L 27 R 509/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 20 R 1506/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 509/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Mai 2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2007 aufgehoben. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers des gesamten Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Anrechnung von Hinzuverdienst auf seine Berufsunfähigkeitsrente.

Der 1967 geborene und seit Geburt an einer spastischen Lähmung beider Beine leidende Kläger absolvierte in der ehemaligen DDR erfolgreich eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann und stand seit März 1986 in einem Arbeitsverhältnis (Schonarbeitsplatz) mit einem monatlichen Nettoverdienst über 400,00 Mark. Aufgrund eines ärztlichen Gutachtens des Orthopäden Dr. K vom 11. Mai 1989 bezog der Kläger seit dem 1. September 1989 eine Invalidenrente nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets. Weiterhin wurde in diesem Gutachten festgestellt, dass der Kläger Anspruch auf Beschädigtenschutz der Stufe für Schwerstbeschädigte habe, da bei für wenige Minuten vorhandener selbständiger Gehfähigkeit mit zwei Unterarmstützen eine Gangunsicherheit sowie eine herabgesetzte Belastbarkeit des Bewegungsapparates bestünden. Am 24. Januar 1991 wurde dem Kläger ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt, nach dem bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) vom 100 besteht und ihm die Merkzeichen "B", "aG" und "H" zuerkannt wurden.

Die Beklagte leitete die nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets berechnete Invalidenrente des Klägers mit Bescheid vom 15. Mai 1995 rückwirkend zum 1. Januar 1992 nach § 302 a Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit mit einem Zahlbetrag in Höhe von 1.049,36 DM ab dem 1. Juli 1995 über, da der Kläger aufgrund seiner Berufstätigkeit einen monatlich gleichbleibenden Verdienst von mehr als 400,00 DM erzielte. In einer prüfärztlichen Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters B vom 31. Mai 1999 im Rahmen einer Nachuntersuchung des Klägers bei Dauerrentenbezug stellte dieser fest, dass der Kläger weitgehend an einen Rollstuhl gebunden sei und lediglich ganz kurze Wegstrecken mit zwei Unterarmgehstützen zurücklegen könne. Seit den Vorbegutachtungen in den 80iger Jahren habe sich an der Symptomatik im Wesentlichen nichts geändert. In einem Pflegegutachten der Orthopädin Dr. H aus dem Jahre 2006 wird festgestellt, dass der Kläger weder frei stehen noch frei gehen könne. Für kurze Strecken benutze der Kläger zwei Unterarmstützen. Die erhebliche motorische Störung führe bei erheblicher Stolpergefahr wiederholt zu Stürzen.

Nachdem der Kläger der Beklagten im November 2000 einen ab Januar 2001 voraussichtlich zu erwartenden monatlichen Bruttoverdienst in Höhe von 1.169,55 Euro bekannt gegeben hatte, errechnete die Beklagte verwaltungsintern eine individuelle Hinzuverdienstgrenze des Klä-gers in Höhe von 1.666,65 DM und teilte diesem mit Schreiben vom 22. November 2000 mit, dass die Hinzuverdienstgrenze für die Zeit ab Januar 2001 nicht überschritten werde. In der Folgezeit übersandte der Kläger eine Gehaltsabrechnung für den Monat Mai 2001, aus der ein Bruttoentgelt von 1.192,32 Euro bzw. 2.344,30 DM hervorging. Mit Schreiben vom 3. Juli 2001 teilte die Beklagte dem Kläger daraufhin mit, dass beabsichtigt sei, den Bescheid vom 15. Mai 1995 hinsichtlich der Rentenhöhe aufzuheben, weil auch auf die Rente des Klägers ab dem 1. Januar 2001 die Hinzuverdienstgrenzen des § 96 a SGB VI anzuwenden seien. Entgegen der auf einem währungsbedingten Irrtum beruhenden Mitteilung in dem Schreiben vom 22. November 2000 überschreite das Einkommen des Klägers die Hinzuverdienstgrenze, so dass nur noch ein Anspruch auf Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von einem Drit-tel bestehe. Angesichts des durch das Schreiben vom 22. November 2000 begründeten Vertrauens sei beabsichtigt, künftig unter Berücksichtigung des Besitzschutzes nur noch eine monatliche Rente in Höhe 763,21 DM netto zu zahlen.

Mit Bescheid vom 20. August 2001 hob die Beklagte den Bescheid vom 15. Mai 1995 mit Wirkung für die Zeit ab dem 1. September 2001 hinsichtlich der Rentenhöhe nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) auf. Ab dem 1. September 2001 werde die Rente in Höhe von monatlich 763,21 DM gezahlt. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass gegenüber den bei Erlass des Bescheides maßgebenden Verhältnissen insoweit eine Änderung eingetreten sei, als ab dem 1. Januar 2001 aufgrund der von dem Kläger ausgeübten Beschäftigung § 96 a SGB VI Anwendung finde. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2007 zurück. Zur Begründung verwies die Beklagte auf die ab dem 1. Januar 2001 geltende Gesetzeslage.

Der Kläger hat am 26. Februar 2007 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 20. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2007 begehrte. Dabei vertrat der Kläger die Ansicht, dass durch die Einführung von Hinzuverdienstgrenzen auch auf einen Bestandsrentner wie ihn das grundgesetzliche Verbot von Eingriffen in in der Vergangenheit abgeschlossene Tatbestände verletzt werde.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 5. Mai 2010 – der Klägerbevollmächtigten zugestellt am 12. Mai 2010 – mit der Begründung abgewiesen, der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2007 sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen nach § 48 Absatz 1 Satz 1 SGB X für eine Aufhebung des Bescheides vom 15. Mai 1995 hinsichtlich der Rentenhöhe lägen vor, da sich die bei Erlass des bestandskräftigen Rentenbescheides geltenden rechtlichen Verhältnisse nachträglich wesentlich geändert hätten. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung von Hinzuverdienstgrenzen zum 1. Januar 1996 mit einer Übergangsfrist für Bestandsrentner bis zum 31. Dezember 2000 bestünden im Hinblick auf die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Der Kläger habe zudem nicht zu den Anspruchsberechtigten für den Bezug von Sonderpflegegeld nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets gehört, so dass auch keine Ausnahme von der Anwendung der Hinzuverdienstgrenzen in Betracht komme.

Mit der am 7. Juni 2010 gegen die Entscheidung des Sozialgerichts eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und vertritt unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens die Auffassung, angesichts seiner seit Geburt bestehenden Behinderung nicht mit anderen Berufsunfähigkeitsrentnern verglichen werden zu dürfen. Zudem habe er die persönlichen Voraussetzungen für den Bezug von Sonderpflegegeld nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets erfüllt, auch wenn er ein solches tatsächlich nicht erhalten habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Mai 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2007 aufzuheben

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), und auch in der Sache begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils sowie des angegriffenen Bescheides. Der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Voraussetzungen des § 48 Absatz 1 Satz 1 SGB X für eine Aufhebung des Rentenbescheides der Beklagten vom 15. Mai 1995 hinsichtlich der Rentenhöhe ab dem 1. September 2001 liegen nicht vor.

Gemäß § 48 Absatz 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft auf-zuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Diese Voraussetzungen liegen bezogen auf den Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 1995 nicht vor. Zwar waren bei Erlass dieses bestandskräftigen Rentenbescheides die erst zum 1. Januar 1996 eingeführten Hinzuverdienstgrenzen nach § 96 a SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung noch nicht in Kraft und finden die in § 96 a SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung nach § 313 Absatz 1, Absatz 2 Nr. 1, Absatz 3 Nr. 2 c SGB VI mit Wirkung ab dem 1. Januar 2001 auch auf Bestandrentner wie den Kläger grundsätzlich Anwendung (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit von § 313 Absatz 1, Absatz 2 Nr. 2, Absatz 3 Nr. 1 und 2 SGB VI, Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2007 – 1 BvR 154/05). Jedoch sieht § 313 Absatz 6 SGB VI eine Ausnahme von der Anwendung der Hinzuverdienstgrenzen der Absätze 1 bis 3 der Vorschrift für Versicherte vor, die am 31. Dezember 1991 Anspruch auf eine nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets
berechnete Invalidenrente hatten und die persönlichen Voraussetzungen für den Bezug von Sonderpflegegeld nach den am 31. Dezember 1991 geltenden Vorschriften des Beitrittsgebiets erfüllen. Die Voraussetzungen dieses Ausnahmetatbestandes liegen hier vor, so dass der Kläger neben seiner als Berufsunfähigkeitsrente geleisteten Invalidenrente auch über den 1. September 2001 hinaus weiterhin unbegrenzt Hinzuverdienst erzielen darf, ohne dass sich dies auf die Höhe seiner Rente auswirkt.

Der Kläger bezog am 31. Dezember 2000 nicht nur eine nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets berechnete Invalidenrente, sondern erfüllte auch die persönlichen Voraussetzungen für den Bezug von Sonderpflegegeld nach den am 31. Dezember 1991 geltenden Vorschriften des Beitrittsgebiets. Nach § 59 Absatz 1 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung – Rentenverordnung – in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung erhielten Schwerstbeschädigte ab Vollendung des 16. Lebensjahres unabhängig von einem erzielten Verdienst oder anderem Einkommen ein Sonderpflegegeld. Das Sonderpflegegeld betrug nach Absatz 2 der Vorschrift für Personen, die querschnittsgelähmt sind bei totaler Lähmung beider Beine oder aufgrund des totalen Ausfalls beider Beide den Querschnittsgelähmten gleichzustellen sind oder beinamputiert sind, mindestens vom oberen Drittel beider Oberschenkel ab, oder infolge Beschädigung der unteren Gliedmaßen Erschwernisse bei der Fortbewegung haben, die denen eines im oberen Drittel beider Oberschenkel Amputierten entsprechen, 120,00 Mark. Dass der Kläger diese persönlichen Voraussetzungen für den Bezug von Sonderpflegegeld seit dem Jahre 1991 durchgehend erfüllt, ergibt sich nach der Überzeugung des Senats aus den vorliegenden Feststellungen des Orthopäden Dr. K, des Neurologen und Psychiaters B sowie der Orthopädin Dr. H, nach denen der Kläger aufgrund der spastischen Lähmung beider Beine durchgängig seit dem Jahre 1991 in seiner Gehfähigkeit außerordentlich beeinträchtigt ist. Diese Annahme wird zudem bestätigt durch die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" durch das Versorgungsamt im Jahre 1991. Nach den im Sinne eines antizipierten Sachverständigengutachtens heranzuziehenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz in der Fassung von 1983 sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Absatz 1 SGG und folgt dem Ergebnis in der Haupt-sache.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Absatz 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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