L 13 AS 914/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 24 AS 6904/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 914/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. Januar 2012 abgeändert.

Der Beklagte wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger ab 9. Dezember 2011 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch als Darlehen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die einstweilige Anordnung wird - unter dem Vorbehalt des Weiterbestehens der Hilfebedürftigkeit - zeitlich begrenzt bis längstens 31. August 2012.

Der Beklagte hat dem Kläger zwei Drittel seiner außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Klägers hat teilweise Erfolg.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stuttgart vom 16. Januar 2012 ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), frist- und formgerecht eingelegt (§ 173 SGG) und damit zulässig. Sie ist auch teilweise begründet; die Beklagte ist im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Kläger für die Zeit der nachgewiesenen Rechtshängigkeit der einstweiligen Anordnung, das ist der 9. Dezember 2011, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) als Darlehen und zeitlich befristet bis 31. August 2012 zu gewähren. Soweit der Kläger die Gewährung von Leistungen als Zuschuss begehrt, ist sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unbegründet; insoweit hat das SG den Antrag zu Recht abgelehnt.

Prozessuale Grundlage des im vorläufigen Rechtsschutz verfolgten Anspruchs ist § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung setzt einen jeweils glaubhaft zu machenden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]) Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch voraus. Die Dringlichkeit einer die Hauptsache vorweg nehmenden Eilentscheidung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG (Anordnungsgrund) kann bei Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in aller Regel nur bejaht werden, wenn wegen einer Notlage über existenzsichernde Leistung für die Gegenwart und die nahe Zukunft gestritten wird und dem Antragsteller schwere schlechthin unzumutbare Nachteile entstünden, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen würde (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 25. November 2005 - L 13 AS 4106/05 ER-B). Einen finanziellen Ausgleich für die Vergangenheit, also für die Zeit vor Rechtshängigkeit des Eilverfahrens, herbeizuführen ist, von einer - hier nicht glaubhaft gemachten - in die Gegenwart fortwirkenden Notlage abgesehen, nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern des Hauptsacheverfahrens (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Juli 2006 - L 13 AS 1620/06 ER-B - veröffentlicht in Juris). Der Anordnungsanspruch hängt vom voraussichtlichen Erfolg des Hauptsacherechtsbehelfs ab und erfordert regelmäßig eine summarische Prüfung; an ihn sind um so niedrigere Anforderungen zu stellen, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen wiegen, insbesondere eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG] in NJW 2003, 1236 f. und Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - veröffentlicht in Juris). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung, hier also der Entscheidung über die Beschwerde (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 26. Juli 2006 a.a.O. m.w.N.).

In Fällen, in denen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare und durch das Hauptsacheverfahren nicht zu beseitigende Beeinträchtigungen entstehen können, ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - abgedruckt in Juris). In einem derartigen Fall muss, wenn auf die Erfolgsaussicht abgestellt wird, die Sache nicht nur summarisch, sondern abschließend geprüft werden, insbesondere wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht (BVerfG a.a.O. m.w.N.). Dann dürfen auch die Anforderungen an die Glaubhaftmachung nicht überspannt und müssen Fragen des Grundrechtsschutzes einbezogen werden (BVerfG a.a.O. m.w.N.). Ist hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, muss anhand einer grundrechtliche Belange einbeziehenden Güter- und Folgenabwägung entschieden werden, wobei die Gerichte verpflichtet sind, eine auch nur möglich erscheinende oder zeitweilige Verletzung von Grundrechten wozu wegen des Anspruchs auf Sicherung des Existenzminimums (vgl. BVerwGE 82, 364, 368) die Wahrung der Würde des Menschen (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG) gehört, zu verhindern. Dies schließt nicht aus, dass die Gerichte unter Beachtung des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache Leistungen nur mit einem Abschlag zusprechen (vgl. BVerfG a.a.O.) oder die Leistungsverpflichtung auf die darlehensweise Bewilligung beschränken, weil dies dem vorläufigen Charakter der einstweiligen Anordnung am ehesten entspricht (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 26. August 2005 - L 13 AS 3390/05 ER-B mwN).

Der Anordnungsgrund ist hier - für die Zeit ab 9. Dezember 2011 - zu bejahen, weil der Kläger glaubhaft gemacht hat, neben der Immobilie in Italien über keinerlei Einkommen und Vermögen (mehr) zu verfügen. Er ist dementsprechend zur Existenzsicherung auf das Alg II angewiesen, woraus ohne weiteres die besondere Dringlichkeit folgt. Die besondere Eilbedürftigkeit ist - ab dem Zeitpunkt der Anhängigkeit der einstweiligen Anordnung - stets zu bejahen, wenn der Anspruchsteller die ein menschenwürdiges Dasein gewährleistende Regelleistung sowie die Kosten der Unterkunft monatlich beansprucht, ohne dass er die Hilfe von anderen erhalten hat oder erhält.

Der zulässige Hauptsacherechtsbehelf ist allerdings weder offensichtlich begründet noch offensichtlich unbegründet. Nicht abschließend geklärt und, den besonderen Anforderungen des einstweiligen Anordnungsverfahrens Rechnung tragend, im Zuge des Eilverfahrens nicht abschließend aufzuklären ist insbesondere, welchen Verkehrswert das Immobilienvermögen des Klägers in Italien tatsächlich hat, ob es überhaupt verwertet werden kann, ob eine Verwertung zumutbar ist und welche Zeitdauer für eine Verwertung zu veranschlagen ist.

Nach der Legaldefinition des § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Nach Abs. 4 der Vorschrift gilt dies auch für solche Hilfebedürftigen, denen der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich ist oder für die dies eine besondere Härte bedeuten würde.

Zur Abgrenzung der Bewilligung von Leistungen als Zuschuss gegenüber der nur darlehensweisen Gewährung nach § 9 Abs. 4 SGB II hat das BSG im Anschluss an die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu §§ 88, 89 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entschieden, dass für eine lediglich darlehensweise Gewährung von Leistungen nicht ausreicht, dass dem Hilfesuchenden Vermögen zusteht, wenn in dem Zeitpunkt, in dem die Darlehensgewährung erfolgen soll, bis auf weiteres nicht absehbar ist, ob er einen wirtschaftlichen Nutzen aus dem Vermögen wird ziehen können. Vielmehr liegt eine generelle Unverwertbarkeit i.S. des § 12 Abs. 1 SGB II vor, wenn völlig ungewiss ist, wann eine für die Verwertbarkeit notwendige Bedingung eintritt (BSG, Urteil vom 6. Dezember 2007 - B 14/7b AS 46/06 R - BSGE 99, 248).

Maßgebend für die Prognose, ob ein rechtliches oder tatsächliches Verwertungshindernis wegfällt, ist im Regelfall der Zeitraum, für den die Leistungen bewilligt werden, also regelmäßig der sechsmonatige Bewilligungszeitraum des § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Für diesen Bewilligungszeitraum muss im Vorhinein eine Prognose getroffen werden, ob und welche Verwertungsmöglichkeiten bestehen, die geeignet sind, Hilfebedürftigkeit abzuwenden (BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 42/07 R -SozR 4-4200 § 12 Nr. 12; vgl. zum Ganzen auch Urteil des erkennenden Senats vom 24. Januar 2012 - L 13 AS 3113/09 – veröffentlicht in Juris). Aus dem Erfordernis einer Prognoseentscheidung (lediglich) für den Bewilligungszeitraum von einem halben Jahr folgt allerdings kein über § 12 Abs. 2 und 3 SGB II hinaus gehender Verwertungsschutz von solchen Vermögensgegenständen, deren Verwertung sich regelmäßig als schwierig und zeitaufwändig darstellt (BSG a.a.O.).

Ob die im Miteigentum des Klägers stehende Eigentumswohnung in Italien unter Beachtung dieser Maßstäbe (sofort) verwertbar ist, vermag der Senat im Rahmen dieses Verfahrens nicht zu ermitteln. Für diese Frage, deren abschließende Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss, dürfte es auch darauf ankommen, ob die Ehefrau des Klägers zu einer Verwertung bereit ist bzw. der Kläger eine Verwertung bzw. eine Auseinandersetzung von seiner Ehefrau ernsthaft verlangt hat (vgl auch dazu Senatsurteil vom 24. Januar 2012 a.a.O.)

Die wegen des offen Verfahrensausgangs somit vorzunehmende Güter- und Folgenabwägung fällt dergestalt zu Gunsten des Klägers aus, dass ihm die gewährten Leistungen (vorläufig) als Darlehen zu gewähren sind. Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Hauptsacherechtsbehelf aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Hauptsacherechtsbehelf aber erfolglos bliebe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 2005 - 1 BvR 276/05 - NJW 2005, 1418 f.). Würde eine einstweilige Anordnung nicht erlassen, hätte jedoch die in der Hauptsache erhoben Klage Erfolg, würden dem Kläger die das "soziokulturelle" Existenzminimum darstellenden Regelleistung sowie die von ihm (anteilig) zu tragenden Aufwendungen für Unterkunft und Heizung vorenthalten. Nicht nur die Regelleistung, sondern auch und gerade die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung sollen dem Hilfebedürftigen ein menschenwürdiges Dasein sichern und werden vom Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot sowie von Art. 2 Abs. 2 GG erfasst. Angesichts dessen, dass der Kläger durch Vorlage aktueller Kontoauszüge einen Negativsaldo von 6.466,15 EUR (Stand 29. Februar 2012) - Ende April 2011 wies das Konto noch ein Guthaben in Höhe von 6.130,40 EUR auf - glaubhaft gemacht hat, würde ihm durch eine Versagung der begehrten Anordnung das zum Leben und Wohnen Notwendige vorenthalten. Es handelt es sich dementsprechend um eine in erheblichem Umfang drohende Verletzung grundgesetzlich geschützter Gewährleistungen, die es zu verhindern gilt. Würde die einstweilige Anordnung hingegen erlassen, bliebe die Klage in der Hauptsache aber erfolglos, hätte der Kläger zwar Leistungen erhalten, die ihm nicht zustehen; er müsste dieser aber, zumal weil nur darlehensweise gewährt, wieder zurückzahlen. Diese Folgen fallen gegenüber den zuerst genannten Nachteilen trotz der offenkundigen Schwierigkeiten, einen etwaigen Rückzahlungsanspruch tatsächlich zu realisieren, weniger ins Gewicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (vgl. § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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