L 8 Kr 1155/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kr 1155/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit gewährte Gehalt ist für die Berechnung des Regellohnes für die Gewährung des Krankengeldes auch dann maßgebend, wenn das nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit fortgezahlte Gehalt höher ist.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. September 1970 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldes.

Der Kläger – Angestellter des Statistischen Landesamtes – wurde am 21. Oktober 1969 arbeitsunfähig krank. Sein Gehalt wurde ihm bis zum 20. April 1970 weitergezahlt. In der Folgezeit gewährte die Beklagte Krankengeld unter Zugrundelegung des Arbeitsentgeltes für September 1969 (953,– DM brutto, 763,73 netto).

Da das Gehalt des Klägers ab 1. Januar 1970 um monatlich 100,– DM erhöht wurde, legte dieser gegen die Festsetzung des Krankengeldes Widerspruch ein mit der Begründung, daß das Krankengeld nach dem höheren Gehalt berechnet werden müsse. Der Widerspruch blieb erfolglos.

Mit seiner Klage verfolgte der Kläger seinen Anspruch auf Berechnung des Krankengeldes nach den Gehaltsbezügen des Monats März 1970 weiter. Die Beklagte trug demgegenüber vor, daß für die Berechnung des Krankengeldes das Gehalt des der Arbeitsunfähigkeit vorausgegangenen Monats, hier September 1969, zugrunde zu legen sei.

Durch Urteil vom 15. September 1970 hat das Sozialgericht Wiesbaden der Klage stattgegeben mit der Begründung, nach § 182 Abs. 4 und 4 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei das Krankengeld nach dem entgangenen regelmäßigen Arbeitsentgelt, also nach dem Einkommen, das der Kläger nach Fortdauer seines Arbeitsverhältnisses während der Krankheit erzielt hätte, zu berechnen. Die Vorschrift des § 182 Abs. 5 RVO sei demgegenüber eine Ausnahmeregelung, die die Überlegung aufdränge, ob die Sonderstellung für Lohnempfänger dem Gleichbehandlungsgrundsatz entspreche. Gegenüber diesen aus dem Gesetzeswortlaut gewonnenen Erkenntnissen könnten auch Praktikabilitätserwägungen nicht überzeugen. Die Satzungsbestimmungen der Beklagten stünden der Entscheidung ebenfalls nicht entgegen, da sie dem Gesetz widersprächen und damit unbeachtlich seien.

Gegen dieses der Beklagten am 16. November 1970 zugestellte Urteil richtet sich die am 11. Dezember 1970 beim Hess. Landessozialgericht eingelegte Berufung, mit der die Beklagte die Rechtsauffassung des Sozialgerichts bekämpft. Sie trägt vor, daß nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes der für das Krankengeld maßgebende Grundlohn nach den Verhältnissen zur Zeit des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit zu berechnen sei. Dies gelte sowohl für Lohn wie auch für Gehaltsempfänger. Die Festsetzung des dem Kläger gewährten Krankengeldes entspreche auch der Beklagten.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. September 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die an sich statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung ist zulässig und begründet.

Mit Recht hat die Beklagte das Krankengeld des Klägers nach dem Gehalt berechnet, das in dem der Arbeitsunfähigkeit vorausgegangenen Monat (September 1969) gewährt wurde und die zwischenzeitliche Gehaltserhöhung außer Betracht gelassen. Aus dem Wortlaut des hier maßgebenden § 183 Abs. 2 RVO geht nicht eindeutig hervor, ob das Krankengeld das während der Arbeitsunfähigkeit entgangene Arbeitsentgelt ganz oder teilweise ersetzen soll (Lohnausfallprinzip) oder ob das Krankengeld nach einem vor der Arbeitsunfähigkeit liegenden Lohnzahlungszeitraum zu berechnen ist (Referenzperiodenprinzip). Für die erste Ansicht spricht § 182 Abs. 4 RVO, wonach als Regellohn das wegen der Arbeitsunfähigkeit entgangene regelmässige Arbeitsentgelt anzusehen ist. Indessen kann aber schon aus dem Wortlaut "regelmässig” entnommen werden, daß der vor der Arbeitsunfähigkeit bestehende Lohnanspruch als fortbestehend fingiert wird und Schwankungen nach oben oder unten nicht zu berücksichtigen sind (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 182 Anm. 16 b).

Die Nichtberücksichtigung von Lohnerhöhungen während der Arbeitsunfähigkeit ergab sich ursprünglich bei der Berechnung des Krankengeldes nach dem Grundlohn (§ 180 RVO). Dieser konnte sich schon im Hinblick auf die Beitragsberechnung nur auf vergangene Lohnzahlungszeiträume beziehen. Die Berechnung des Krankengeldes nach dem Grundlohn konnte auch für den Lohnempfänger aus Schwankungen des Arbeitsverdientes nachteilige Folgen für die Höhe des Krankengeldes ergeben, die bei einem Gehaltsempfänger mit konstanten Arbeitseinkommen nicht eintreten konnten. Der Übergang vom Grundlohn zum Regellohn durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961 (BGBl. I S. 913) bewirkte die Berechnung des entgangenen Arbeitsverdienstes nach einem Stundenlohn, der sich aus einer längeren Lohnzahlungsperiode (mindestens die letzten 4 Wochen) ergab (§ 182 Abs. 5 RVO). Für Gehaltsempfänger wird das Krankengeld weiterhin nach dem Grundlohn berechnet (§ 182 Abs. 6 RVO) weil sich hier Stundenlohn und der auf den Kalendertag entfallende Teil des Arbeitsentgeltes (§ 180 Abs. 1 RVO) entsprechen. Mit dem Regellohn wurde das Referenzperiodenprinzip nicht aufgegeben; es wurde nur die Nachteile, die ein Lohnempfänger aus der Berechnung des Grundlohnes erleiden konnte, ausgeglichen und eine weitgehende Gleichstellung zwischen Arbeitern und Angestellten angestrebt (Peters a.a.O.). Auch der Regellohn wird nach der Referenzperiode des letzten abgerechneten Lohnabrechnungszeitraums vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit und nicht nach dem danach entstehenden Lohnanspruch berechnet (§ 182 Abs. 5 RVO). Darüber hinaus mußte die Anwendung des Lohnausfallprinzips dazu führen, daß die Versicherten und ihre Arbeitgeber während der Arbeitsunfähigkeit die Höhe des Arbeitsentgelts und damit des Krankengeldsanspruchs manipulieren könnten. Dieses zwangsläufige Ergebnis liegt mit Sicherheit nicht im Sinne des Gesetzes. Überdies könnte das Lohnausfallprinzip dazu führen, daß im Falle einer Lohnminderung während der Arbeitsunfähigkeit der Versicherte ein niedrigeres Krankengeld erhielte, als ihm nach seinem früheren höheren Beitragsleistungen zustünde.

Da bei Lohnempfängern nach § 182 Abs. 5 RVO das Krankengeld nach dem letzten abgerechneten Lohnabrechnungszeitraum zu berechnen ist, muß aus dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung aller Versicherten dieses Referenzperiodenprinzip auch für Angestellte gelten. Hätte der Gesetzfeber in § 182 Abs. 5 und 6 RVO das Lohnausfallprinzip übernehmen wollen, dann hätte er z.B. die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Mutterschutzgesetz getroffene Regelung übernehmen müssen und auch können. Grundsätze der Praktikabilität sind somit für das Referenzperiodenprinzip nicht ausschlaggebend.

Hiernach bestand für den Kläger Anspruch auf Krankengeld seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit unter Zugrundelegung des Septembergehaltes 1969 als Regellohn (§ 182 Abs. 4 RVO); dieser Anspruch ruhte nach § 189 RVO für die Dauer der Gehaltsfortzahlung. Nach Beendigung der Gehaltsfortzahlung hat die Beklagte dem Kläger für die weitere Dauer der Arbeitsunfähigkeit Krankengeld in gesetzlicher Höhe gewährt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Rechtsfrage der Berechnung des Krankengeldes bei Gehaltserhöhungen, die nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit gewährt werden, von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
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