgradigen Ausmaßes festgestellt worden. Die überschwelligen Teste sprächen für eine cochleäre Verursachung dieser Schwerhörigkeit. Ein Tinnitus habe beiderseits objektiviert werden können. Erkrankungen, welche in Verbindung mit der Schwerhörigkeit diskutiert werden müssten, seien nicht feststellbar. Nach der Tabelle von Lüpke (1975) sei ein Risikomaß 3 für die Entstehung einer entschädigungspflichtigen Lärmschwerhörigkeit anzunehmen, wonach die Entstehung einer solchen Erkrankung nicht völlig auszuschließen sei. Gegen eine berufliche Verursachung spreche jedoch zunächst die Tatsache, dass der Kläger bereits nach etwa 2,5-jähriger Berufslärmbelastung eine messbare und subjektiv auch beginnend merkbare Schwerhörigkeit gehabt habe, welche sich innerhalb so kurzer Zeit nicht hätte entwickeln können. Auch wenn exakte Lärmbelastungsdaten für die gesamte Zeit des Erwerbslebens des Klägers nicht vorhanden seien, habe zunächst lediglich ein grenzwertiger Beurteilungspegel von 86 db(A) vorgelegen, dem auch noch durch konsequente Verwendung von Gehörschutzmitteln begegnet worden sei. Schließlich sei auch keine für eine Lärmschwerhörigkeit typischerweise vorliegende "c5-Senke" erkennbar, da der Kläger bereits eine in den tiefen und mittleren Frequenzen in hohem Maße vorhandene Schwerhörigkeit aufweise. Es sei daher ausreichend wahrscheinlich, dass die Schwerhörigkeit des Klägers nicht durch beruflichen Lärm verursacht worden sei.

Mit Bescheid vom 08.11.2005 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Ziff. 2301 der Anlage zur BKV unter Hinweis auf die Feststellungen von Prof. Dr. J. und des Technischen Aufsichtsdienstes ab. Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung seien aufgrund der Schwerhörigkeit des Klägers nicht zu erbringen.

Seinen Widerspruch vom 10.12.2005 begründete der Kläger damit, dass bereits nach 2,5-jähriger Berufstätigkeit ein Verdacht auf Schwerhörigkeit aufgetreten sei, dieser sich aber bei einer gründlichen Untersuchung zunächst nicht bestätigt habe. Erst im Jahre 1999/2000 sei dann der Bedarf nach einer Versorgung mit einem Hörgerät festgestellt worden. Der tägliche Lärm an seinem Arbeitsplatz übersteige einen Pegel von 90 db(A); im Übrigen sei an seinem Arbeitsplatz in der Schlosserei der Lärm nicht gemessen worden. Der Kläger legte seinem Widerspruch einen Lärmschutzbericht vom 18.08.2004 bei, wonach den Maschinen am Arbeitsplatz des Klägers insbesondere Holzbearbeitungsmaschinen, Schalldruckpegel von größer als 85 db(A) attestiert werden, weswegen sich auch bei kürzeren Laufzeiten ein Gehörschutz empfehle.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die vom Kläger erhobenen Einwände seien durch die Ausführungen von Prof. Dr. J. über die berufsfremde Entstehung der Schwerhörigkeit des Klägers widerlegt.

Der Kläger hat am 16.03.2006 Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben. Die pauschale Behauptung des Prof. Dr. J., eine Lärmbelastung von zweieinhalb Jahren und mehr könne nicht zu einer Schwerhörigkeit von 25 % führen, sei nicht nachvollziehbar. Unstreitig liege beim Kläger bereits seit Beginn der Tätigkeit eine über dem Grenzwert liegende Lärmbelastung vor.

Das SG hat ein Gutachten beim dem HNO-Arzt Dr. K. eingeholt. In dem Gutachten vom 29.01.2007 ist angegeben, der Kläger habe bei der Begutachtung von erstmalig 1988 subjektiv empfundenen Hörproblemen berichtet. Diese hätten im Laufe der letzten Jahre deutlich zugenommen. Der Gutachter diagnostizierte bei dem Kläger eine beidseitige mittel- bis hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit mit Tinnitus, welche auf einem eindeutigen, vorzeitigen Innenohrabbau beruhe. Durch die Art des Tonschwellverlaufes sowie die 15-jährige Arbeit bei einem Beurteilungspegel von 86 db(A) (bei konsequentem Tragen eines Gehörschutzes) sei eine berufliche Verursachung unwahrscheinlich. Bei den beschriebenen Lärmpegeln sei eine derartige Ausprägung der Schwerhörigkeit im Bereich der tiefen und mittleren Frequenzen nicht anzunehmen. Allenfalls ein Knall- bzw. Explosionstraumata (100 db und aufwärts) könne als einmaliges Ereignis eine solche Hörkurve erklären. Insgesamt seien die beruflichen Lärmexpositionen belastend, sie könnten jedoch nicht als ursächlich angesehen werden.

Der Kläger legte eine E-Mail des HNO-Arztes Dr. M. vom 24.05.2007 vor, wonach der Hörverlust "durchaus für lärmbedingt" gehalten werde, auch wenn ihm die entsprechenden Messwerte der Beklagten zur Lärmexpertise bei seiner Beurteilung gefehlt hätten. Eine erneute Begutachtung sei sinnvoll.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.11.2007 abgewiesen. Zwar habe der TAD der Beklagten im Bericht vom 08.03.2005 festgestellt, dass der Kläger ausreichendem beruflichen Lärm ausgesetzt gewesen sei. Doch könne nach den Gutachten von Prof. Dr. J. und Dr. K. nicht von einer beruflichen Verursachung der Schwerhörigkeit ausgegangen werden. Aufgrund der festgestellten Schwerhörigkeit im Bereich der tiefen und mittleren Frequenzen liege ein gewichtiges Indiz gegen eine berufliche Lärmschwerhörigkeit vor. Hinzu komme, dass auch nach längerer Zeit noch im Falle einer Lärmschwerhörigkeit eine überwiegende Hochtonstörung feststellbar sei (unter Hinweis auf das Merkblatt des BMA zur Berufskrankheit der Ziff. 2301, in Mehrtens/Brandenburg, Die BKV, Kommentar, M 2301, Seite 2 f.). Diese medizinischen Kenntnisse hätten Dr. K. und Prof. Dr. J. gewürdigt und zutreffend auf den vorliegenden Sachverhalt angewandt, was zur Verneinung der beruflichen Verursachung geführt habe. Außerdem sei eine Schallleitungsstörung in den tieferen Frequenzen niemals durch chronische Lärmeinwirkung verursacht, worauf Dr. K. zu Recht hingewiesen habe (unter Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 417). Das Urteil ist den Bevollmächtigten des Klägers am 21.12.2007 zugestellt worden.

Am 18.01.2008 haben die Bevollmächtigten des Klägers beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt (früheres Aktenzeichen L 1 U 330 /08). Da im Tiefton- und Mitteltonbereich keine ausgeprägte Schwerhörigkeit liege, sei die festgestellte Hörstörung des Klägers noch mit einer Lärmschwerhörigkeit vereinbar. Ferner sei auch nicht auszuschließen, dass in zweieinhalb Jahren einer beruflichen Belastung eine dermaßen ausgeprägte Hörstörung auftrete. Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Versicherte wie vorliegend immer wieder Knalltraumen ausgesetzt gewesen sei mit der Folge, dass hieraus ein Hörschaden im Sinne eines Arbeitsunfalles resultieren könne. Es sei nicht nachvollziehbar, dass argumentiert werde, der Kläger sei bei Sprengungen nur einem geringen Lärm ausgesetzt gewesen. Tatsächlich sei es sehr wahrscheinlich, dass der Kläger einem weitaus größeren Lärm ausgesetzt gewesen sei, als sich aus den Akten ergebe. In dem Gutachten vom 08.12.2008 ist angegeben, dass bei dem Kläger eine beiderseitige Innenohrhochtonschwerhörigkeit vorliege, welche auf einer cochleären Haarzellschädigung beruhe. Nach dem audiologischen Bild seien die Kriterien für eine Lärmschwerhörigkeit erfüllt. Allerdings sei ausgehend von dem Lärmpegel bei der Firma N. vom 86 db(A) die Entwicklung einer entschädigungspflichtigen Lärmschwerhörigkeit nach von Lübke (Risikomaß 2,5) lediglich unwahrscheinlich bis nicht völlig auszuschließen. Der nahezu deckungsgleiche Verlauf der verschiedenen Hörschwellenaudiogramme von 1998 bis 2008 dokumentiere die gute Mitarbeit des Kläger bei allen Untersuchungen.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers hat das LSG ein weiteres Gutachten bei Prof. Dr. H. eingeholt. In dem Gutachten vom 08.12.2008 ist als Diagnose eine gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit angegeben. Die überschwelligen Hörteste belegten das Vorliegen einer cochleären Haarzellschädigung, welche Ursache der beiderseitigen Innenohrhochtonschwerhörigkeit sei. Nach dem audiologischen Bild seien die Kriterien für eine Lärmschwerhörigkeit erfüllt. Jedoch folge aus dem deckungsgleichen Verlauf der Hörschwellenaudiogramme seit 1998, dass seit 1998 eine Zunahme der Schwerhörigkeit ausgeschlossen werden könne, was auch der HNO-Arzt Dr. B. bereits mitgeteilt habe. Dies bedeute darüber hinaus, dass beim Vorliegen einer gehörschädigenden Lärmexposition am Arbeitsplatz die Schwerhörigkeit bereits innerhalb der Zeit vom 19.11.1990 bis zum 24.02.1998 eingetreten sein müsse. Das Vorliegen des Schwerhörigkeitsbildes könne aber nicht auf eine Lärmexposition von 86 db(A) innerhalb von sieben Jahren und drei Monaten zurückgeführt werden. Es sei darauf hinzuweisen, dass bei einer zehnjährigen Lärmexposition von 90 db(A) nur in 10 % der Fälle und bei einer zwanzigjährigen Lärmexposition von 90 db(A) nur in 16 % der Fälle eine Lärmschwerhörigkeit auftrete. Eine deutlich höhere Lärmexposition könne auch deswegen nicht zugrunde gelegt werden, da in dem Zeitraum von 1998 bis 2008 eine Hörverschlechterung nicht eingetreten sei.

Der Kläger trat den Ausführungen des Gutachtens mit der Begründung entgegen, dass er in den Jahren 1991 bis 1998 zahlreiche Überstunden abgeleistet habe, welche in den Jahren 1991 und 1993 Spitzenwerte von 13 bis 14 Arbeitsstunden täglich erreicht hätten. Der Kläger legte eine Auflistung seiner Überstunden vor, welche er auch durch die entsprechenden Zeitnachweise belegen könne.

In einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme hierzu vertrat der Gutachter Prof. Dr. H. die Auffassung, dass aufgrund der von dem Kläger in der Zeit von 1991 bis 1998 nunmehr vorgetragenen 5040 Überstunden ein zusätzlicher belastender Arbeitszeitraum von drei Jahren zu berücksichtigen sei. Dies ändere nach den Tabellen von Lüpke jedoch nichts daran, dass bei den alternativ zugrunde zu legenden zehn belastenden Arbeitsjahren mit einer Lärmexposition von 86 db(A) auch weiterhin die Entwicklung eines Schwerhörigkeitsbildes im entschädigungspflichtigen Ausmaß unwahrscheinlich sei (Risikomaß 2). Im Übrigen sei eine derartige Rechnung unter Zugrundelegung der biologischen Statistiken nicht sinnvoll, da er bereits ausgeführt habe, dass sich bei einer zehnjährigen Lärmexposition von 90 db(A) nur bei 10 % der Betroffenen eine Lärmschwerhörigkeit entwickele. Es sei bereits ausführlich dargestellt worden, dass sich das Gehör des Klägers zwischen 1998 und der Begutachtung am 18.11.2008 nicht verändert habe. Dies unterstreiche, dass in einem Zeitraum von 10 Jahren mit oder ohne Überstunden eine Hörverschlechterung nicht eingetreten sei. Dies bedeute auch, dass die Lärmexposition nach dem 24.02.1998 selbst bei einem vorgeschädigten Ohr nicht zu einer Hörverschlechterung geführt habe. Damit sei es auch nicht wahrscheinlich zu machen, dass in dem Zeitraum von 7,3 Jahren - bzw. mit Überstunden von 10 Jahren - zuvor die stattgehabte Lärmexposition zu einer gering- bis mittelgradigen Lärmschwerhörigkeit geführt haben könne.

Auf Nachfrage durch den Berichterstatter hat die Beklagte erklärt, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die beruflichen Lärmbelastungen des Klägers im Ausland bisher nicht berücksichtigt worden seien. Mit Beschluss vom 26.05.2009 ist auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden, um der Beklagten die Möglichkeit zu diesbezüglichen Nachforschungen in Polen zu geben.

Die Beklagte hat zunächst eine Stellungnahme des TAD vom 28.04.2009 vorgelegt, wonach unter Berücksichtigung der vom Kläger in Deutschland abgeleisteten Überstunden ein Risikomaß nach von Lüpke von 2,8 ermittelt worden sei.

Am 26.05.2010 hat die Beklagte das Berufungsverfahren wieder angerufen (aktuelles Aktenzeichen L 1 U 2482/10) und über das Ergebnis ihrer weiteren Ermittlungen in Polen berichtet, wonach bei allen Tätigkeiten eine Lärmgefährdung im Sinne der geltend gemachten BK festgestellt worden sei. Für die Tätigkeit vom 26.06.1978 bis zum 21.04.1980 in der Steinkohlengrube Sosnica in Gliwice ist bei einer Vor-Ort-Ermittlung vergleichbarer Arbeitsplätze eine Lärmbelastung zwischen 85 und 89 dB(A) ermittelt worden, für die Tätigkeit vom 01.10.1981 bis zum 31.07.1988 als Mechaniker in der Landwirtschaft eine Lärmbelastung von 87 dB(A) und für die Tätigkeit vom 10.08.1988 bis zum 24.01.1990 als LKW-Fahrer ein Lärmexpositionspegel von 85 - 88 dB(A).

Die Beklagte hat eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. J. vom 19.04.2010 vorgelegt, wonach die beruflichen Lärmbelastungen des Klägers nunmehr lückenlos ermittelt worden seien und der aktuellen Berechnung 24 Jahre und 8 Monate mit lärmbelastenden Tätigkeiten zugrunde zu legen seien. Damit erreiche der Kläger ein Risikomaß nach von Lüpke zwischen 3 und 4, wonach die Entstehung einer entschädigungspflichtigen Lärmschwerhörigkeit "nicht völlig auszuschließen" und möglicherweise an der Grenze zu "möglich" sei. Unklar sei jedoch, wann der Kläger erstmalig an Hörproblemen gelitten habe, weil hierzu von ihm die Jahre 1982 (bei der ersten Begutachtung) und 1996 (bei der Begutachtung durch Prof. Dr. H.) angegeben worden seien. Die seit 1998 vorliegenden Tonaudiogramme, die weitgehend deckungsgleich seien, seien jedenfalls nicht lärmtypisch, wozu Prof. Dr. J. auf die Hörverluste in den Tieftonbereichen ab 125 Hertz (Hz), den Schrägverlauf der ab hier zunehmenden Schwerhörigkeit und das Fehlen eines Hörverlustmaximums bei 4 Kilohertz (kHz; sogenannte c5-Senke) verwiesen hat. Sofern die Höraudiogramme auch Hörverschlechterungen belegten, die mit einer Lärmgefährdung vereinbar seien, seien diese von den nachgewiesenen lärmunabhängigen Hörverlusten nicht abgrenzbar, weswegen eine BK nicht anerkannt werden könne.

Im Auftrag des LSG hat Prof. Dr. Maier am 16.11.2010 ein aktuelles Sachverständigengutachten erstellt, in welchem er das Vorliegen einer beruflich erworbenen Lärmschwerhörigkeit verneint und den Vorgutachtern zugestimmt hat. Das nach von Lüpke auch unter Berücksichtigung der Überstunden ermittelte Risikomaß von 2,8 sei gering. Der Schwellenverlauf der Höraudiogramme sei lärmuntypisch. Außerdem wäre bei einer beruflich bedingten Lärmschwerhörigkeit nicht zu erklären, weswegen bei seit 1990 gleichbleibender Tätigkeit für die Firma N. die Hörverschlechterung sich zwischen 1990 und 1998 entwickelt haben solle, aber ab 1998 eine Verschlechterung trotz anhaltender Lärmbelastung nicht mehr stattgefunden habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29.11.2007 und den Bescheid der Beklagten vom 08.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.02.2006 aufzuheben und die Beklage zu verurteilen, das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Ziffer 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das angegriffene Urteil für zutreffend.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG und die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Senat hat vorliegend mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner Schwerhörigkeit als beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit nach der Ziff. 2301 der Anlage 1 zur BKV.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch). Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze der MdE zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente, wobei die Folgen eines Versicherungsfalls nur zu berücksichtigen sind, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 v.H. mindern (§ 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB VII).

Für die Anerkennung einer BK ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Sowohl hinsichtlich der haftungsbegründenden als auch hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSGE 45, 286), d.h. es müssen die für einen ursächlichen Zusammenhang sprechenden Umstände deutlich überwiegen. Ein Kausalzusammenhang ist insbesondere nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Lässt sich ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten dessen, der einen Anspruch aus dem nicht wahrscheinlich gemachten Kausalzusammenhang für sich herleitet (BSGE 19, 52, 53; 30, 121, 123; 43, 110, 112; BSG Urt. vom 28.03.2003 B 2 U 33/03 R).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist die Schwerhörigkeit des Klägers nicht als Berufskrankheit nach der Ziffer 2301 der Anlage zur BKV anzuerkennen. Alle beteiligten Gutachter vertreten übereinstimmend die Auffassung, dass der Kläger trotz seiner als lärmgefährdend einzuschätzenden Beschäftigungen eine Schwerhörigkeit aufweist, die nicht durch die berufliche Belastung mit Lärm verursacht worden ist. Hierzu weisen sie überzeugend auf die vorliegenden Tonaudiogramme hin, die wegen ihrer im Wesentlichen deckungsgleichen Verläufe einen besonderen Beweiswert haben. Aus diesen Tonaudiogrammen gehen jedoch deutliche Anzeichen dafür hervor, dass die Schwerhörigkeit des Klägers andere Ursachen als den beruflichen Lärm hat. Zu Recht wird hierzu durch Prof. Dr. Maier auf die bereits von Prof. Dr. J. vorgenommene Beurteilung verwiesen, dass beim Kläger keine mit einer Lärmschwerhörigkeit vereinbaren Tonaudiogramme vorliegen. Denn die beim Kläger feststellbaren Hörverluste in den Tieftonbereichen ab 125 Hz, der Schrägverlauf der ab hier zunehmenden Schwerhörigkeit und das Fehlen eines Hörverlustmaximums bei 4 kHz; (sogenannte c5-Senke) belegen, dass lärmunabhängige Ursachen wesentlich für die Schwerhörigkeit des Klägers sind (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 331 ff.). Auch wenn aus den Tonaudiogrammen Elemente einer Lärmexposition herausgelesen werden können, lassen sich diese nicht von den lärmunabhängig verursachten Anteilen abgrenzen. Schließlich ist der Senat insbesondere deswegen vom Fehlen der geltend gemachten BK überzeugt, weil der Kläger seit 1998 konstante Hörbefunde vorweist, obwohl er seit 1990 eine gleichbleibende Arbeit mit gleichbleibender Verwendung von Hörschutz ausgeübt hat und insofern eine weitere Verschlechterung des Hörvermögens zu erwarten gewesen wäre, wenn der berufliche Lärm zwischen 1990 und 1998 für die Schwerhörigkeit verantwortlich gemacht werden könnte. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die den Beteiligten bekannten schlüssigen Ausführungen von Prof. Dr. Maier, Prof. Dr. J. und Prof. Dr. H. Bezug genommen sowie - nach § 153 Abs. 2 SGG - auf die Ausführungen des SG in dem angefochtenen Urteil.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren nicht veranlasst. Die beruflichen Lärmbelastungen sind lückenlos aufgeklärt worden. Auch unter Zugrundelegung aller vom Kläger angegebenen Arbeitszeiten und Überstunden ist lediglich ein grenzwertiges Risikomaß nach von Lüpke von maximal 3 - 4 festgestellt worden. Unter Berücksichtigung dieser neuen Erkenntnisse hat der Gutachter Prof. Dr. Maier schlüssig und in Übereinstimmung mit den Vorgutachtern dargelegt, warum vorliegend die Anerkennung einer BK nach der Ziff. 2301 der Anlage zur BKV nicht erfolgen kann.

Die Einholung eines zusätzlichen Gutachtens nach § 109 SGG war abzulehnen, weil der Kläger sein diesbezügliches Antragsrecht verbraucht hat (BSG SozR Nr. 18 zu § 109 SGG; BSG NJW 91, 3053). Auch der vom Kläger ausgewählte Gutachter Prof. Dr. H. hat das Vorliegen der geltend gemachten BK mit Bestimmtheit abgelehnt (Gutachten vom 08.12.2008 und weitere Stellungnahme vom 06.02.2009). Begründete Anhaltspunkte dafür, ausnahmsweise einen weiteren Antrag nach § 109 SGG zuzulassen, sind nicht erkennbar (vgl. Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 109 Rdnr. 10b).

Sofern der Kläger vorträgt, dass seine Schwerhörigkeit aufgrund mehrerer Explosionen bzw. Knalltraumen bei seinen Beschäftigungen in Polen eingetreten sei, wären diese Vorfälle gegebenenfalls als Arbeitsunfälle zu beurteilen, welche jedoch andere Versicherungsfälle darstellen würden und damit nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens auf Anerkennung einer Berufskrankheit sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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