Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 R 841/05
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtung von Beschäftigungszeiten in den Ghettos Jaroslaw und Przemysl.
Der am 9 1921 in Rokietnice (Polen) geborene Kläger ist Jude und wurde als solcher Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Seit dem Einmarsch der deutschen Armee im September 1939 waren die Städte Przemysl und Jaroslaw Teil des Generalgouvernements. Von Mai bis November 1940 arbeitete er in Jaroslaw bei der Firma S im Autobahnbau. 1949 wanderte er in die USA aus, wo er noch heute lebt.
Vom Bayerischen Landesentschädigungsamt erhielt er 1958 eine Kapitalabfindung für den an Körper und Gesundheit erlittenen Schaden in Höhe von DM 2.767,00 und 1959 eine Kapitalabfindung für den Schaden an der Freiheit in Höhe von DM 5.400,00. Im Entschädigungsverfahren hatte der Kläger am 20. Juli 1957 eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, in der er u. a. erklärte, dass er im Mai 1940 von Rokietnice in das Zwangs-arbeitslager Jaroslaw verschickt worden sei. Dort habe er Zwangsarbeiten für die Firma S verrichten müssen. Im November 1940 sei er von dem Lager zurück nach Rokietnice transportiert worden. Dort habe er Straßenbau- und Feldarbeiten verrichten müssen. Im Juli 1942 sei er von dort weggelaufen, um der Deportation zu entgehen, und habe von da an in der Illegalität gelebt. Er habe sich in den benachbarten Wäldern in der Gegend von Orly, Lipowice und Kowice versteckt gehalten. Im Juli 1944 sei er von den russischen Truppen befreit worden.
Der Zeuge A N bestätigte in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 30. Juni 1957, dass der Kläger von Mai bis November 1940 im Zwangsarbeitslager Jaroslaw für die Firma S gearbeitet habe. Bis Juli 1942 habe er danach mit dem Kläger zusammen in Rokietnice verschiedene Zwangsarbeiten verrichtet. Anschließend hätten sie sich beide aus Angst vor einer "Judenaktion" in den Wäldern versteckt. Obwohl sie nicht an denselben Plätzen versteckt gewesen seien, hätten sie einige Male Gelegenheit gehabt, sich nachts zu sehen, wenn der Kläger zur Besorgung von Lebensmitteln zu den Bauern gegangen sei. Im Juli 1944 seien sie gemeinsam von den Russen befreit worden. Ähnlich bestätigte der Zeuge I S die Angaben des Klägers in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 6. Februar 1957.
Gegenüber dem Arzt H W gab der Kläger am 28. Februar 1964 u. a. an, dass er im Oktober oder November 1940 in seine Heimat zurück gekehrt sei, wo er wieder Zwangsarbeit habe leisten müssen, wo es jedoch kein Ghetto gegeben habe. Er habe Straßenarbeiten leisten und Holz hacken müssen. Ungefähr im Juni 1942 sei er geflüchtet und habe zwei Jahre lang in der Illegalität gelebt.
Am 26. Juni 2003 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente. Er habe im Ghetto Przemysl von Dezember 1940 bis März 1942 für die deutsche Verwaltung Forstarbeiten verrichtet und dafür Nahrung und Unterkunft erhalten. Bis Ende 1942 habe er im Anschluss daran in der Metallfabrik K und bei der Stadtreinigung gearbeitet und dafür ebenfalls Nahrung und Unterkunft erhalten.
Die Beklagte zog die Entschädigungsakte des Landesentschädigungsamtes München bei. Mit Bescheid vom 10. November 2003 lehnte sie den Antrag des Klägers ab. Ein Renten-anspruch bestehe nicht, da der Kläger keine in der Rentenversicherung anrechenbaren Zeiten zurückgelegt habe. Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto könnten nicht anerkannt werden, weil diese nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden seien. Die Angaben im Rentenantrag wichen erheblich von den Aussagen im Entschädigungsverfahren ab und seien daher nicht glaubhaft.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 27. November 2003 Widerspruch. Im Ghetto habe er aus eigenem Willensentschluss eine Tätigkeit aufgenommen, um sein Überleben zu sichern. Dafür habe er Entgelt in Form von Sachbezügen erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 1. November 2005 als unbegründet zurück. Im Wesentlichen wiederholte sie die Begründung des Ausgangsbescheides. Es lägen keine Unterlagen vor, die einen Aufenthalt des Klägers im Ghetto Przemysl glaubhaft machten.
Dagegen hat der Kläger am 29. November 2005 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Von April bis Oktober 1940 habe er im Ghetto Jaroslaw für die Firma S als Straßenbauarbeiter gearbeitet. Von Dezember 1940 bis März 1941 habe er im Ghetto Przemysl Waldarbeiten durchgeführt. Von Dezember 1941 bis Frühjahr 1942 habe er sich in den Wäldern aufgehalten und sei als Holzfäller tätig gewesen. Von August bis Dezember 1942 habe er bei der Metallfabrik K , im Januar 1943 bei der B Schuhfabrik und von Mai bis Juni 1943 in der Möbelfabrik Schiffmann gearbeitet. Er habe Nahrungsmittel erhalten, die es ihm ermöglicht hätten, zu überleben.
Der Kläger beantragt nach Aktenlage sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2005 zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten von April bis Oktober 1940 im Ghetto Jaroslaw und von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Mit Schreiben vom 11. Mai 2006 hat das Staatliche Archiv in Przemysl u. a. mitgeteilt, dass dort keine Dokumente vorgefunden worden seien, die die Existenz eines Ghettos in Jaroslaw bestätigen. In den Stadtakten seien Notizen über die Firma S gefunden worden. In den Haushaltseinnahmen der Stadt Przemysl 1942 bis 1943 seien keine Informationen über die Existenz der Firmen K und Beta gefunden worden.
Das Institut des Nationalen Gedenkens in Rzeszow hat unter dem 6. Juni 2006 mitgeteilt, dass dort Unterlagen über den Kläger oder die Existenz eines Ghettos in Jaroslaw oder der Firmen Scheid, K oder B nicht gefunden wurden.
Das Jüdische Historische Institut hat mit Schreiben vom 14. Juni 2006 u. a. angegeben, dass es in Jaroslaw kein Ghetto gegeben habe. Es hat einen Auszug über Jaroslaw und das Ghetto Przemysl aus dem Buch "Nationalsozialistische Gefangenlager auf polnischem Territorium 1939 bis 1945" beigefügt, auf dessen Inhalt ergänzend Bezug genommen wird.
Mit Schreiben vom 26. Juli 2006 hat der Internationale Suchdienst die Aufenthaltszeiten des Klägers seit 1. Oktober 1945 mitgeteilt. Außerdem sei der frühere Name des Klägers in einer Namensliste von Juden aus Przemysl verzeichnet. Allerdings ohne Ausstellungsdatum.
In der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 ist der Kläger trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen. Das Gericht hat die Entschädigungsakte des Landesentschädigungamtes München und die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer kann trotz des Ausbleibens des Klägers und seiner Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 durch Urteil entscheiden, weil der Kläger, dessen persönliches Erscheinen nicht angeordnet worden war, in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens entschieden werden kann (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2005 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn der Kläger hat die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Darauf werden nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet. Der Kläger hat jedoch weder Beitrags- noch Ersatzzeiten zur deutschen Rentenversicherung zurückgelegt.
Als Beitragszeiten kommen lediglich die Zeiten der behaupteten Beschäftigungen von April bis Oktober 1940 in Jaroslaw und von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl im Sinne einer fiktiven Beitragszeit nach § 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) in Betracht. Danach gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge ohne weitere Einschränkung als gezahlt. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Für die geltend gemachte Beschäftigungszeit von April bis Oktober 1940 in Jaroslaw ist der zwangsweise Aufenthalt in einem Ghetto nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr steht für die Kammer mit großer Wahrscheinlichkeit fest, dass es in Jaroslaw kein Ghetto gab. Historische Belege für die Existenz eines Ghettos in Jaroslaw sind weder vom Kläger beigebracht worden noch sind solche ersichtlich. Ein solches Ghetto ist weder in der ARC-Ghetto-List (www.deathcamps.org) noch unter www.keom.de und auch nicht in dem vom Jüdischen Historischen Institut mit Schreiben vom 14. Juni 2006 übersandten Auszug über Jaroslaw aus dem Buch "Nationalsozialistische Gefangenlager auf polnischem Territorium 1939 bis 1945" verzeichnet. Nach Auskunft des Jüdischen Historischen Instituts vom 14. Juni 2006 hat es in Jaroslaw kein Ghetto gegeben. Dem steht allein die Behauptung des Klägers im jetzigen Rentenverfahren entgegen. Allerdings hatten der Kläger und die damals schriftlich gehörten Zeugen N und S zeitnah im Entschädigungsverfahren des Klägers nicht von einem Ghetto gesprochen. Vielmehr haben sie einschließlich des Klägers selbst angegeben, der Kläger habe von Mai bis November 1940 im Zwangsarbeitslager Jaroslaw gearbeitet. Der Aufenthalt in einem Ghetto ist unter diesen Gegebenheiten nicht wahrscheinlich und damit nicht glaubhaft gemacht.
Hinsichtlich der behaupteten Beschäftigungszeiten von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl ist bereits der Aufenthalt des Klägers im Ghetto ist nicht glaubhaft gemacht. Die Glaubhaftmachung einer Tatsache bedeutet mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die gute Möglichkeit, dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat wie behauptet wird (LSG Nordrhein-Westfalen 28. Juni 2004 – L 3 RJ 22/03). Die Kammer sieht es in diesem Sinne nicht als glaubhaft an, dass sich der Kläger von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl befunden hat. Auch wenn der Kläger im jetzigen Klageverfahren seine Beschäftigungsverhältnisse in diesem Ghetto unter Angabe konkreter Arbeitgeber beschreibt, so ergibt sich daraus angesichts der im krassen Widerspruch dazu stehenden Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren weder die gute Möglichkeit eines Aufenthaltes des Klägers im Ghetto Przemysl noch ist dieser überwiegend wahrscheinlich. Denn zeitnah im Entschädigungsverfahren gaben sowohl der Kläger als auch die Zeugen N und S im Wege einer eidesstattlichen Erklärung an, dass der Kläger im November 1940 aus dem Lager Jaroslaw zurück nach Rokietnice transportiert worden sei und dort Straßenbau- und Feldarbeiten habe verrichten müssen. Im Juli 1942 sei er von dort weggelaufen, um der Deportation zu entgehen, und habe von da an in den benachbarten Wäldern in der Illegalität gelebt, bis er im Juli 1944 von den russischen Truppen befreit worden sei. Gegenüber dem Arzt H W erklärte der Kläger am 28. Februar 1964 ebenfalls, dass er im Oktober oder November 1940 in seine Heimat zurückgekehrt sei, wo er wieder Zwangsarbeit habe leisten müssen und wo es kein Ghetto gegeben habe. Er habe Straßenarbeiten verrichten und Holz hacken müssen. Ungefähr im Juni 1942 sei er geflüchtet und habe zwei Jahre lang in der Illegalität gelebt. Die Erklärungen des Klägers bieten daher insgesamt betrachtet keine ausreichende Tatsachengrundlage, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass er sich im streitigen Zeitraum im Ghetto Przemysl aufhielt. Vielmehr besteht eine gute Möglichkeit, dass er sich in dieser Zeit zuerst in Rokietnice und später in den umliegenden Wäldern aufhielt.
Dass der Internationale Suchdienst mit Schreiben vom 26. Juli 2006 mitgeteilt hat, dass der frühere Name des Klägers in einer Namensliste von Juden aus Przemysl verzeichnet sei, kann nicht als Indiz zur Glaubhaftmachung heran gezogen werden, da es keinen Anhalt für eine Personenidentität gibt. Denn es sind dort keine personenbezogenen Daten genannt. Darüber hinaus enthält die Liste nach Angabe des Suchdienstes kein Ausstellungsdatum.
Hat der Kläger keine in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeit zurückgelegt, so kommt auch die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht in Betracht. Nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist Voraussetzung für eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung, dass der Verfolgte bereits als Versicherter gilt, das heißt mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl., § 250 Rdnr. 6). Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
gez. Sonnhoff Richterin am Sozialgericht
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtung von Beschäftigungszeiten in den Ghettos Jaroslaw und Przemysl.
Der am 9 1921 in Rokietnice (Polen) geborene Kläger ist Jude und wurde als solcher Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Seit dem Einmarsch der deutschen Armee im September 1939 waren die Städte Przemysl und Jaroslaw Teil des Generalgouvernements. Von Mai bis November 1940 arbeitete er in Jaroslaw bei der Firma S im Autobahnbau. 1949 wanderte er in die USA aus, wo er noch heute lebt.
Vom Bayerischen Landesentschädigungsamt erhielt er 1958 eine Kapitalabfindung für den an Körper und Gesundheit erlittenen Schaden in Höhe von DM 2.767,00 und 1959 eine Kapitalabfindung für den Schaden an der Freiheit in Höhe von DM 5.400,00. Im Entschädigungsverfahren hatte der Kläger am 20. Juli 1957 eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, in der er u. a. erklärte, dass er im Mai 1940 von Rokietnice in das Zwangs-arbeitslager Jaroslaw verschickt worden sei. Dort habe er Zwangsarbeiten für die Firma S verrichten müssen. Im November 1940 sei er von dem Lager zurück nach Rokietnice transportiert worden. Dort habe er Straßenbau- und Feldarbeiten verrichten müssen. Im Juli 1942 sei er von dort weggelaufen, um der Deportation zu entgehen, und habe von da an in der Illegalität gelebt. Er habe sich in den benachbarten Wäldern in der Gegend von Orly, Lipowice und Kowice versteckt gehalten. Im Juli 1944 sei er von den russischen Truppen befreit worden.
Der Zeuge A N bestätigte in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 30. Juni 1957, dass der Kläger von Mai bis November 1940 im Zwangsarbeitslager Jaroslaw für die Firma S gearbeitet habe. Bis Juli 1942 habe er danach mit dem Kläger zusammen in Rokietnice verschiedene Zwangsarbeiten verrichtet. Anschließend hätten sie sich beide aus Angst vor einer "Judenaktion" in den Wäldern versteckt. Obwohl sie nicht an denselben Plätzen versteckt gewesen seien, hätten sie einige Male Gelegenheit gehabt, sich nachts zu sehen, wenn der Kläger zur Besorgung von Lebensmitteln zu den Bauern gegangen sei. Im Juli 1944 seien sie gemeinsam von den Russen befreit worden. Ähnlich bestätigte der Zeuge I S die Angaben des Klägers in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 6. Februar 1957.
Gegenüber dem Arzt H W gab der Kläger am 28. Februar 1964 u. a. an, dass er im Oktober oder November 1940 in seine Heimat zurück gekehrt sei, wo er wieder Zwangsarbeit habe leisten müssen, wo es jedoch kein Ghetto gegeben habe. Er habe Straßenarbeiten leisten und Holz hacken müssen. Ungefähr im Juni 1942 sei er geflüchtet und habe zwei Jahre lang in der Illegalität gelebt.
Am 26. Juni 2003 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente. Er habe im Ghetto Przemysl von Dezember 1940 bis März 1942 für die deutsche Verwaltung Forstarbeiten verrichtet und dafür Nahrung und Unterkunft erhalten. Bis Ende 1942 habe er im Anschluss daran in der Metallfabrik K und bei der Stadtreinigung gearbeitet und dafür ebenfalls Nahrung und Unterkunft erhalten.
Die Beklagte zog die Entschädigungsakte des Landesentschädigungsamtes München bei. Mit Bescheid vom 10. November 2003 lehnte sie den Antrag des Klägers ab. Ein Renten-anspruch bestehe nicht, da der Kläger keine in der Rentenversicherung anrechenbaren Zeiten zurückgelegt habe. Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto könnten nicht anerkannt werden, weil diese nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden seien. Die Angaben im Rentenantrag wichen erheblich von den Aussagen im Entschädigungsverfahren ab und seien daher nicht glaubhaft.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 27. November 2003 Widerspruch. Im Ghetto habe er aus eigenem Willensentschluss eine Tätigkeit aufgenommen, um sein Überleben zu sichern. Dafür habe er Entgelt in Form von Sachbezügen erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 1. November 2005 als unbegründet zurück. Im Wesentlichen wiederholte sie die Begründung des Ausgangsbescheides. Es lägen keine Unterlagen vor, die einen Aufenthalt des Klägers im Ghetto Przemysl glaubhaft machten.
Dagegen hat der Kläger am 29. November 2005 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Von April bis Oktober 1940 habe er im Ghetto Jaroslaw für die Firma S als Straßenbauarbeiter gearbeitet. Von Dezember 1940 bis März 1941 habe er im Ghetto Przemysl Waldarbeiten durchgeführt. Von Dezember 1941 bis Frühjahr 1942 habe er sich in den Wäldern aufgehalten und sei als Holzfäller tätig gewesen. Von August bis Dezember 1942 habe er bei der Metallfabrik K , im Januar 1943 bei der B Schuhfabrik und von Mai bis Juni 1943 in der Möbelfabrik Schiffmann gearbeitet. Er habe Nahrungsmittel erhalten, die es ihm ermöglicht hätten, zu überleben.
Der Kläger beantragt nach Aktenlage sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2005 zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten von April bis Oktober 1940 im Ghetto Jaroslaw und von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Mit Schreiben vom 11. Mai 2006 hat das Staatliche Archiv in Przemysl u. a. mitgeteilt, dass dort keine Dokumente vorgefunden worden seien, die die Existenz eines Ghettos in Jaroslaw bestätigen. In den Stadtakten seien Notizen über die Firma S gefunden worden. In den Haushaltseinnahmen der Stadt Przemysl 1942 bis 1943 seien keine Informationen über die Existenz der Firmen K und Beta gefunden worden.
Das Institut des Nationalen Gedenkens in Rzeszow hat unter dem 6. Juni 2006 mitgeteilt, dass dort Unterlagen über den Kläger oder die Existenz eines Ghettos in Jaroslaw oder der Firmen Scheid, K oder B nicht gefunden wurden.
Das Jüdische Historische Institut hat mit Schreiben vom 14. Juni 2006 u. a. angegeben, dass es in Jaroslaw kein Ghetto gegeben habe. Es hat einen Auszug über Jaroslaw und das Ghetto Przemysl aus dem Buch "Nationalsozialistische Gefangenlager auf polnischem Territorium 1939 bis 1945" beigefügt, auf dessen Inhalt ergänzend Bezug genommen wird.
Mit Schreiben vom 26. Juli 2006 hat der Internationale Suchdienst die Aufenthaltszeiten des Klägers seit 1. Oktober 1945 mitgeteilt. Außerdem sei der frühere Name des Klägers in einer Namensliste von Juden aus Przemysl verzeichnet. Allerdings ohne Ausstellungsdatum.
In der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 ist der Kläger trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen. Das Gericht hat die Entschädigungsakte des Landesentschädigungamtes München und die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer kann trotz des Ausbleibens des Klägers und seiner Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 durch Urteil entscheiden, weil der Kläger, dessen persönliches Erscheinen nicht angeordnet worden war, in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens entschieden werden kann (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2005 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn der Kläger hat die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Darauf werden nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet. Der Kläger hat jedoch weder Beitrags- noch Ersatzzeiten zur deutschen Rentenversicherung zurückgelegt.
Als Beitragszeiten kommen lediglich die Zeiten der behaupteten Beschäftigungen von April bis Oktober 1940 in Jaroslaw und von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl im Sinne einer fiktiven Beitragszeit nach § 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) in Betracht. Danach gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge ohne weitere Einschränkung als gezahlt. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Für die geltend gemachte Beschäftigungszeit von April bis Oktober 1940 in Jaroslaw ist der zwangsweise Aufenthalt in einem Ghetto nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr steht für die Kammer mit großer Wahrscheinlichkeit fest, dass es in Jaroslaw kein Ghetto gab. Historische Belege für die Existenz eines Ghettos in Jaroslaw sind weder vom Kläger beigebracht worden noch sind solche ersichtlich. Ein solches Ghetto ist weder in der ARC-Ghetto-List (www.deathcamps.org) noch unter www.keom.de und auch nicht in dem vom Jüdischen Historischen Institut mit Schreiben vom 14. Juni 2006 übersandten Auszug über Jaroslaw aus dem Buch "Nationalsozialistische Gefangenlager auf polnischem Territorium 1939 bis 1945" verzeichnet. Nach Auskunft des Jüdischen Historischen Instituts vom 14. Juni 2006 hat es in Jaroslaw kein Ghetto gegeben. Dem steht allein die Behauptung des Klägers im jetzigen Rentenverfahren entgegen. Allerdings hatten der Kläger und die damals schriftlich gehörten Zeugen N und S zeitnah im Entschädigungsverfahren des Klägers nicht von einem Ghetto gesprochen. Vielmehr haben sie einschließlich des Klägers selbst angegeben, der Kläger habe von Mai bis November 1940 im Zwangsarbeitslager Jaroslaw gearbeitet. Der Aufenthalt in einem Ghetto ist unter diesen Gegebenheiten nicht wahrscheinlich und damit nicht glaubhaft gemacht.
Hinsichtlich der behaupteten Beschäftigungszeiten von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl ist bereits der Aufenthalt des Klägers im Ghetto ist nicht glaubhaft gemacht. Die Glaubhaftmachung einer Tatsache bedeutet mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die gute Möglichkeit, dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat wie behauptet wird (LSG Nordrhein-Westfalen 28. Juni 2004 – L 3 RJ 22/03). Die Kammer sieht es in diesem Sinne nicht als glaubhaft an, dass sich der Kläger von Dezember 1940 bis Juni 1943 im Ghetto Przemysl befunden hat. Auch wenn der Kläger im jetzigen Klageverfahren seine Beschäftigungsverhältnisse in diesem Ghetto unter Angabe konkreter Arbeitgeber beschreibt, so ergibt sich daraus angesichts der im krassen Widerspruch dazu stehenden Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren weder die gute Möglichkeit eines Aufenthaltes des Klägers im Ghetto Przemysl noch ist dieser überwiegend wahrscheinlich. Denn zeitnah im Entschädigungsverfahren gaben sowohl der Kläger als auch die Zeugen N und S im Wege einer eidesstattlichen Erklärung an, dass der Kläger im November 1940 aus dem Lager Jaroslaw zurück nach Rokietnice transportiert worden sei und dort Straßenbau- und Feldarbeiten habe verrichten müssen. Im Juli 1942 sei er von dort weggelaufen, um der Deportation zu entgehen, und habe von da an in den benachbarten Wäldern in der Illegalität gelebt, bis er im Juli 1944 von den russischen Truppen befreit worden sei. Gegenüber dem Arzt H W erklärte der Kläger am 28. Februar 1964 ebenfalls, dass er im Oktober oder November 1940 in seine Heimat zurückgekehrt sei, wo er wieder Zwangsarbeit habe leisten müssen und wo es kein Ghetto gegeben habe. Er habe Straßenarbeiten verrichten und Holz hacken müssen. Ungefähr im Juni 1942 sei er geflüchtet und habe zwei Jahre lang in der Illegalität gelebt. Die Erklärungen des Klägers bieten daher insgesamt betrachtet keine ausreichende Tatsachengrundlage, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass er sich im streitigen Zeitraum im Ghetto Przemysl aufhielt. Vielmehr besteht eine gute Möglichkeit, dass er sich in dieser Zeit zuerst in Rokietnice und später in den umliegenden Wäldern aufhielt.
Dass der Internationale Suchdienst mit Schreiben vom 26. Juli 2006 mitgeteilt hat, dass der frühere Name des Klägers in einer Namensliste von Juden aus Przemysl verzeichnet sei, kann nicht als Indiz zur Glaubhaftmachung heran gezogen werden, da es keinen Anhalt für eine Personenidentität gibt. Denn es sind dort keine personenbezogenen Daten genannt. Darüber hinaus enthält die Liste nach Angabe des Suchdienstes kein Ausstellungsdatum.
Hat der Kläger keine in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeit zurückgelegt, so kommt auch die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht in Betracht. Nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist Voraussetzung für eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung, dass der Verfolgte bereits als Versicherter gilt, das heißt mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl., § 250 Rdnr. 6). Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
gez. Sonnhoff Richterin am Sozialgericht
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