L 7 AS 5398/07 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 3764/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 5398/07 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. Oktober 2007 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin die Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von 347 EUR unter Anrechnung der bewilligten 22,04 EUR für die Zeit vom 27. September 2007 bis zum 31. Januar 2008 zu gewähren.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin, der das Sozialgericht Reutlingen (SG) nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist zulässig, und begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.).

Vorliegend kommt, wie das SG zutreffend erkannt hat, nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164 (beide auch in juris; jeweils m.w.N.)). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. schon Beschluss vom 15. Juni 2005 - L 7 SO 1594/05 ER-B - (juris) unter Verweis auf Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NVw Z 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller vorzunehmen (vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 16. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - (beide juris) unter Hinweis auf BVerfG NVwZ 1997, 479; NVwZ 2005, 927) Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 1. August 2005 - a.a.O. und vom 17. August 2005 - a.a.O.).

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind hier gegeben. Auf der Grundlage der in diesem Verfahren durchgeführten Beweisaufnahme muss der Senat davon ausgehen, dass entgegen der Auffassung des Antragsgegners die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin nicht aufgrund der Vermutung des § 9 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu verneinen ist. Die Antragstellerin hat Anspruch auf die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 22 Abs. 1 und 2 SGB II), da sie nicht über eigenes Einkommen und Vermögen verfügt und deshalb hilfebedürftig i.S.d. § 9 SGB II ist.

Nach der vom SG herangezogenen Vorschrift des § 9 Abs. 5 SGB II wird vermutet, dass ein Hilfebedürftiger Leistungen eines Verwandten erhält, mit dem er in Haushaltsgemeinschaft lebt, soweit dies nach dem Einkommen und Vermögen des Angehörigen erwartet werden kann. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar, wobei die entsprechende Beweislast bei dem Hilfebedürftigen liegt (Brühl/Schoch in LPK/SGB II, 2. Aufl. § 9 RdNr. 59). Zwar verfügt die Mutter der Antragstellerin über ein Renteneinkommen von ca. 1500 EUR monatlich, mit dem sie angesichts der geringen laufenden Kosten für das von ihr bewohnte Haus grundsätzlich in der Lage wäre, der Antragstellerin Leistungen zum Lebensunterhalt zukommen zu lassen. Denn selbst nach Berücksichtigung der in § 1 Abs. 2 der Alg II-Verordnung (Alg II-V) vorgesehenen Abzüge und Freibeträge verbleibt ihr nach der Berechnung des Antragsgegners ein überschießendes Einkommen von 649,91 EUR, von welchem die Hälfte (= 324,96 EUR) grundsätzlich als der Antragstellerin zufließendes Leistung anzusehen wäre (vgl. zu der Regelung des § 1 Abs. 2 Alg II-V unter Hinweis auf die möglicherweise zu niedrig angesetzten Freibeträge Bundessozialgericht, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 6/06 R -, SozR 4-4200 § 20 Nr. 2). Die im Rahmen dieses Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes durchgeführte Beweisaufnahme hat aber zur Überzeugung des Senats ergeben, dass aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles solche Leistungen von der Mutter der Antragstellerin nicht erwartet werden können. Dies beruht zunächst einmal darauf, dass die Mutter angesichts ihres Alters sich derzeit darauf vorbereitet, in eine betreute Wohnform zu wechseln, da sie sich der Bewältigung des Alltages nicht mehr ganz gewachsen fühlt. Hierfür werden unter anderem erhöhte finanzielle Aufwendungen auf sie zukommen, die ein Teil ihres Renteneinkommens beanspruchen werden. Sie ist auch deshalb glaubhaft darum bemüht, aus ihrem Renteneinkommen Rücklagen zu bilden. Außerdem hat sie glaubhaft darlegen können, dass sie wegen der bereits erfolgten und weiterer, anstehender Reparaturen des ihr gehörenden Hauses in der Vergangenheit und derzeit in erheblichem Umfang darauf angewiesen war und ist, Ansparleistungen zu erbringen, um die Reparaturen bezahlen zu können. So hat sie im letzten Jahr 16.000 EUR für den Ersatz von Fenstern und Türen aufbringen müssen und muss in absehbarer Zeit mit erheblichen Aufwendungen für eine Neueindeckung des Daches Sorge tragen, welches noch mit asbesthaltigen Eternitplatten gedeckt ist und deshalb - unabhängig von seiner inzwischen vierzigjährigen Lebensdauer - dringend erneuert werden muss.

Angesichts dieser konkreten Situation und der Tatsache, dass die Mutter der Antragstellerin, die seit 36 Jahren Witwe ist, der Antragstellerin ein Studium und einen Berufseinstieg ermöglicht hat, lassen es als unzumutbar erscheinen, dass sie die Notwendigkeit der Erhaltung des Hauses und die Sicherung ihres Lebensabends gegenüber dem Lebensunterhalt ihrer Tochter zurückstellt. Jedenfalls ist es glaubhaft, dass ihre derzeitige Hilfe aus ihrer Sicht nur eine darlehensweise Überbrückung der derzeitigen Notlage sein soll und nicht eine dauerhafte Unterstützung ihrer Tochter, die ohnehin aufgrund ihrer bisherigen Lebensgeschichte und ihrer Lebensumstände in hohem Maße selbst verpflichtet ist, sich um ihren Lebensunterhalt zu bemühen und nicht den Lebensabend ihrer Mutter zu belasten.

Zwar ist es in der Rechtsprechung bislang nicht zweifelsfrei geklärt, wann und unter welchen Umständen die Vermutung des § 9 Abs. 5 SGB II widerlegt ist. Betrachtet man die Gesetzesgeschichte, so wird erkennbar, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers an eine Widerlegung relativ geringe Anforderungen zu stellen sind. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es hierzu nämlich, dass im Regelfall eine Glaubhaftmachung oder zweifelsfreie Versicherung ausreichen könne (BT-Drs. 15/1514, 61). Damit hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass er im wesentlichen eine Regelung im Sinne einer Verwaltungsvereinfachung beabsichtigt. Nur zweifelsfrei geleistete Hilfe durch Angehörige soll anpruchsmindernd oder -ausschließend berücksichtigt werden. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil sich in diesem Punkt das Sozialleistungsrecht des SGB II deutlich vom zivilen Unterhaltsrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch entfernt hat. Der Senat hält die Vermutung aufgrund der Angaben der Antragstellerin und der Aussagen der Zeugin für widerlegt.

Da die einstweilige Anordnung der Abwendung einer gegenwärtigen Notlage dient, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Senats eine Leistungsbewilligung in der Regel frühestens ab dem Eingang des entsprechenden Antrages beim SG erfolgen, weshalb der Beginn der Leistungsverpflichtung auf den 27. September 2007 bestimmt wird. In Ausübung des dem Gericht im Rahmen des § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 938 Abs. 1 der Zivilprozessordnung eingeräumten Ermessens begrenzt der Senat die einstweilige Anordnung bis auf Ende Januar 2008. Dies beruht unter anderem darauf, dass mit diesem Monat der derzeitige Bewilligungszeitraum endet und für die Folgezeit ohnehin ein neuer Antrag zu stellen ist. Bis dahin wird aber möglicherweise auch eine Klärung in dem anhängigen Hauptsacheverfahren vor dem SG Reutlingen (S 2 AS 3764/07) erfolgt sein. Der Antragstellerin bleibt es unbenommen, ggf. für den Folgezeitraum eine neue einstweilige Anordnung zu beantragen, falls der Antragsgegner im Anschluss eine von dieser einstweiligen Anordnung abweichende Regelung treffen sollte.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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