L 6 J 63/79

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 J 63/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein gewerblicher Unternehmer übt eine selbständige Erwerbstätigkeit i.S. von RVO § 1247 Abs. 2 Satz 2 nicht aus, wenn er nach den tatsächlichen. Verhältnissen nicht mehr aktiv oder direktiv tätig ist und auch keinen maßgebenden Einfluß auf das Betriebsgeschehen mehr hat, unabhängig davon, ob er aus seinem Unternehmen oder Betrieb weiterhin Einkünfte erzielt.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. November 1978 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen des Berufungsverfahrens zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Versicherung ihres am 15. Juli 1977 verstorbenen Ehemannes J. M. (Versicherter).

Der Versicherte war seit 1963 als selbständiger Schlosser- und Installationsmeister tätig und bis zu seinem Tode in der Handwerksrolle eingetragen. Am 14. Oktober 1975 erkrankte er an Bronchial-Karzinom und befand sich vom 16. Oktober 1975 bis 19. Dezember 1975, vom 29. März 1976 bis 10. Mai 1976, vom 29. Oktober 1976 bis 2. Dezember 1976, vom 19. Januar 1977 bis 1. April 1977 und vom 14. Juli 1977 bis 15. Juli 1977 in stationärer Behandlung. Zwischen den einzelnen stationären Behandlungen war sein Hausarzt Dr. B. mit der häuslichen Betreuung des Versicherten beauftragt worden. Nach seinem Bericht vom 30. September 1978 habe der Verlauf der Krankheit schnell zu einem körperlichen und seelischen Verfall geführt, so daß der Versicherte vorwiegend bettlägerig und pflegebedürftig gewesen sei. Oft sei es zu Bewußtseinstrübungen gekommen. Der Versicherte sei nicht in der Lage gewesen, irgendwelche körperliche oder geistige Leistungen zu erbringen.

Am 9. Juli 1976 beantragte der Versicherte die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Nach Auswertung des Entlassungsberichtes der Heilstätte O. vom 30. Dezember 1975 und des Befundberichtes von Dr. B. vom 15. Mai 1976 kamen die Prüfärzte der Beklagten zu dem Ergebnis, daß dem Versicherten mindestens seit der Arbeitsunfähigkeitsmeldung am 14. Oktober 1975 keine Arbeiten im Erwerbsleben mehr zumutbar seien. Durch Bescheid vom 15. Dezember 1976 gewährte die Beklagte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juli 1976. Als Versicherungsfall legte sie den 14. Oktober 1975 zugrunde.

Mit seinem hiergegen eingelegten Widerspruch trug der Versicherte vor, er sei nicht berufsunfähig, sondern erwerbsunfähig; er könne keine Arbeiten mehr im eigenen Betrieb verrichten. Die Umschreibung des Betriebs, in dem fünf Arbeitnehmer beschäftigt seien, solle in Kürze auf den Sohn erfolgen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 1977 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, zwar liege bei dem Versicherten aus medizinischer Sicht Erwerbsunfähigkeit vor, doch erwirtschafte er mit seinem Gewerbebetrieb auch ohne eigene Mitwirkung mehr als nur geringfügige Einkünfte, so daß Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht angenommen werden könne.

Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Gießen machte die Klägerin geltend, § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO setze voraus, daß ein Antragsteller eine selbständige Tätigkeit tatsächlich ausübe. Es komme nicht darauf an, ob ihm in seiner Eigenschaft als Inhaber eines Gewerbebetriebes Erträgnisse zuflössen, sondern darauf, ob er in irgendeiner Form tätig sei. Der Versicherte sei aber infolge seines Gesundheitszustandes zu keinerlei Tätigkeiten fähig gewesen. Außerdem habe der Betrieb mit Verlust gearbeitet, so daß über den Nachlaß das Konkursverfahren eröffnet worden sei.

Die Beklagte meinte demgegenüber, der Versicherte sei bis zu seinem Tode noch selbständig erwerbstätig gewesen, da er bis zu diesem Zeitpunkt Unternehmer geblieben sei. Unerheblich sei, wie umfangreich die tatsächliche Mitarbeit im Betrieb und wie hoch der daraus erzielte Gewinn gewesen sei. Ebensowenig komme es darauf an, aus welchen Gründen die Abmeldung oder Umschreibung des Betriebs nicht erfolgt sei.

Das Sozialgericht hat über die Frage, inwieweit der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode noch in der Lage gewesen sei, auf den Gewerbebetrieb Einfluß zu nehmen, Beweis erhoben durch Vernehmung des Rohr-Installateurs B. M., Sohn des Versicherten, und des kaufmännischen Angestellten H. S. als Zeugen. Wegen des Inhaltes der Zeugenaussagen wird auf die Niederschrift vom 22. August 1978 (Bl. 33 bis 35 der Gerichtsakte) verwiesen.

Durch Urteil vom 21. November 1978 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 15. Dezember 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Juli 1977, der Klägerin Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes zu gewähren. In den Entscheidungsgründen führte das Sozialgericht aus, zwar sei der Versicherte während der Zeit des Rentenbezugs bis zu seinem Tode in der Handwerksrolle als selbständiger Meister eingetragen gewesen, jedoch habe er in dieser Zeit tatsächlich keine selbständige Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt, so daß die Voraussetzungen des § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO erfüllt seien. Das Sozialgericht ließ die Berufung im Tenor zu.

Gegen dieses der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 2. Januar 1979 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 15. Januar 1979 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Sie vertritt die Auffassung, dem Sozialgericht könne nicht gefolgt werden, da es zu wenig die Grundsätze des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. Dezember 1977 (11 RA 6/77) beachtet und zu sehr auf das Erfordernis einer tatsächlichen Mitarbeit in dem Gewerbebetrieb abgestellt habe.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. November 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf die Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; das Sozialgericht hat die nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossene Berufung im Tenor im Hinblick auf § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Die Berufung ist im übrigen form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Das angefochtene Urteil ist zu Recht ergangen. Die Klägerin als Rechtsnachfolgerin im Sinne des § 56 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – hat nach §§ 1247 Abs. 1, 1290 Abs. 2 RVO ab 1. Juli 1976 Anspruch auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes, denn der Versicherte war nicht nur berufsunfähig, sondern erwerbsunfähig.

Nach § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter erwerbsunfähig, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Aufgrund der im Verwaltungsverfahren getroffenen ärztlichen Feststellungen war der Versicherte mindestens seit seiner Arbeitsunfähigkeit am 14. Oktober 1975 nicht mehr in der Lage, infolge von Krankheit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und damit im Sinne des § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO erwerbsunfähig. Dies ist auch zwischen den Beteiligten unbestritten.

Darüber hinaus ist aber auch die in § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO durch das Rentenreformgesetz (RRG) ab 19. Oktober 1972 eingeführte negative Voraussetzung der Erwerbsunfähigkeit gegeben. Danach ist nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Das war aber beim Versicherten in der streitigen Zeit nicht der Fall; mithin war er erwerbsunfähig.

Ein Versicherter übt eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, wenn er im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erwerbstätig ist (vgl. BSGE 39, 152, 153; 2, 67, 74 ff.). Das trifft insbesondere auf gewerbliche Unternehmer zu. Nach dem Urteil des BSG vom 15. Dezember 1977 (11 RA 6/77) ist Unternehmer, wer die für das Unternehmen erforderlichen Willensentscheidungen eigenverantwortlich und persönlich unabhängig trifft und vom wirtschaftlichen Ergebnis den unmittelbaren Vor- oder Nachteil hat. Ein solcher Unternehmer übt nach Auffassung des Bundessozialgerichts selbständige Erwerbstätigkeit aus, solange auf den Geschäftsbetrieb gerichtete Handlungen in seinem Namen vorgenommen werden. Es kommt dann nicht darauf an, ob und in welcher Weise er sich nach außen oder innen am Geschäftsbetrieb tätig beteiligt. Vielmehr genügt es, daß der Versicherte kraft seiner Unternehmerstellung den notwendigen Einfluß zu nehmen vermag. Er kann deshalb auch das Geschäft durch andere betreiben lassen; solange er der Unternehmer bleibt, ist ihm der Geschäftsbetrieb als selbständige Erwerbstätigkeit zuzurechnen.

Darüber hinaus ist der erkennende Senat der Auffassung, daß für die Beurteilung der Frage, ob eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, es entscheidend auf die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalles ankommt. Dies ergibt sich einmal aus dem Wortlaut des § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO; zum anderen auch aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift. Eine Erwerbstätigkeit wird nur dann "ausgeübt”, wenn der Versicherte selbst in seinem Betrieb aktiv oder direktiv "tätig” ist. Nach der Begründung B des Entwurfes zu § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO (Bundestags-Drucksache VI/2153, S. 16) stellt die Vorschrift klar, daß keine Erwerbsunfähigkeit vorliegt, solange eine selbständige Erwerbstätigkeit "tatsächlich” ausgeübt werde. Hiervon ausgehend kann der Beklagten nicht darin beigepflichtet werden, daß ein Versicherter eine selbständige Erwerbstätigkeit schon dann ausübt, wenn ein Gewerbe auf seinen Namen angemeldet ist und er für die anfallenden Steuern beim Finanzamt als Steuerpflichtiger geführt wird, zumal die entsprechenden Anzeige- und Meldevorschriften lediglich den Charakter von Ordnungsvorschriften besitzen (vgl. auch Urteil des BSG vom 15. Dezember 1977 – 11 RA 6/77 –). Die Meldung bzw. Führung bei den Gewerbe- und Steuerbehörden besagt hiernach nicht immer, daß der Versicherte eine selbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausübt; sie kann insoweit nur ein Indiz im Rahmen der Beweiswürdigung sein, allerdings dann möglicherweise im Einzelfall auch für die Annahme einer selbständig ausgeübten Erwerbstätigkeit genügen.

Unter Berücksichtigung der Definition der selbständigen Erwerbstätigkeit im Urteil des BSG vom 15. Dezember 1977 (a.a.O.) und nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO ergibt sich somit, daß eine selbständige Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt wird, wenn der Versicherte als gewerblicher Unternehmer nach den tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr aktiv oder direktiv tätig ist und auch keinen maßgebenden Einfluß auf das Betriebsgeschehen mehr hat, unabhängig davon, ob er aus seinem Unternehmen oder Betrieb weiterhin Einkünfte erzielt. Dies trifft im vorliegenden Fall für den hier maßgebenden Zeitraum zu.

Während des einjährigen Rentenbezugs war der Versicherte aufgrund seiner stationären Krankenhausbehandlungen und seiner Pflegebedürftigkeit zu Hause weder aktiv noch direktiv in der Lage, irgendwie auf das Betriebsgeschehen Einfluß zu nehmen. So bestätigt sein Hausarzt Dr. B. überzeugend, daß der Versicherte infolge des körperlichen und seelischen Verfalls verbunden mit Bewußtseinstrübungen unfähig gewesen sei, irgendwelche körperliche oder geistige Leistungen zu erbringen. Entsprechend hat der Zeuge M. glaubhaft bekundet, der Versicherte sei schon vor Juli 1976 bis zu seinem Tode ständig bettlägerig und pflegebedürftig und zu keiner Arbeit mehr im Betriebe fähig gewesen. Der Versicherte sei geistig kaum mehr in der Lage gewesen, Entscheidungen zu treffen. Seine Aussage wird durch die widerspruchslosen Bekundungen des Zeugen Sch. bestätigt. Tatsächlich oblag – wie beide Zeugen übereinstimmend bekundet haben – zumindest im streitigen Zeitraum dem Zeugen M. die Führung des Betriebs. Der Versicherte selbst hat überhaupt keinen maßgebenden Einfluß mehr auf das Betriebsgeschehen nehmen können.

Aus all diesen Gründen war der Versicherte nicht nur berufsunfähig, sondern erwerbsunfähig.

Die Entscheidung des erkennenden Senats weicht auch nicht von dem Urteil des BSG vom 15. Dezember 1977 (a.a.O.) ab. Denn in dem vom BSG entschiedenen Fall war der Kläger als Unternehmer in seinem Betrieb noch aktiv tätig. Zum anderen hat das BSG ausdrücklich die Frage offen gelassen, wie im Hinblick auf § 24 Abs. 2 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz (= § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO) zu entscheiden wäre, wenn eine selbständige Erwerbstätigkeit zeitlich oder im wirtschaftlichen Ergebnis nahezu unbedeutend ist.

Bei dieser Sach- und Rechtslage konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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