L 6 B 27/05 RJ

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 11 RJ 1899/02
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 B 27/05 RJ
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Mageblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht einer PKH-Beschwerde ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Bewilligungsreife (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschlüsse vom 8. Mai 2000 - Az.: L 6 B 3/00 SF und vom 6. Juni 2000 - Az.: L 6 B 18/00 SF). Abweichend davon kommt es jedenfalls dann auf die Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde an, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse zwischen dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife und dem Zeitpunkt der Entscheidung zugunsten des PKH begehrenden Beteiligten geändert haben.
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 9. März 2005 aufgehoben und ihr unter Beiordnung von Rechtsanwalt O. R., Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab dem 17. Juni 2005 bewilligt.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist im Hauptsacheverfahren der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Die im Jahr 1957 geborene Beschwerdeführerin beantragte im Mai 2001 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Sie erlernte den Beruf der Facharbeiterin für maschinelle Glasverarbeitung und übte diesen Beruf bis zum 30. November 1991 aus. Anschließend war sie arbeitslos. Vom 17. August 1992 bis zum 14. Juli 1994 nahm die Beschwerdeführerin erfolgreich an einer Umschulung zur Industriekauffrau teil. Außerdem absolvierte sie vom 7. August 1995 bis 6. August 1996 einen Fortbildungskurs zur kaufmännischen EDV-Fachkraft im Architektur- und Baubüro. Seitdem ist sie wieder arbeitslos bzw. arbeitsunfähig, unterbrochen durch die Teilnahme an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 5. Oktober 2001 ab, da die Beschwerdeführerin nach dem ärztlichen Entlassungsbericht zur Rehabilitation der Prof. V. M. vom 19. Juni 2001 und nach der Stellungnahme des ärztlichen Sachverständigen der Beklagten noch leichte Arbeiten mit Einschränkungen für mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne.

Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2002 als unbegründet zurück. Nach dem ärztlichen Entlassungsbericht zur Rehabilitation der Rehaklinik an der Salza, Bad L., vom 28. März 2003 sowie verschiedenen Befundberichten ergebe sich keine andere Beurteilung des Leistungsvermögens. Die Antragsstellerin, die als Facharbeiterin einzuordnen sei, könne auf ihren Umschulungsberuf Bürokauffrau verwiesen werden.

Dagegen hat die Beschwerdeführerin am 4. September 2002 Klage erhoben mit der Begründung, sie sei nicht mehr in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

Zur Sachverhaltsaufklärung hat das Sozialgericht Befundberichte von dem Arzt für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. S. und von dem Orthopäden Dr. U. eingeholt und Dr. W. mit der Erstellung eines orthopädischen Gutachtens beauftragt. Diese hat unter dem 13. November 2004 eine sekundäre Gonarthrose rechts nach Kniegelenksinfektion mit subjektiven Beschwerden und Funktionseinschränkung des rechten Kniegelenks sowie Zustand nach rezidivierender Synovialitis des linken Kniegelenks ohne Funktionseinschränkung diagnostiziert. Die Beschwerdeführerin könne noch leichte körperliche Arbeiten sechs Stunden und mehr nur im Sitzen, ohne Hebe- und Bückarbeit, ohne Hebebelastung, ohne Absturzgefahr, nicht auf Leitern und Gerüsten sowie ohne Gefährdung durch Kälte, Nässe und Zugluft verrichten.

Mit Schriftsatz vom 26. Januar 2005 hat der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass an einem bereits am 26. September 2003 gestellten Antrag gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festhalte und hierfür Dr. U. zum Sachverständigen benenne.

Am 28. Februar 2005 hat die Beschwerdeführerin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten beantragt.

Das Sozialgericht hat Dr. U. mit Beweisanordnung vom 9. März 2005 zum Sachverständigen gemäß § 109 SGG ernannt und die Bewilligung von PKH mit Beschluss vom gleichen Tage wegen mangelnder Erfolgsaussicht abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin nach summarischer Prüfung weder voll noch teilweise erwerbsgemindert sei. Dies ergebe sich aus dem orthopädischen Gutachten von Dr. W. Auch eine teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit sei nicht gegeben, da die als Facharbeiterin einzustufende Beschwerdeführerin noch in ihrem Umschulungsberuf als Bürokauffrau sechs Stunden täglich arbeiten könne. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung sei nicht erforderlich, woran auch der Antrag der Beschwerdeführerin nach § 109 SGG nichts ändere.

Die Beschwerdeführerin hat hiergegen am 21. April 2005 Beschwerde eingelegt und sich zum Nachweis der Erfolgsaussicht auf einen Arztbrief des Dr. U. vom 24. Januar 2005 berufen.

Die Beschwerdeführerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 9. März 2005 aufzuheben und ihr unter Beiordnung von Rechtsanwalt O. R., Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht Gotha (Az.: S 11 RJ 1899/02) zu bewilligen.

Die Beklagte hat sich zur beantragten PKH nicht geäußert.

Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Verfügung vom 22. April 2005) und die Gerichtsakten dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Der Sachverständige Dr. U. hat der Beschwerdeführerin im Gutachten vom 2. Mai 2005 bestätigt, dass sie nicht in der Lage sei, "wettbewerbsfähig unter drei Stunden leichte Arbeiten auszuführen", da sie nicht in der Lage sei, "das rechte Kniegelenk in irgend einer Art und Weise zu belasten". Die maximale Gehstrecke ohne Einlegung von Pausen betrage 50 Meter. Als Diagnosen hat er eine deutliche, das gewöhnliche Altersmaß überschreitende postinfektiöse Gonarthrose des rechten Kniegelenks, 3. bis 4. Grades mit starker Belastungseinschränkung sowie eine Schellneigung und sonstige größere Bewegungseinschränkungen, angegeben. Daneben bestünden auch eine rezidivierende Ergussbildung des linken Kniegelenks, Arthralgien in beiden Schultergelenken und Handgelenken, eine Vorfußschwellung rechts, eine Bewegungseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenks, eine Taubheitsstörung sämtlicher Zehen beidseitig sowie rezidivierende pseudoradikuläre Lumbalsyndrome.

Auf Anfrage des Berichterstatters hat die Beschwerdeführerin mit am 17. Juni 2005 eingegangenem Schriftsatz ihres Bevollmächtigten erklärt, dass sie sich zur Bezahlung des Vorschusses für das Gutachten nach § 109 SGG (500,- Euro) 300,- Euro von ihrem Sohn geliehen und hinsichtlich des Restbetrags ihren Dispositionskredit in Anspruch genommen habe, und zum Nachweis Kontoauszugskopien und eine Kopie eines Einzahlungsscheins vorgelegt. Außerdem hat sie mit Schriftsatz vom 4. November 2005 eine Kopie des ärztlichen Entlassungsberichts der Rehaklinik Bad C. vom 21. September 2005 nach einem Reha-Aufenthalt vom 23 August bis 13. September 2005 eingereicht. Dort wird die befristete Berentung der Beschwerdeführerin vorgeschlagen, da sie zur Zeit nicht in der Lage sei, auch mit Unterarmstützen 4 x 500 Meter in 20 Minuten am Tag zurückzulegen. Die Gehstrecke, die die Beschwerdeführerin im Übrigen nur mit Unterarmgehstützen bewältigen könne, bleibe auch nach Abschluss der Reha-Maßnahme auf 30 bis 40 Metern eingeschränkt. Als Diagnosen werden eine postinfektiöse Gonarthrose des rechten Kniegelenks, 3. bis 4. Grades, ein rezidivierendes pseudoradikuläres LWS-Syndrom bei initialen degenerativen Veränderungen sowie ein Zervikobrachialsyndrom angegeben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Beschwerdeakte sowie der beigezogenen Prozessakte samt PKH-Heft des Sozialgerichts Gotha (Az.: S 11 RJ 1899/02) Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf Bewilligung von PKH für das Verfahren vor dem Sozialgericht.

Nach § 73 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Auf Grund der summarischen Prüfung ist nunmehr die hinreichende Aussicht auf Erfolg zu bejahen, denn die Entscheidung in der Hauptsache hängt von der Klärung entscheidungserheblicher Tatsachen ab und es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die erforderliche weitere Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der Beschwerdeführerin ausgehen wird (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 17. Februar 1998 – Az.: B 13 RJ 83/97 R in: SozR 3-1500 § 62 Nr. 19).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist zwar grundsätzlich der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, also der Zeitpunkt, zu dem die Beschwerdeführerin eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt und die entsprechenden Belege beigefügt hat (§ 117 Abs. 2 ZPO; vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. Mai 2000 – Az.: L 6 B 3/00 SF und vom 6. Juni 2000 – Az.: L 6 B 18/00 SF; Philippi in Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Auflage 2005, § 119 Rdnr. 27 und 46). Abweichend hiervon kommt es allerdings dann auf die Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung (über den PKH-Antrag bzw. über die Beschwerde gegen eine ablehnende PKH-Entscheidung) an, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse zwischen dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife und dem Zeitpunkt der Entscheidung zugunsten des PKH begehrenden Beteiligten geändert haben. Diese Abweichung ist aus prozessökonomischen Gründen geboten, denn der Beteiligte könnte bei einer ihm günstigen wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse jederzeit einen neuen PKH-Antrag stellen, der dann positiv zu bescheiden wäre. Ob eine solche Abweichung – jedenfalls im Beschwerdeverfahren – auch für den Fall der für den PKH begehrenden Beteiligten negativen Änderung der Sachlage geboten ist, mit anderen Worten ob im Beschwerdeverfahren für die Prüfung der Erfolgsaussicht grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde abzustellen ist (so etwa für die Fälle des zwischenzeitlich rechtskräftigen negativen Abschlusses des Hauptsacheverfahrens, vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27. Juli 2004 – Az.: 2 PA 1176/04 in: DÖV 2005, S. 34; OLG Hamm, Beschluss vom 10. April 1985 – Az.: 5 WF 89/85 in: FamRZ S. 825 sowie Philippi in Zöller, a.a.O., § 127 Rdnr. 34), bedarf hier keiner Entscheidung.

Danach steht bei der Beschwerdeführerin zum jetzigen Zeitpunkt (zumindest) die für die Erwerbsfähigkeit erforderliche Fähigkeit, eine Arbeitsstelle erreichen zu können (sog. Wegefähigkeit) in Frage. Nach der Rechtsprechung des BSG (z.B. Urteil vom 17. Dezember 1991 – Az.: 13/5 RJ 73/90 in: SozR 3-2200 §1247 Nr. 10) ist in der Regel voll erwerbsgemindert, wer auch unter Verwendung von Hilfsmitteln (z.B. Gehstützen) nicht in der Lage ist, täglich viermal eine Wegstrecke von über 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (unter 20 Minuten) ohne erhebliche Schmerzen, übermäßige Anstrengung und ohne Gefährdung der Gesundheit zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen.

Nach dem Gutachten des Dr. U. vom 2. Mai 2005 beträgt die maximale Gehstrecke der Beschwerdeführerin ohne Einlegung von Pausen 50 Meter. Dies deckt sich mit der Einschätzung im Entlassungsbericht der Reha-Klinik Bad C. vom 21. September 2005, wonach die Beschwerdeführerin maximal 30 bis 40 Meter und auch nur mit Unterarmgehstützen zurücklegen könne, ohne eine Pause einzulegen. Dabei beruht die Einschätzung auf den Ergebnissen einer dreiwöchigen Rehabilitationsbehandlung der Beschwerdeführerin.

Zwar steht dies im Widerspruch zu den im orthopädischen Gutachten von Dr. W. vom 13. November 2004 enthaltenen Ausführungen, wonach die Beschwerdeführerin "nur noch etwa 500 m ohne erhebliche Schmerzen, ohne übermäßige körperliche Anstrengung und ohne Gefährdung der Gesundheit, ggf. mit Hilfe von Unterarmstützen zurücklegen" könne. Es ist aber durchaus denkbar, dass nunmehr eine Verschlechterung der Wegefähigkeit vorliegt. Zudem beruht diese Einschätzung der Dr. W. "auf gültige(n) Erfahrungen an Gonarthrose-Patienten mit vergleichbarem Zustand ihrer Kniegelenke" (s. Bl. 13/unten des Gutachtens) und damit möglicherweise nicht auf einer entsprechenden konkreten Tatsachenfeststellung.

Letztlich bestehen nach Auffassung des Senats begründete Zweifel an der Wegefähigkeit der Beschwerdeführerin, die allein durch die Einholung eines weiteren orthopädischen Gutachtens ausgeräumt oder auch bestätigt werden können.

Die Gewährung der PKH erfolgt rückwirkend zu dem Zeitpunkt des Eingangs der Antwort der Klägerin am 17. Juni 2005 auf die Nachfrage des Gerichts, mit welchen finanziellen Mitteln der Vorschuss für das Gutachten nach § 109 SGG beglichen wurde, da zu diesem Zeitpunkt die Bedürftigkeit der Klägerin nachgewiesen war, nachdem bereits zuvor, nämlich mit dem Eingang des Gutachtens des Dr. U. vom 2. Mai 2005 bei Gericht am 12. Mai 2005, erstmals begründete Zweifel an der Wegefähigkeit und damit die Notwendigkeit weiterer Sachverhaltsaufklärung erkennbar geworden sind. Sie erfolgt angesichts der Einkommensverhältnisse der Beschwerdeführerin des Weiteren ohne Ratenzahlung, denn ihr unterhaltspflichtiger Ehegatte würde PKH für eine eigene Prozessführung nur gegen Ratenzahlung erhalten (vgl. BSG, Beschluss vom 7. Februar 1994 – Az.: 9/9a RVg 4/92 in: SozR 3-1750 § 115 Nr. 1).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved