L 13 J 113/92

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 9 J 319/88
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 13 J 113/92
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. November 1991 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit streitig.

Die 1945 in Frankreich geborene Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Sie legte von 1961 bis 1971 Versicherungszeiten als Hotelangestellte/Serviererin in Frankreich zurück. Nachfolgend war die Klägerin sodann in Deutschland – unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit – bis zum 7. Februar 1987 – unter anderem auch in Restaurants ihres Ehemannes – als Büfettkraft und Serviererin sozialversicherungspflichtig erwerbstätig. Von Dezember 1985 bis Juli 1986 betätigte sich die Klägerin als selbständige Textileinzelhändlerin. Nach dem Bezug von Arbeitslosengeld war sie schließlich in der Zeit vom 1. September 1987 bis zum 7. April 1988 (halbtags) als Verkäuferin in einem Antiquitätengeschäft tätig. Nachfolgend bezog die Klägerin bis zur Erschöpfung des Leistungsanspruchs am 15. November 1988 Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe.

Bereits am 11. März 1987 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit und legte einen Befundbericht des prakt. Arztes Dr. med. D. vom 25. Februar 1987 vor. Auf Veranlassung der Beklagten wurde sie daraufhin am 12. August 1987 durch die Medizinaloberrätin Dr. med. K.-S. sowie am 20. August 1987 durch den Orthopäden Dr. med. K. in der Sozialärztlichen Dienststelle Wiesbaden untersucht.

In seinem Gutachten vom 20. August 1987 diagnostizierte Dr. med. K. bei der Klägerin ein Halswirbelsäulen-Schultersyndrom mit leichtem Reizzustand des linken Schultergelenks bei degenerativer Verschleißerkrankung, Interkostalneuralgien bei einer beginnenden degenerativen Verschleißerkrankung der Brustwirbelsäule und Wirbelsäulenfehlhaltung, Venenerweiterungen mittleren Grades, geringe X-Knie und leichte Knick-Senk-Füße als Zeichen einer Bindegewebsschwäche sowie eine Bauchdeckenschwäche nach mehrmaligen gynäkologischen Operationen.

Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen mutete Dr. med. K. der Klägerin noch leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 12 kg Gewicht, ohne Zwangshaltung, ohne überwiegend einseitige Körperhaltung, ohne Über-Kopf-Arbeiten sowie ohne häufiges Bücken) vollschichtig zu.

Die Medizinaloberrätin Dr. med. K.-S. diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 26. August 1987 bei der Klägerin außerdem eine euthyreote Struma, eine korrigierbare Sehschwäche, eine reizlose Narbe an der linken Brust sowie eine reizlose Narbe nach Leistenbruchoperation beidseits. In Übereinstimmung mit dem Orthopäden Dr. med. K. erachtete sie die Klägerin noch für fähig, leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (in wechselnder Körperhaltung, nicht ausschließlich im Stehen sowie ohne häufiges Bücken) vollschichtig zu verrichten.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin daraufhin mit Bescheid vom 23. September 1987 ab und führte zur Begründung aus, die Klägerin könne unter Berücksichtigung der festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen mit Einschränkungen noch leichte körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten, so daß keine Berufsunfähigkeit und erst recht keine Erwerbsunfähigkeit vorliege. Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 8. März 1988 als unbegründet zurück.

Die Klägerin erhob daraufhin am 11. April 1988 Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden. Sie machte geltend, daß ihre Gesundheitsstörungen seitens der Beklagten nicht ausreichend gewürdigt worden seien.

Die Beklagte vertrat demgegenüber unter Bezugnahme auf die im Verwaltungsverfahren sowie auf die im sozialgerichtlichen Verfahren von Amts wegen eingeholten ärztlichen Gutachten die Auffassung, daß bei der Klägerin eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß nicht nachgewiesen sei.

Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Frauenarztes Dr. med. P. vom 17. Mai 1988, des Laborarztes Dr. Dr. med. Sch. vom 18. Mai 1988, des Orthopäden Dr. med. S. vom 31. Mai 1988 und vom 11. März 1991, des prakt. Arztes Dr. med. D. vom 15. Juli 1988, des Frauenarztes Dr. med. H. vom 24. Oktober 1988 sowie des Internisten Dr. med. D. vom 31. Mai 1990 eingeholt und die die Klägerin betreffenden ärztlichen Unterlagen des Arbeitsamts Wiesbaden sowie des Kreiskrankenhauses Bad So den beigezogen.

Es ist von Amts wegen Beweis erhoben worden durch Einholung eines fachärztlichen Sachverständigengutachtens bei dem Orthopäden Dr. med. M ... In seinem Gutachten vom 20. Januar 1989 diagnostizierte Dr. med. M. im Anschluß an eine ambulante Untersuchung vom 13. Januar 1989 bei der Klägerin ein muskuläres Reizsyndrom der Halswirbelsäule, ein sensibles Carpaltunnelsyndrom rechts mit nächtlichem Armschmerz, eine tiefreichende leichtgradige Hyperkyphose der Brustwirbelsäule, statisch muskulär weitgehend kompensiert, sowie eine primäre Varicose beider Beine bei Zustand nach operativer Entfernung der großen Schenkelvene beidseits ohne Blutrückflußstörungen. Er wies darauf hin, daß bei der Klägerin eine das bei einer Gutachtenssituation übliche und nachvollziehbare Maß bei weitem übersteigende Verdeutlichungstendenz sowie ein erheblicher Redefluß von appellativem Charakter bei weinerlichem Timbre der Stimme vorlägen. Der Sachverständige mutete der Klägerin unter Berücksichtigung der festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (in wechselnder Körperhaltung, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 kg Gewicht, ohne Zwangshaltung im rechten Handgelenk, ohne besondere Anforderungen an die Sensibilität der Fingerbeeren der rechten Hand sowie ohne Gefährdung durch Kälte oder Nässe) vollschichtig zu. In einer vom Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 31. Mai 1990 bekräftigte Dr. med. M. die von ihm abgegebene Beurteilung.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind ferner der von ihr benannte Orthopäde Dr. med. B. sowie der von ihr benannte Chirurg Prof. Dr. med. T. gutachtlich gehört worden.

Der Orthopäde Dr. med. B. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 5. Februar 1990 im Anschluß an eine ambulante Untersuchung vom 30. August 1989 bei der Klägerin ein Halswirbelsäulensyndrom bei ungünstiger Statik, leichter Gefügelockerung und das Altersmaß deutlich überschreitenden degenerativen Veränderungen, ein Brustwirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulensyndrom bei leichter Skoliose und Hyperlordose, einen kapsulären Knieschmerz beidseits, ein Carpaltunnelsyndrom sowie eine venöse Insuffizienz beider Beine ohne Ödembildung. Unter weitgehender Übereinstimmung mit den Vorgutachtern Dr. med. K. und Dr. med. M. vertrat Dr. med. B die Auffassung, daß die Klägerin noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltung, ohne Über-Kopf-Arbeiten, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 kg Gewicht sowie ohne monotone Tätigkeiten der rechten Hand) vollschichtig verrichten könne.

Der Chirurg Prof. Dr. med. T. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 12. April 1991 im Anschluß an eine ambulante Untersuchung vom 21. März 1991 bei der Klägerin eine reduzierte Sensibilität und reduzierte Kraftausübung im Bereich der rechten Hand, eine erhebliche Beeinträchtigung im Bereich der Lendenwirbelsäule und der Halswirbelsäule, erhebliche Schmerzen und eine Ödembildung im Bereich beider unterer Extremitäten sowie Schmerzen und eine Schwellsymptomatik im Bereich des Unterbauchs. Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen mutete Prof. Dr. med. T. der Klägerin nur noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (ohne Wechselschicht, ohne Nachtschicht, ohne besonderen Zeitdruck, ohne Zwangshaltungen, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 kg Gewicht, ohne Witterungseinflüsse, ohne Gefährdung durch Kälte, ohne Anmarschwege von mehr als 300 m Länge sowie nur unter Einhaltung einer Arbeitspause nach der ersten stunde) für die Dauer von nicht mehr als zwei Stunden täglich zu. Das so beschriebene Leistungsvermögen bestehe bereits seit der Rentenantragstellung im März 1987.

Durch Urteil vom 15. November 1991 hat das Sozialgericht die Beklagte sodann unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, der Klägerin für die Zeit ab 1. April 1987 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht auf die bei der Klägerin vorliegende Multi-Morbidität hingewiesen und sich im wesentlichen auf das Gutachten des Chirurgen Prof. Dr. med. T. vom 12. April 1991 gestützt.

Gegen das ihr am 14. Januar 1992 zugestellte Urteil des Sozialgerichts hat die Beklagte am 10. Februar 1992 Berufung eingelegt. Sie vertritt die Auffassung, daß die vom Chirurgen Prof. Dr. med. T. vertretene Leistungsbeurteilung unter Berücksichtigung der sonstigen vorliegenden medizinischen Unterlagen einer objektiven Nachprüfung nicht standzuhalten vermöge. Im übrigen sei zu beachten, daß die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Rentenanspruch bei einem erst nach April 1989 eintretenden Versicherungsfall nicht mehr erfüllt seien.

Die Beklagte, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 20. Januar 1995 nicht vertreten gewesen ist, beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. November 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen ein fachärztliches Sachverständigengutachten bei dem Orthopäden W. eingeholt. In seinem Gutachten vom 24. September 1992 diagnostiziert der Orthopäde W. im Anschluß an eine ambulante Untersuchung vom 19. August 1992 bei der Klägerin ein chronisches cervikales Weichteilsyndrom (mit kyphotischer Knickbildung, Gefügestörung, Spondylose, Osteochondrose und Unkovertebralarthrose sowie Spinalstenose mit mehr als zweidritteliger schmerzhafter Funktionsstörung sowie Muskelkraftminderung der rechten Hand und Funktionsstörung), ein Carpaltunnelsyndrom beidseits, rechtsseitig bei Zustand nach unbefriedigendem Operationsergebnis, ein Fibromyalgiesyndrom, ein chronisches lumbales Weichteilsyndrom bei Spondylose mit dritteliger bis hälftiger Funktionseinschränkung, einen Zustand nach Cosektomie und Venenstripping beider Beine mit Schwellneigung sowie eine Adipositas, Genua valga und Senk-Spreizfüße. Zum Leistungsvermögen führt er aus, die Klägerin könne unter Berücksichtigung der festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltung, ohne überwiegend einseitige Körperhaltung, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 bis 10 kg Gewicht, nicht auf Leitern und Gerüsten, ohne besondere Kraftentfaltung der Wirbelsäule oder der Arme sowie ohne Gefährdung durch Kälte oder Nässe) vier bis sechs Stunden täglich verrichten. Dieses Leistungsvermögen bestehe bei der Klägerin seit der Rentenantragstellung im März 1987.

Es ist außerdem von Amts wegen ein neurologisches Zusatzgutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. R. eingeholt worden. In seinem Gutachten vom 10. November 1992 gelangt Dr. med. R. im Anschluß an eine ambulante Untersuchung vom 5. November 1992 zu dem Ergebnis, daß sich eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin aus neurologischer Sicht im wesentlichen nur hinsichtlich des rechten Armes ergebe. Anhaltspunkte für eine psychiatrische Erkrankung der Klägerin in rentenberechtigendem Ausmaß seien nicht erkennbar.

Der Senat hat außerdem eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen W. vom 14. September 1993 eingeholt und den Sachverständigen W. im Erörterungstermin vom 28. Oktober 1993 zur Erläuterung seines Gutachtens angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird Bezug genommen auf die den Erörterungstermin betreffende Sitzungsniederschrift.

Nach Beiziehung der die Klägerin betreffenden Leistungsakten und ärztlichen Unterlagen des Arbeitsamts Wiesbaden ist sodann von Amts wegen weiter Beweis erhoben worden durch Einholung eines fachärztlichen Sachverständigengutachtens bei dem Nervenarzt Dr. med. B ... In seinem Gutachten vom 28. Juni 1994 diagnostiziert Dr. med. B. im Anschluß an eine in der Zeit vom 21. Juni 1994 bis zum 23. Juni 1994 durchgeführte stationäre Untersuchung der Klägerin sowie unter Auswertung eines von dem Dipl.-Psych. W. erstatteten Zusatzgutachtens vom 23. Juni 1994 eine somatoforme Schmerzstörung, einen Zustand nach Operation eines Carpaltunnelsyndroms rechts sowie ein Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom. Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen könne die Klägerin nur noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (ohne besonderen Zeitdruck, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von schweren Lasten, in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltung, nicht auf Leitern und Gerüsten, ohne übermäßige Beanspruchung der rechten Hand sowie ohne Gefährdung durch Kälte oder Nässe) vollschichtig verrichten. Das so beschriebene Leistungsvermögen bestehe seit April 1989.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der die Klägerin betreffenden Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 20. Januar 1995 in der Sache verhandeln und eine Entscheidung treffen, obwohl die Beklagte nicht vertreten gewesen ist. Denn alle Beteiligten sind rechtzeitig und ordnungsgemäß geladen und dabei darauf hingewiesen worden, daß auch im Falle ihrer Abwesenheit verhandelt und entschieden werden könne.

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. November 1991 ist aufzuheben. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23. September 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 1988 ist zu Recht ergangen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit und erst recht keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Da die Klägerin bereits für die Zeit vor dem 1. Januar 1992 einen Anspruch auf Rentengewährung erhebt und den entsprechenden Rentenantrag vor dem 31. März 1992 gestellt hat, sind gemäß § 300 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) im vorliegenden Fall zunächst noch die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung in der vor Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2261) maßgeblichen Fassung anzuwenden.

Rente wegen Berufsunfähigkeit erhält gemäß § 1246 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO), wer berufsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine Versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit ist der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl. I S. 1532) in das Gesetz eingefügten Vorschrift des § 1246 Abs. 2 a Satz 1 Nr. 1 RVO zufolge eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unter anderem dann ausgeübt worden, wenn von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt der Berufsunfähigkeit mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine Versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind. Dabei werden gemäß § 1246 Abs. 2 a Satz 2 RVO bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate nach Satz 1 die im Gesetz im einzelnen aufgeführten sog. Aufschubzeiten (insbesondere Ersatzzeiten und Ausfallzeiten) nicht mitgezählt. Die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit ist der Vorschrift des § 1246 Abs. 3 RVO zufolge erfüllt, wenn vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist.

Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält gemäß § 1247 RVO unter den gleichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, wer erwerbsunfähig ist.

Nach der Übergangsvorschrift des Artikel 2 § 6 Abs. 1 Satz 1 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) gelten § 1246 Abs. 1 sowie § 1247 Abs. 1 RVO in der am 31. Dezember 1983 geltenden alten Fassung auch für Versicherungsfälle nach diesem Zeitpunkt, wenn der Versicherte

1) vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat und

2) jeden Kalendermonat in der Zeit vom 1. Januar 1984 bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalles mit Beiträgen oder den bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate nach § 1246 Abs. 2 a RVO nicht mitzuzählenden Zeiten belegt hat.

Satz 1 gilt für Versicherungsfälle bis zum 30. Juni 1984 auch, ohne daß die Voraussetzungen der Nr. 2 vorliegen. Für Versicherungsfälle in der Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 1984 gilt Satz 1 auch, wenn die Voraussetzungen der Nr. 2 im ersten Kalenderhalbjahr 1984 vorliegen.

Die Wartezeit der §§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3 a RVO von 60 Kalendermonaten Versicherungszeit für einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist im Falle der Klägerin unter Berücksichtigung der von ihr zurückgelegten Beitragszeiten unstreitig erfüllt. Gleichwohl scheitert ihr Rentenbegehren jedoch an der fehlenden Erfüllung von versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, weil weder die nach neuem Recht geforderten Zugangsvoraussetzungen der §§ 1246 Abs. 2 a, 1247 Abs. 2 a RVO erfüllt sind, noch eine von der Übergangsregelung des Artikel 2 § 6 ArVNG erfaßte Fallkonstellation gegeben ist.

Bei Anwendung der zum 1. Januar 1984 in das Gesetz eingefügten Vorschriften der §§ 1246 Abs. 2 a, 1247 Abs. 2 a RVO muß das Rentenbegehren der Klägerin im Ergebnis daran scheitern, daß zwischen ihrem Ausscheiden aus dem Kreis der versicherungspflichtig Erwerbstätigen und dem Eintritt des Versicherungsfalls der Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit eine zu große Zeitspanne liegt.

Ausweislich des zwischen den Beteiligten unstreitigen Versicherungsverlaufs vom 22. Februar 1994 hat die Klägerin in der gesetzlichen Rentenversicherung nämlich die letzten 36 Monatsbeiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in der Zeit von Mai 1983 bis April 1988 entrichtet und innerhalb dieses Zeitraums insgesamt 11 Monate Aufschubzeiten (Ausfallzeiten wegen Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit) zurückgelegt. Zur Erfüllung der in §§ 1246 Abs. 2 a, 1247 Abs. 2 a RVO genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen könnten diese rentenrechtlichen Zeiten freilich nur dann dienen, wenn sie innerhalb der – hier gemäß § 1246 Abs. 2 a Satz 2, § 1247 Abs. 2 a RVO um die nachgewiesenen 11 Monate Aufschubzeiten erweiterten – Rahmenfrist von 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalls liegen würden. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Klägerin entweder – entsprechend den Berechnungen der Beklagten – spätestens im April 1989 in medizinischer Hinsicht berufsunfähig oder gar erwerbsunfähig geworden wäre oder aber jedenfalls von diesem Zeitpunkt an bis zum späteren Eintritt des Versicherungsfalls die dann erforderlichen weiteren sog. Aufschubzeiten zurückgelegt hätte. Ein dementsprechender Geschehensverlauf ist indes nicht nachgewiesen.

Bei Anwendung der Übergangsregelung des Artikel 2 § 6 ArVNG könnte ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Versichertenrenten nur dann bejaht werden, wenn im Sinne des Artikel 2 § 6 Abs. 2 Satz 2 ArVNG der Versicherungsfall spätestens bis zum 30. Juni 1984 eingetreten sein würde. Denn die Klägerin hat von der ihr durch Artikel 2 § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ArVNG eingeräumten Möglichkeit, zur Aufrechterhaltung der nach altem Recht begründeten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Zeit ab 1. Januar 1984 freiwillige Beiträge zu entrichten, keinen Gebrauch gemacht, und es sind im maßgeblichen Zeitraum auch keine gleichgestellten anwartschaftserhaltenden Zeiten in lückenloser Folge nachgewiesen. Die Zeit zwischen November 1985 und August 1986 ist im Versicherungsverlauf nicht mit rentenrechtlichen Zeiten belegt, weil die Klägerin in der Zeit ihrer Selbständigkeit als Textileinzelhändlerin ("C. M.”) keinerlei Rentenversicherungsbeiträge entrichtet hat.

Nach Überzeugung des Senats kann es entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht als bewiesen angesehen werden, daß der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit im vorliegenden Fall spätestens im April 1989 eingetreten ist.

Nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.

Die Klägerin konnte zur Überzeugung des Senats jedoch zumindest bis Ende August 1989 noch einer geregelten Erwerbstätigkeit vollschichtig nachgehen und auf diese Weise zumindest noch die Hälfte der Einkünfte einer mit ihr vergleichbaren Versicherten (sog. gesetzliche Lohnhälfte) erzielen. Diese Beurteilung des Leistungsvermögens ergibt sich unter Berücksichtigung aller Einzelumstände des vorliegenden Falles aus einer Gesamtschau der über den Gesundheitszustand der Klägerin vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen und medizinischen Gutachten.

Bei der inzwischen 49 Jahre alten Klägerin liegen hauptsächlich Gesundheitsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet vor. Auf internistischem Fachgebiet konnte die Medizinaloberrätin Dr. med. K.-S. im sozialärztlichen Gutachten vom 26. August 1987 lediglich eine – nicht das Leistungsvermögen beeinträchtigende – euthyreote Struma diagnostizieren, und Anhaltspunkte für das Vorliegen weiterer internistischer Leiden sind weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.

Auch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet konnten bei der Klägerin keine weitreichenden Leiden von echtem Krankheitswert festgestellt werden. Im neurologischen Zusatzgutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. R. vom 10. November 1992 wird lediglich auf Restsymptome eines im Jahre 1989 operierten Carpaltunnelsyndroms am rechten Arm hingewiesen, und der Sachverständige Dr. med. B. gelangt in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 28. Juni 1994 zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet eine sog. somatoforme Schmerzstörung vorliege, die nicht als Neurose mit echtem Krankheitswert angesehen werden könne und einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nicht entgegenstehe.

Von selten des für die Beurteilung des Restleistungsvermögens der Klägerin ausschlaggebenden orthopädischen Fachgebiets liegen insgesamt 5 Gutachten vor: Das aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 20. August 1987 erstattete Gutachten des Orthopäden Dr. med. K. vom 20. August 1987, das aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 13. Januar 1989 von Amts wegen erstattete Gutachten des Orthopäden Dr. med. M. vom 20. Januar 1989, das aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 30. August 1989 gemäß § 109 SGG erstattete Gutachten des Orthopäden Dr. med. B. vom 5. Februar 1990, das aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 21. März 1991 gemäß § 109 SGG erstattete Gutachten des Chirurgen Prof. Dr. med. T. vom 12. April 1991 und schließlich das im Berufungsverfahren aufgrund einer ambulanten Untersuchung am 19. August 1992 von Amts wegen erstattete Gutachten des Orthopäden W. vom 24. September 1992. Von sprachlichen Eigenheiten abgesehen, werden dabei in allen Gutachten mit weitestgehender Übereinstimmung dieselben Gesundheitsbeeinträchtigungen diagnostiziert, nämlich ein Halswirbelsäulensyndrom, ein Carpaltunnelsyndrom, ein Brustwirbelsäulen- und Lendenwirbelsäulensyndrom sowie eine venöse Insuffizienz an beiden Beinen. Der Sachverständige W. nennt in seinem Gutachten vom 24. September 1992 überdies als gewissermaßen übergreifende Diagnose erstmals ein sog. Fibromyalgiesyndrom. Daß bei der Klägerin die genannten Leiden tatsächlich vorliegen, kann bei dieser Sachlage zur Überzeugung des Senats nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Es kann andererseits aber auch nicht übersehen werden, daß die genannten Gutachter bei der Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin zu deutlich voneinander abweichenden Ergebnissen gelangen. Während Dr. med. K., Dr. med. M. und Dr. med. B. der Klägerin noch eine vollschichtige Erwerbstätigkeit zumuten, gelangen Prof. Dr. med. T. ("unter zweistündig”) und der Orthopäde W. ("halb- bis untervollschichtig”) zur Annahme einer deutlichen quantitativen Leistungseinschränkung. Soweit die befragten Gutachter sich für ihre Beurteilung auf den Zeitpunkt der jeweiligen gutachtlichen Untersuchung beziehen, ergibt sich insoweit freilich ein gerade beim Vorliegen von degenerativen Verschleißerkrankungen nicht ungewöhnliches Bild. Gesundheitsbeeinträchtigungen, die im Anfangs Stadium zunächst "nur” qualitative Leistungseinschränkungen nach sich ziehen, verfestigen und verstärken sich im Laufe der Jahre derart, daß schließlich auch eine Einschränkung des Leistungsvermögens in quantitativer Hinsicht hinzutritt. Ob das Restleistungsvermögen der Klägerin dabei im vorliegenden Fall schließlich auf "unter zweistündig” (Prof. Dr. med. T.) oder aber lediglich auf "halb- bis untervollschichtig” (Orthopäde W.) herabgesunken ist, mag dahingestellt bleiben. Denn aus den oben dargelegten versicherungsrechtlichen Gründen kommt es maßgeblich auf das für April 1989 feststellbare Leistungsvermögen der Klägerin an, und bezogen auf diesen Zeitpunkt kann eine quantitative Leistungseinschränkung zur Überzeugung des Senats jedenfalls noch nicht als bewiesen angesehen werden.

Zwar vertreten sowohl Prof. Dr. med. T. als auch der Orthopäde W. in ihren Gutachten die Auffassung, daß das von ihnen ermittelte Leistungsvermögen der Klägerin "seit der Rentenantragstellung im Mai 1987” gelte. Beide Sachverständige haben indes nicht überzeugend darlegen können, weshalb ihre aufgrund einer gutachtlichen Untersuchung vom 21. März 1991 (Prof. Dr. med. T.) bzw. vom 19. August 1992 (Orthopäde W.) abgegebene Leistungsbeurteilung bezogen auf den entscheidungserheblichen Zeitpunkt (April 1989) bei weitgehender Übereinstimmung hinsichtlich der diagnostizierten Gesundheitsbeeinträchtigungen von größerer Zuverlässigkeit sein soll als die zeitnah abgegebenen Beurteilungen des Sachverständigen Dr. med. M. (Untersuchung vom 13. Januar 1989) und des gemäß § 109 SGG gehörten Orthopäden Dr. med. B. (Untersuchung vom 30. August 1989).

Zweifel daran, ob die Gutachter Prof. Dr. med. T. und W. das Leistungsvermögen der Klägerin rückschauend "besser” zu beurteilen vermögen als diejenigen Gutachter, die ihre Leistungsbeurteilung auf zeitnah im Jahre 1989 erhobene Untersuchungsergebnisse stützen konnten, ergeben sich nicht nur aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung. Es ist vielmehr darauf hinzuweisen, daß der die Klägerin behandelnde Orthopäde Dr. med. S. im Verlaufe des sozialgerichtlichen Verfahrens zwei Befundberichte abgegeben und dabei im ersten Befundbericht vom 31. Mai 1988 (letzte Untersuchung am 18. April 1988) noch mitgeteilt hat, daß bei Vorliegen von "mäßigen” degenerativen Wirbelsäulenveränderungen "keine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt” worden sei, während er im nachfolgenden Befundbericht vom 11. März 1991 (letzte Untersuchung am 17. Dezember 1990) darauf hinweist, daß "seit 1988 (eine) deutliche Verschlechterung des Befundes” zu verzeichnen sei. Bei dieser Sachlage kann es zur Überzeugung des Senats nicht als bewiesen angesehen werden, daß die in der Begutachtung von Rentenbewerbern langjährig erfahrenen Orthopäden Dr. med. M. und Dr. med. B. in ihren zeitnah erstellten Gutachten von einer unzutreffenden Leistungsbeurteilung ausgegangen sind und daß stattdessen die Gutachter Prof. Dr. med. T. und W. das Restleistungsvermögen der Klägerin rückschauend "besser” beurteilen konnten. Vielmehr ergibt sich bei verständiger Würdigung aller Einzelumstände, daß die Klägerin zumindest bis Ende August 1989 (gutachtliche Untersuchung bei Dr. med. B.) noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Einschränkungen (in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltung, ohne überwiegend einseitige Körperhaltung, ohne Über-Kopf-Arbeiten, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 kg Gewicht, ohne übermäßige Beanspruchung der rechten Hand sowie ohne Gefährdung durch Kälte oder Nässe) vollschichtig verrichten konnte.

Unter Berücksichtigung ihres noch vorhandenen Leistungsvermögens war die Klägerin damit jedenfalls im April 1989 noch nicht berufsunfähig. Denn ihre Erwerbsfähigkeit war nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken.

Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt nämlich gemäß § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO alle Tätigkeiten, die (objektiv) ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Das Gesetz räumt den Versicherten einen Anspruch auf Gewährung von Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit also nicht bereits dann ein, wenn sie ihren – versicherungspflichtig ausgeübten – "bisherigen Beruf” bzw. ihre "bisherige Berufstätigkeit” aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können. Vielmehr wird von den Versicherten verlangt, daß sie – immer bezogen auf ihren "bisherigen Beruf” – einen "zumutbaren” beruflichen Abstieg in Kauf nehmen und sich vor Inanspruchnahme der Rente mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden geben (vgl. BSGE 41, 129, 131 = SozR 2200 § 1246 Nr. 11). Nur wer sich nicht in dieser Weise auf einen anderen Beruf "verweisen” lassen muß, ist berufsunfähig im Sinne des Gesetzes.

Das zur Ausfüllung dieser Rechtssätze von der Rechtsprechung entwickelte sog. Mehr-Stufen-Schema unterscheidet dabei für Arbeiterberufe die Gruppe mit dem Leitberuf der Ungelernten – als unterste Gruppe –, die mittlere Gruppe mit dem Leitberuf der Angelernten, schließlich die Gruppe mit dem Leitberuf der Gelernten (Facharbeiter) und darüber die zahlenmäßig kleine Gruppe mit dem Leitberuf der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion bzw. der Facharbeiter mit besonders qualifizierten Tätigkeiten. Als im Sinne von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO zumutbaren beruflichen Abstieg hat die angeführte Rechtsprechung jeweils den Abstieg zur nächstniedrigeren Gruppe angenommen. Unabhängig davon können Versicherte mit dem Leitberuf der Ungelernten auf das gesamte allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden (vgl. etwa BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr. 107 m.w.N. – ständige Rechtsprechung).

Ausgehend von diesen in ständiger Rechtsprechung vom Bundessozialgericht entwickelten und nach Auffassung des Senats sachgerechten Grundsätzen kann die Klägerin im vorliegenden Fall nicht für sich in Anspruch nehmen, daß sie mit dem ihr verbliebenen Restleistungsvermögen bereits im April 1989 berufsunfähig gewesen sei. Denn die Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung und sie war für die gesamte Dauer ihres Erwerbslebens ausschließlich in ungelernten bzw. angelernten Berufen erwerbstätig, so daß sie sich zur Verwertung ihres Restleistungsvermögens sozial zumutbar auf sämtliche ihrem Gesundheitszustand entsprechenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes hätte verweisen lassen müssen. Ob die Klägerin dabei im maßgeblichen Zeitraum noch dazu in der Lage war, ihre frühere Tätigkeit als Serviererin fortzusetzen mag dahinstehen, denn jedenfalls hätte die Klägerin eine andere ungelernte Tätigkeit, die nur mit leichten körperlichen Anforderungen verbunden ist, noch vollschichtig verrichten können.

Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist bei Versicherten, die sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen müssen, grundsätzlich nicht geboten. Denn es gibt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Vielzahl von ungelernten Tätigkeiten, die nur mit leichten körperlichen Anforderungen verbunden sind. Das ist offenkundig und braucht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich nicht in jedem Einzelfall aufs Neue belegt zu werden. Es kann vielmehr davon ausgegangen werden, daß es in der Regel auch für Versicherte, deren Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist, noch Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in nennenswertem Umfang gibt.

Bei der Klägerin lagen unter Berücksichtigung des vom Senat festgestellten Leistungsvermögens auch keine besonderen Umstände vor, die die Ausübung solcher Tätigkeiten in ungewöhnlicher Weise erschweren. Für eine auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbare ungelernte Versicherte ist die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten nur erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung festgestellt ist (vgl. BSG vom 1. März 1984 – 4 RJ 43/83 = SozR 2200 § 1246 Nr. 117 unter Hinweis auf BSG vom 30. November 1982 – 4 RJ 1/82) oder wenn sie wegen eines besonders gearteten Berufslebens deutlich aus dem Kreis vergleichbarer Versicherter herausfällt (vgl. BSG vom 18. Februar 1981 – 1 RJ 124/79 BSG vom 27. April 1982 – 1 RJ 132/80). Gravierende Einschränkungen in diesem Sinne lagen bei der Klägerin aber jedenfalls in der Zeit bis April 1989 (noch) nicht vor.

Schließlich kann die Klägerin auch nicht damit gehört werden, daß ihre vom Senat festgestellte Resterwerbsfähigkeit im Arbeitsleben wegen der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr verwertbar gewesen sei. Denn es gab jedenfalls in der Zeit bis April 1989 auf dem für die Klägerin in Betracht kommenden Arbeitsmarkt noch eine nennenswerte Zahl von Tätigkeiten, die sie trotz ihres eingeschränkten Leistungsvermögens hätte ausüben können.

Ob die betreffenden Arbeitsplätze frei waren oder besetzt, ist für die Entscheidung des vorliegenden Falles unerheblich, denn die Erwerbsfähigkeit einer Versicherten, die wie die Klägerin noch vollschichtig einsatzfähig ist, hängt nicht davon ab, ob das Vorhandensein von für sie offenen Arbeitsplätzen für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten konkret festgestellt werden kann oder nicht. Der im Sinne der sog. konkreten Betrachtungsweise auf die tatsächliche Verwertbarkeit der Resterwerbsfähigkeit abstellende Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts (vgl. BSG vom 10. Dezember 1976 SozR 2200 § 1246 Nr. 13) kann bei noch vollschichtig einsatzfähigen Versicherten grundsätzlich nicht herangezogen werden. Ausnahmen können allenfalls dann in Betracht kommen, wenn eine Versicherte nach ihrem Gesundheitszustand nicht dazu in der Lage ist, die an sich zumutbaren Arbeiten unter den in der Regel in den Betrieben üblichen Bedingungen zu verrichten, oder wenn sie außerstande ist, Arbeitsplätze dieser Art von ihrer Wohnung aus aufzusuchen (vgl. BSG vom 27. Februar 1980 – 1 RJ 32/79). Ein solcher Ausnahmefall kann vorliegend jedoch nicht bejaht werden.

Nach alledem war die Klägerin in der Zeit bis April 1989 noch nicht berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO. Die weitergehenden Voraussetzungen für das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO waren damit erst recht nicht erfüllt. Denn erwerbsunfähig ist eine Versicherte dieser Vorschrift zufolge erst dann, wenn ihr Leistungsvermögen – stärker als im Falle der Berufsunfähigkeit – so weit herabgesunken ist, daß sie infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit (überhaupt) nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann.

Der Berufung der Beklagten konnte damit im Ergebnis der Erfolg nicht versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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